| # taz.de -- Queeres Leben in Georgien: Khachapuri im Darkroom | |
| > Die LGTBI-Szene in Tiflis macht Georgiens Hauptstadt zum queeren Paradies | |
| > des Kaukasus. Doch noch immer fehlt die breite gesellschaftliche | |
| > Akzeptanz. | |
| Bild: Bevor die Drag-Show beginnt: Besucher*innen vor dem „Bassiani“ in Tif… | |
| Tiflis taz | „Motherfucker. Jedes Mal werde ich auf der Straße beschimpft, | |
| weil ich anders aussehe“, sagt Egoodallas. Es ist Samstagnacht und die | |
| imposante Dragqueen steht an ihrem Arbeitsplatz, dem Tresen der | |
| Success-Bar, der ersten LGBTI-Kneipe in [1][Tiflis]. Die schulterlangen | |
| Haare, der Bart, die Piercings und die bunten Frauenkleider sind ein | |
| seltener Anblick in Georgien und der gesamten Kaukasusregion. Egoodallas’ | |
| Erscheinung ist eine Kampfansage an die konservative Gesellschaft. | |
| „Georgien ist durch und durch unter dem Einfluss der Orthodoxen Kirche, die | |
| Menschen sind sehr traditionell eingestellt. Echt völlig verrückt.“ Seit | |
| knapp einem Jahr arbeitet Egoodallass im Success. Tagsüber hört sie | |
| Beschimpfungen und nachts Komplimente. Das Publikum in der Bar wird immer | |
| größer, bunter und freier, beobachtet sie. | |
| Die rote Beleuchtung macht das Success beinahe heimelig. Ständig geht | |
| jemand raus, dafür kommen andere rein. Das Rauchen ist nur vor der Tür | |
| gestattet. Irakli* ist häufiger Gast hier. Anders als die Dragqueens gibt | |
| er sich straight – gebunden an die Regeln des Versteckspiels sexueller | |
| Minderheiten. Nach einem Coming-out wäre er tot, sagt Irakli. | |
| „Ein Freund von mir verlor sofort seine Arbeit, nachdem er sich geoutet | |
| hatte.“ Der 27-jährige Irakli arbeitet im lokalen Büro einer | |
| internationalen Organisation und will den für georgische Verhältnisse gut | |
| bezahlten Job nicht riskieren. Die Familie jedoch sei die größte | |
| Herausforderung, erklärt er. Nicht nur in Georgien, in der ganzen Region | |
| spielt die Familie noch immer eine gewichtige Rolle; und starker familiärer | |
| Zusammenhalt bringt eine starke soziale Kontrolle mit sich. | |
| ## Eine Freundin zum Schein | |
| „Die Familie würde mich umbringen, wenn sie erfahren würde, dass ich mit | |
| einem Mann schlafe“, erklärt Irakli. Ein schwuler Sohn ist für viele Eltern | |
| ein Unglück, Grund zu trauern, eine Schande. Auch die fünf Geschwister | |
| würden sich für den Bruder schämen, ist sich Irakli sicher: „Meine Brüder | |
| würden mich eher als Miststück beschimpfen, als mich zu verstehen und zu | |
| unterstützen, nur um ihre Ehre in der Gesellschaft zu schützen.“ | |
| Egoodallas schnappt sich einen Karton und verschwindet in einem Durchgang | |
| hinter dem Raum. Sie geht die Treppe hinauf und setzt sich auf ein Bett. | |
| Das ist der einzige Einrichtungsgegenstand im Darkroom. In dem Karton | |
| findet sich ein khachapuri, das georgische Brot mit eingebackenem Käse. | |
| Egoodallas macht Essenspause. | |
| Oft brechen die Familien den Kontakt zu schwulen Söhnen einfach ab. | |
| Egoodallas hat seit Jahren nichts mehr mit ihren Eltern zu tun. „Die sind | |
| auch bloß homophob“, sagt sie. Irakli möchte so eine Situation vermeiden: | |
| „Ich will sie nicht einfach alle verlieren.“ | |
| Anders als Egoodallas, die ihre Gleichgültigkeit gegenüber | |
| gesellschaftlichen Konventionen zur Schau trägt, will Irakli auch von | |
| seiner Familie akzeptiert werden und ist bereit, dafür einen Preis zu | |
| zahlen. Er hat zum Schein eine Freundin, mit der er zusammen lebt. Tamia* | |
| begleitet ihn auch hierher, in die Success-Bar. | |
| Die Anfang-30-Jährige ist blond, hat lange Wimpern und volle Lippen. Ihre | |
| gepflegten Hände halten sich an einem Handtäschchen fest. Tamia lächelt | |
| charmant und spricht kaum. Dass sie lesbisch ist und eine feste Freundin | |
| hat, erzählt sie noch. „Unsere Verbindung ist ein Schutz vor fremden Augen. | |
| Und das funktioniert recht zuverlässig“, sagt Irakli. Die zwei sind nicht | |
| das einzige Scheinpärchen an diesem Abend im Success. | |
| Richtig gefeiert aber wird im Bassiani. Der Technoclub wird als Berghain | |
| des Kaukasus gehandelt. In der ehemaligen Schwimmhalle findet auch die | |
| größte queere Party der Region statt. Die Tickets für die „Horoom Nights“ | |
| sind personalisiert und mit QR-Code ausgestattet. Sicherheit ist allen sehr | |
| wichtig. | |
| Es gibt eine rauchfreie Tanzfläche mit Dragshows, eine andere für Raucher, | |
| inklusive BDSM-Areal. Je nach Party sind auch Darkrooms geöffnet. Im | |
| Bassiani sind Arbeit, Familie und Kirche schnell vergessen. Hier trennen | |
| sich die Wege von Irakli und Tamia für die Nacht. | |
| Aus den Nachbarländern kommen immer mehr Partytouristen nach Tiflis. Die | |
| Fahrt aus der rund 300 Kilometer entfernten armenischen Hauptstadt Erewan | |
| dauert fünf bis sechs Stunden. „Armenier sind sehr häufig hier“, sagt | |
| Irakli. | |
| Aber auch Männer aus dem muslimischen Aserbaidschan, aus Tschetschenien und | |
| Dagestan, wo Schwule brutal verfolgt werden, träumen von Tiflis. „Für die | |
| ist es hier fast wie im Paradies“, erklärt Irakli. Auch aus Westeuropa | |
| reisen immer mehr Männer auf der Suche nach einem „kaukasischen Abenteuer“ | |
| in die georgische Hauptstadt. | |
| ## „Reisen ändert dein Leben“ | |
| Aber auch umgekehrt gibt es rege Reisetätigkeit. Seit 2017 benötigen | |
| Georgier zur Einreise in die EU kein Visum mehr. Damit ist das Land seinen | |
| Nachbarn Armenien, Aserbaidschan und Russland voraus. Irakli weiß: „Reisen | |
| ändert dein Leben. Du öffnest dich in anderen Gesellschaften, änderst dich, | |
| lernst.“ Und man trifft andere Männer. In Berlin, Athen und Lissabon war | |
| Irakli schon. Einen Exfreund hatte er in Barcelona kennengelernt. | |
| Etwa gleichzeitig mit der Visafreiheit kam auch [2][PrEP] nach Georgien. | |
| Die HIV-Prophylaxe eroberte die Szene in Tiflis im Sturm. „Die Revolution | |
| hat für mich einen Namen: PrEP“, erklärt Lasha Nonikashvili. Der 21-Jährige | |
| koordiniert das PrEP-Programm der Nichtregierungsorganisation Equality | |
| Movement. | |
| Seit zwei Jahren wird das Programm von der NGO in Kooperation mit dem | |
| staatlichen Aids-Zentrum angeboten. Die Prophylaxe, aber auch weitere | |
| medizinische Versorgung sind für Männer mit hohem HIV-Risiko kostenlos. | |
| Gefördert wird das Programm vom Global Fund, einem internationalen | |
| Finanzierungsinstrument zur Bekämpfung schwerer Infektionskrankheiten. Ab | |
| 2020 soll die Finanzierung des PrEP-Programms komplett vom georgischen | |
| Staat übernommen werden. | |
| Von etwa 600 Interessierten erhalten derzeit 280 PrEP, darunter vor allem | |
| Männer, deren Partner bereits als HIV-positiv diagnostiziert sind. Von den | |
| restlichen gut 300 verzichtet ein Großteil aus Sorge vor einem Outing auf | |
| die Registrierung, die Vorbedingung für die Verschreibung des Medikaments | |
| ist. Schließlich sind in Georgien wiederholt Fälle bekannt geworden, in | |
| denen Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung erpresst wurden. | |
| ## Neues Leben mit PrEP | |
| Lasha Nonikashvili versteht die Sorgen, hofft jedoch, das in Zukunft die | |
| Angst vor Erpressung oder zentraler Erfassung der Daten kein | |
| Hinderungsgrund mehr sein wird. Inzwischen ist PrEP auch in Batumi und | |
| Kutaissi in Gesundheitszentren kostenlos zu erhalten. „Sicher, oft kommen | |
| Menschen zu uns, weil sie Sex ohne Kondom haben wollen. Wir erklären ihnen, | |
| dass PrEP zwar vor HIV schützt, warnen aber auch vor anderen sexuell | |
| übertragbaren Krankheiten“, sagt Nonikashvili. | |
| Auch Irakli verabredet sich lieber mit Männern, die auf ihrem Grindr-Profil | |
| angeben, HIV-negativ und auf PrEP zu sein. „Ich habe jetzt seit zwei Jahren | |
| ein neues Leben mit PrEP“, sagt er. An seinem Schlüsselanhänger baumelt | |
| eine Chipkarte mit Identifikationsnummer und Strichcode. Die Plastikkarte | |
| mit den zwei Löwenköpfen ist der Zugang zu den täglichen Tabletten. | |
| Fünf Uhr morgens wird im Bassiani noch immer getanzt. Irakli hat jemanden | |
| kennengelernt und bleibt noch. Tamia ist da längst zu Hause – zusammen mit | |
| ihrer Freundin. | |
| * Die Namen sind der Redaktion bekannt, wurden aber zum Schutz der | |
| Betroffenen geändert. | |
| 24 Nov 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Georgiens-Hauptstadt-Tiflis/!5508647 | |
| [2] /Vorschlag-des-Gesundheitsministers/!5522967 | |
| ## AUTOREN | |
| Tigran Petrosyan | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt LGBTQIA | |
| Georgien | |
| Tiflis | |
| Clubszene | |
| Clubkultur | |
| Rechtsextremismus | |
| Armenien | |
| Drag | |
| Einblick | |
| Russland | |
| Kirche | |
| Russland | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Rechtsextremismus in Georgien: Gegen Queerness und die EU | |
| Georgien ist eines der homophobsten Länder Osteuropas. Die Gewalt der | |
| Rechten kann tödlich enden. Viele von ihnen wirken nun gegen einen | |
| EU-Beitritt. | |
| Kindesmissbrauch in Armenien: Gegen die Ewiggestrigen | |
| Sieg über erzkonservative Kräfte: Armenien hat endlich eine Konvention zum | |
| Schutz von Kindern unterzeichnet. | |
| Brasilianische Dragqueen Pabllo Vittar: Täglich Löwen töten | |
| Die Sängerin wird immer berühmter, während ihr Land unter Präsident | |
| Bolsonaro immer weiter nach rechts driftet. Über einen schwierigen Kampf. | |
| Ausstellungsempfehlung für Berlin: Vom Alphabet, das keiner lesen kann | |
| Künstler:innen aus Georgien, die in Berlin leben, zeigen ein Subbild des | |
| Kaukasuslandes. Die taz sprach mit Ana Grizishvili, einer der | |
| Ausstellenden. | |
| Proteste in Georgien: Wohlfeiles Fordern hilft nichts | |
| Die Regierung geht unverhältnismäßig hart gegen die Demonstranten in Tiflis | |
| vor. Aufrufe zur Mäßigung werden die Proteste aber nicht stoppen. | |
| Transmann in Montenegro getauft: Ambivalente Akzeptanz | |
| LGBTQ-Organisationen feiern die Taufe des 19-jährige Vuk Adžić als Erfolg. | |
| Doch nicht alle sehen die Taufe des Transmanns als Fortschritt an. | |
| Russische Grenze in Südossetien: Die stille Eroberung | |
| Russland weitet seine Grenze Stück für Stück in georgisches Staatsgebiet | |
| aus. Eine Beobachtungsmission der EU ist vor Ort, darf aber nicht handeln. |