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# taz.de -- Tom Callaghan über Proteste in Kirgistan: „Die Kirgisen haben di…
> Krimiautor Tom Callaghan lebt und schreibt in Kirgistan. Im Gespräch
> erzählt er, warum die Menschen in dem zentralasiatischen Land
> protestieren.
Bild: Protest gegen das Ergebnis der Parlamentswahlen in Bishkek, Kirgistan Anf…
taz: Herr Callaghan, bei Kirgistan müssen viele erst einmal auf einer Karte
nachsehen, wo dieser Flecken überhaupt liegt. Sie hingegen kennen das Land
in Zentralasien sehr gut. Mehrere Ihrer Thriller spielen dort. Wie sind Sie
darauf gekommen, sich ausgerechnet mit Kirgistan zu beschäftigen?
Tom Callaghan: Ich war mit einer Kirgisin verheiratet und habe einen
kirgisischen Stiefsohn, der bei mir wohnt. Ich habe Kirgistan viele Male
besucht und lebe jetzt hier. Das ist ein wunderschönes Land mit einer
einzigartigen und fest verwurzelten Kultur. Ein ganz besonderer Ort.
Im vergangenen Monat wurde Kirgistan von einer heftigen politischen Krise
erschüttert. Waren Sie von dieser Entwicklung überrascht?
Nicht wirklich. Hashtags unter dem Motto „Die Nase voll“ zirkulierten hier
schon seit Längerem in den sozialen Medien. Die Kirgisen haben genug davon,
dass die Lage sich hier überhaupt nicht zu verbessern scheint, dass
langjährige Probleme wie Korruption und Bürokratie so verwurzelt sind. Dazu
kam dann noch die Pandemie, ein Mangel an medizinischer Ausstattung und
Einrichtungen, eine fehlende vorausschauende Planung. Das alles hat zu der
allgemeinen Wahrnehmung beigetragen, dass der einzelne Mensch nichts zählt.
Und dann kam am 4. Oktober auch noch die Parlamentswahl.
Genau die gilt ja als Auslöser der Proteste, es soll massive Fälschungen
gegeben haben. Sehen Sie noch andere Ursachen dafür, dass sich der Zorn der
Menschen entladen hat?
Ich möchte daran erinnern, dass Kirgistan [1][das einzige demokratische
Land in Zentralasien ist]. Die Art und Weise, wie offensichtlich machtvolle
Clans und Karrierepolitiker ihre Position missbraucht haben, war eine klare
Quelle von Unzufriedenheit. Die schiere Arroganz der herrschenden Klasse
hat viele Menschen erzürnt.
In Belarus gehen seit fast drei Monaten Menschen auf die Straße, doch die
Protestierenden sind friedlich. Warum waren die Proteste in Kirgistan
teilweise so gewalttätig?
Das betrifft vor allem nur die Nacht unmittelbar nach der Bekanntgabe des
Wahlergebnisses. Kirgistan ist ein demokratisches Land, das versucht, jene,
die ihre Macht missbrauchen, zur Rechenschaft zu ziehen. Im Gegensatz zu
anderen Ländern mit Diktatoren an der Spitze, die hart gegen jeden
Widerstand vorgehen, glaubt das kirgisische Volk, dass es das Recht hat zu
protestieren. Vergessen wir nicht, dass sowohl [2][der erste als auch
letzte Präsident] (Sooronbai Dscheenbekow, Anm. d. Red.) ihren Rücktritt
damit begründet haben, sie seien nicht dazu bereit, das Blut ihrer
Mitbürger zu vergießen. Das Ausmaß an Gewalt hat übrigens auch nichts mit
den Ereignissen von 2010 (gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Kirgisen
und der usbekischen Minderheit, Anm. d. Red.) gemein. Eine Besonderheit der
jüngsten Konfrontation war auch die Art und Weise, wie sich ganz normale
Bürger zu sogenannten Volkspatrouillen zusammen getan haben, um Unruhen und
Plünderungen zu unterbinden.
Sie haben Korruption und Vetternwirtschaft als Grundübel der kirgisischen
Politik ja bereits angesprochen. Sehen Sie eine reale Chance, effektiv
gegen diese Missstände vorzugehen?
Viele junge Protestierende fordern, dass die alte Garde bei den kommenden
Wahlen nicht mehr antreten darf. Das ist natürlich kein Garantie dafür,
dass sich die Dinge zum Besseren wenden, aber das macht zumindest Hoffnung,
dass jugendlicher Idealismus Veränderungen herbeiführen könnte.
Für den 10. Januar 2021 sind jetzt Präsidentschaftswahlen angesetzt, um
einen neuen Termin für eine Wiederholung der Parlamentswahlen wird noch
gerungen. Was ist Ihre Prognose: In welche Richtung wird Kirgistan gehen?
Unmöglich zu sagen. Die Pandemie kehrt zurück, bereits die erste Welle hat
der Wirtschaft des Landes massiven Schaden zugefügt, besonders der
Tourismus und die Gastronomie sind betroffen. Der Som (kirgisische
Landeswährung, Anm. d. Red.) hat gegenüber dem Dollar zehn Prozent seines
Werts verloren. Die Arbeitslosigkeit wächst. Wer seinen Job verliert,
bekommt keine staatliche Unterstützung. Eine neue Regierung muss auch neue
Wege finden, um diese Probleme zu überwinden.
Glauben Sie, dass die jüngsten Ereignisse in Kirgistan auch Einfluss auf
die anderen Staaten in Zentralasien haben?
Josef Stalin hat seinerzeit die Grenzen in Zentralasien relativ willkürlich
gezogen. Die Staaten dort sollten sich lieber in ihren gegenseitigen
regionalen Rivalitäten aufreiben, als Probleme mit Russland auszufechten.
Dieses Misstrauen besteht bis heute fort, auch innerhalb Kirgistans mit
seiner Trennlinie zwischen Nord und Süd (im Süden lebt eine große
usbekische Minderheit, Anm. der Red.). Was den Einfluss auf andere Länder
angeht, so lehrt uns die Geschichte, dass starke Männer nur sehr selten
ihre Macht abgeben.
Sie haben vier Kriminalromane über Kirgistan geschrieben. Hauptheld ist
Akyl Borubaew – ein Polizeiinspektor, der nicht gerade zart besaitet ist.
Stellen Sie sich vor, er würde Sonderberater der neuen Regierung. Was wäre
seine Hauptaufgabe?
Borubaew ist Inspektor bei der Mordkommission. Seine feste Überzeugung ist,
dass entweder jeder zählt oder niemand. Er strebt danach, dass
Gerechtigkeit über persönlichem Eigeninteresse steht. Er hat viele Feinde,
die glücklich wären, ihn scheitern zu sehen. Aber er hält durch. Mit
Borubaew habe ich versucht einen Chrarakter zu schaffen, der nach der
Maxime von Raymond Chandler lebt: „Aber durch diese schäbigen Straßen muss
ein Mann gehen, der selbst nicht schäbig ist, der makellos und nicht
furchtsam ist. Er ist der Held, er ist alles. Er muss ein vollkommener
Mann sein und ein normaler Mann, und er muss doch ein außergewöhnlicher
Mann sein.“ Ich hoffe, dass mir das zumindest in Teilen gelungen ist.
Die Beziehungen zwischen Usbeken und Kirgisen sind ja nicht gerade
freundschaftlich. Trotzdem ist die Zusammenarbeit zwischen Borubaew und
seiner usbekischen Kollegin Saltanat Umarowa ziemlich eng. Wie wird sich
ihr Miteinander entwickeln?
Borubaews Beziehung zu Saltanat ist ambivalent: Sie ist ein wichtiger Teil
seines Lebens, aber genau das bereitet ihm auch viele Sorgen. Sie sind ein
Liebespaar, aber gleichzeitig sind beide auch sehr verletzt. Deshalb ist
ihr Verhältnis so kompliziert. Saltanat ist skrupelloser als er. Sie
arbeitet für einen ausländischen Staat und er leidet immer noch unter dem
Tod seiner Frau. Ihre Beziehung ändert sich von Buch zu Buch und das wird
auch so bleiben.
Woran arbeiten Sie gerade?
Das fünfte Buch meiner Reihe über Borubaew habe ich abgeschlossen und warte
darauf, dass es veröffentlicht wird. Das sechste habe ich zur Hälfte fertig
geschrieben. Darin geht es um internationale Spannungen in der Region.
Gleichzeitig arbeite ich noch an Kurzgeschichten vor dem Hintergrund der
Coronapandemie. Diesen Band möchte ich selbst heraus geben, um Geld für
hiesige Krankenhäuser zu sammeln.
7 Nov 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Barbara Oertel
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