# taz.de -- Prozess zu G20-Gipfel in Hamburg 2017: Mitläufer sollen büßen | |
> 2020 steht ein weiterer G20-Prozess an: In Hamburg sollen | |
> DemonstrantInnen angeklagt werden, nur weil sie dabei waren, als andere | |
> randalierten. | |
Bild: Sind alle verantwortlich, wenn einzelne mit Steinen werfen? | |
HAMBURG taz | G20 und kein Ende: 2020 steuert die juristische Aufarbeitung | |
der Ausschreitungen rund um den [1][Hamburger Gipfel der Staatschefs im | |
Juli 2017] auf einen neuen Höhepunkt zu. Neben den Sammelverfahren rund um | |
die Verwüstungen in der Elbchaussee kommt im dritten Jahr nach dem Gipfel | |
ein weiterer Tatkomplex und mit ihm eine Gruppe von rund 75 Angeklagten in | |
vier parallelen Verfahrenssträngen vor Gericht: der Komplex Rondenbarg. | |
Am Morgen des 7. Juli 2017 waren in der Straße Rondenbarg in einem | |
Gewerbegebiet in Hamburg-Bahrenfeld etwa 150 bis 200 überwiegend dunkel | |
gekleidete DemonstrantInnen und eine Hundertschaft der Bundespolizei | |
aneinandergeraten. Doch anders als an der Elbchaussee, wo vermummte | |
DemonstrantInnen Autos in Brand setzten und Scheiben klirren ließen, ist am | |
Rondenbarg kein nennenswerter Sach- und erst recht kein Personenschaden | |
entstanden. | |
Die Polizeivideos zeigen zwar, dass etwa ein Dutzend Steine und auch | |
Leuchtmunition in Richtung einer sich im Laufschritt nähernden | |
Polizeihundertschaft geschleudert wurden. Doch während des gesamten | |
Einsatzes wurde kein einziger Polizist verletzt, während vor allem bei den | |
[2][nicht gerade zimperlich] verlaufenden Festnahmen insgesamt 14 | |
DemonstrantInnen zu Schaden kamen. | |
Bis zum Auftakt der Verfahren kann es noch Monate dauern – drei Jahre | |
werden dann die Geschehnisse zurückliegen. Denn die Koordination der | |
Termine aller Beteiligten, vor allem der zahlreichen AnwältInnen, gestaltet | |
sich schwierig. Zwar sind die Prozesse noch nicht terminiert, ihre Anklage | |
aber hat die Staatsanwaltschaft bereits formuliert. Und dabei setzt sie | |
[3][wie im Elbchausseeprozess] darauf, dass sämtliche DemoteilnehmerInnen | |
für alle aus dem Aufzug heraus verübten Straftaten juristisch | |
verantwortlich seien. | |
## Wer hat Steine geworfen und wer nicht? Egal! | |
In einem der vier geplanten Verfahren, das sich gegen 19 Angeklagte | |
richtet, die zum Tatzeitpunkt allesamt noch nicht 21 Jahre alt waren, baut | |
sie dieselbe Rechtskonstruktion auf, mit der sie auch im laufenden | |
Elbchausseeverfahren hohe Haftstrafen für die zum Tatzeitpunkt ebenfalls | |
größtenteils Minderjährigen fordert. | |
Demnach sollen „alle Beschuldigten durch dieselbe Handlung | |
gemeinschaftlich“ schweren Landfriedensbruch und versuchte gefährliche | |
Körperverletzung begangen haben, daneben auch Sachbeschädigung und | |
tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte. | |
Dabei ist es der Staatsanwaltschaft in ihrer Beweisführung egal, welcheR | |
Angeklagte etwa einen Stein geworfen hat und welcheR nicht. Sie geht davon | |
aus, dass alle DemonstrantInnen einen „gemeinsamen Tatplan“ gehabt hätten, | |
der die angeklagten Straftaten beinhaltet habe. | |
Wer nicht selber einen Stein geworfen habe – so auch die | |
staatsanwaltschaftliche Konstruktion im Elbchausseeverfahren –, habe die | |
RandaliererInnen eben durch „psychische Beihilfe“ und den Schutz der Gruppe | |
unterstützt – der gemeinsame Tatplan sei so gemeinschaftlich umgesetzt | |
worden. | |
## Mitgegangen – mitgehangen | |
Setzte sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Auffassung durch, schriebe sie | |
– auf Kosten der Angeklagten – Rechtsgeschichte. Dann könnte zukünftig | |
jedeR, der oder die auch nur für kurze Zeit an einer sich unfriedlich | |
entwickelnden Demonstration teilgenommen hat, für alle Ausschreitungen | |
straf- und damit auch zivilrechtlich verantwortlich gemacht werden, selbst | |
wenn er oder sie an diesen nachweislich nicht beteiligt war oder den Ort | |
des Geschehens zum Tatzeitpunkt längst verlassen hat. Die Devise hieße: | |
Mitgegangen – mitgehangen. | |
Bislang geht die Rechtsprechung in eine andere Richtung. Im sogenannten | |
Brokdorf-Urteil, in dem es um das Verbot einer Demo gegen den gleichnamigen | |
Atommeiler ging, entschied das Bundesverfassungsgericht bereits 1985: Die | |
Versammlungsfreiheit friedfertiger DemoteilnehmerInnen bleibt auch | |
erhalten, wenn Ausschreitungen anderer DemonstrantInnen stattfinden. | |
Seitens der Behörden seien alle Mittel auszuschöpfen, in dem Fall | |
friedlichen DemonstrantInnen eine Grundrechtsverwirklichung zu | |
ermöglichen. | |
Der Bundesgerichtshof (BGH) urteilte im Mai 2017 zwar, dass schon das | |
Mitmarschieren in einer gewaltbereiten Menge ausreiche, um den Tatbestand | |
des Landfriedensbruchs zu erfüllen. Die „konkrete Täterschaft bei der | |
Begehung von Gewalttaten“ sei dabei nicht erforderlich, um sich strafbar zu | |
machen. | |
Allerdings schränkte der BGH den nach einer Auseinandersetzung zwischen | |
rivalisierenden Hooligangruppen ergangenen Urteilsspruch ein: Er gelte | |
nicht für politische Demonstrationen, bei denen von einigen TeilnehmerInnen | |
– nicht von allen – Gewalttaten begangen werden. | |
## Extra Härte für die Angeklagten | |
Beide Urteile zielen also darauf ab, bei Politaufmärschen, aus denen heraus | |
Straftaten begangen werden, friedliche DemonstrantInnen und aktive | |
GewalttäterInnen säuberlich voneinander zu trennen. Hamburgs | |
Staatsanwaltschaft aber legt es jetzt darauf an, Spreu und Weizen zu | |
mischen, indem sie die G20-Versammlungen nicht als Demonstrationen | |
einstuft, die unter die Ausnahmeregelung des BGH-Urteils fallen. | |
Stattdessen sollen die Versammlungen als geplante Zusammentreffen | |
verstanden werden, bei denen alle TeilnehmerInnen das Ziel haben, gemeinsam | |
Straftaten zu begehen. Die Staatsanwaltschaft tut das unter der | |
Weisungsbefugnis des grünen Justizsenators Till Steffen, der gerade als | |
grüner Bezirkschef in Hamburg-Eimsbüttel eine Koalition mit der CDU | |
aufgelegt hat, obwohl auch die SPD, mit der die Grünen Hamburg regieren, zu | |
einem Bündnis bereit gewesen wäre. | |
Neben dem offensiven Auftreten der Staatsanwaltschaft beinhaltet der | |
Prozess weitere Härten für die Angeklagten, von denen sich die meisten noch | |
in der Ausbildung befinden. Keiner von ihnen kommt aus Hamburg, ihre | |
Wohnorte sind über die gesamte Republik verteilt, viele wohnen mehr als 400 | |
Kilometer entfernt. | |
Entgegen dem eigentlich bindenden Wohnortprinzip, das dafür sorgen soll, | |
dass heranwachsende Beschuldigte nicht aus ihrer gewohnten Umgebung | |
herausgerissen werden, wird den 19 Angeklagten nicht an ihrem | |
Heimatgericht, sondern an dem für den Tatort zuständigen Gericht der | |
Prozess gemacht. Offen ist derzeit noch, ob das Verfahren am Amtsgericht | |
oder am Landgericht stattfinden wird. | |
Das Verfahren wird voraussichtlich ein Jahr oder auch länger dauern – bei | |
einem Verhandlungsintervall von mindestens einem Prozesstag die Woche. Kaum | |
eineR der Angeklagten, so befürchten deren AnwältInnen, wird während dieser | |
Zeit seine Ausbildung vernünftig fortsetzen oder in gebotener | |
Regelmäßigkeit die Schule besuchen können. | |
3 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Marco Carini | |
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