# taz.de -- Proteste in Russland: Breite Kritik an Willkürjustiz | |
> Ein hartes Urteil gegen einen Schauspieler bringt dessen Kollegen in | |
> Rage. Auch die orthodoxe Kirche und kremltreue Journalisten sind empört. | |
Bild: Abstand halten: Nur einzeln dürfen diese Moskauer „Freiheit für Pawel… | |
Moskau taz | Hunderte junge Leute standen vor der Präsidialadministration | |
im Moskauer Zentrum geduldig Schlange. Es ging ihnen nicht um eine Audienz | |
bei der politischen Führung. Sie warteten darauf, als „Ein-Personen-Wache“ | |
ein paar Minuten mit einem Plakat vor dem russischen Machtzentrum | |
demonstrieren und verhaftete Mitstreiter unterstützen zu können. Solche | |
Einzelproteste sind bisher nicht genehmigungspflichtig. | |
Am Montag hatte ein Gericht den Schauspieler Pawel Ustinow wegen | |
Widerstands gegen die Staatsgewalt mit Verletzungsfolge zu dreieinhalb | |
Jahren Lagerhaft verurteilt. Seitdem schwellen die Proteste in Moskau | |
wieder an. Ustinow war im Juli festgenommen worden. | |
Ein Video zeigt, was passiert war: Während der 24-Jährige auf dem Platz vor | |
dem Gebäude der Zeitung Iswestija steh, nähern sich von hinten mehrere bis | |
unter die Zähne bewaffnete Polizisten, werfen ihn zu Boden und traktieren | |
den Überrumpelten mit Schlagstöcken. | |
Dieses Video erregte Unmut. Auch weil der Richter, Alexei Kriworutschko | |
(deutsch: Krummhand), sich weigerte, das Video im Prozess zur Kenntnis zu | |
nehmen. Nicht geklärt wurde auch, ob Ustinow Teil des Protestes war oder | |
sich nur mit einem Freund treffen wollte. | |
## Kritik auch aus Putins Kreisen | |
Im Fall Ustinow kam es zu ungewöhnlichen Solidaritätsbekundungen. Mehr als | |
hundert orthodoxe Priester klagten in einem offenen Schreiben über die | |
Kriminalisierung eines Bürgers. Bekannte Vertreter aus staatlichen Medien | |
und eingeschworene Kremlanhänger nannten das Urteil „ungerecht“ – darunt… | |
auch die Chefredakteurin des russischen Propagandasenders RT, Margarita | |
Simonjan. | |
Tausend Lehrer meldeten sich als Unterstützer Ustinows auch in einem | |
offenen Brief zu Wort. Selbst der Generalsekretär der Kremlpartei, Andrei | |
Turtschak, sprach von einer „himmelschreienden Ungerechtigkeit“ gegenüber | |
dem Verurteilten. Dieser hätte weder jemanden auch nur angefasst noch die | |
öffentliche Ordnung gestört, sagte der als Mann fürs Grobe bekannte | |
Putin-Mann. | |
Turtschak hatte zuvor Mitarbeiter der Präsidialadministration konsultiert, | |
die für eine Neuauflage des Verfahrens und ein milderes Urteil plädierten. | |
Turtschaks Eimischung war vermutlich von oben angeordnet worden. | |
Auch Schauspieler hatten sich vorher zusammengeschlossen. Viele von ihnen | |
warteten ebenfalls in der Schlange vor der Präsidialadministration. Im | |
Internet hatten sie zuvor zu Solidarität und Protest aufgerufen. | |
## Solidarität auf Moskaus Bühnen | |
Mehrere Theater-Belegschaften widmeten die Aufführungen dem bedrängten | |
Kollegen, darunter führende Bühnen der Hauptstadt. Die Zivilgesellschaft | |
ist aktiv. | |
Dass sich auch Parteigänger des Kreml einschalten, mag echter Überzeugung | |
entspringen. Auf jeden Fall zeigt es jedoch, wie ängstlich die Ereignisse | |
wahrgenommen werden. Viele Anhänger des Systems befürchten, der Kreml | |
könnte Gewalt und Repression zu weit treiben und Unmut weiter anheizen. | |
Für ein Einlenken im Einzelfall spricht, dass Rechtsanwalt Anatolij | |
Kurtschena, der den „Gesellschaftsrat beim Innenministerium“ leitet, mit | |
der Verteidigung Ustinows betraut wurde. Kurtschena war auch Betreuer des | |
whistleblowers Edward Snowdon bei seiner Flucht nach Russland 2013. | |
Heftiger Protest führte überdies im Juni zum Erfolg. Die journalistische | |
Gemeinde machte mobil, als der [1][investigative Journalist Iwan Golunow] | |
wegen vermeintlichen Drogenbesitzes in einem Lager verschwinden sollte. | |
Nach fünf Tagen Protest gab der Kreml nach und setzte Golunow auf freien | |
Fuß. | |
## Imageverlust für den Kreml | |
Russlands Machthaber fürchten sich vor Journalisten als gut organisierter | |
Gruppe mit schlagkräftiger Mobilisierungsfähigkeit. Auch die jüngeren | |
Schauspieler zeigen ähnliches Potential und Bereitschaft, sich öffentlich | |
einzusetzen. | |
Grundsätzlich werde das jedoch am repressiven Charakter des Systems nichts | |
ändern, meint der Moskauer Politologe Andrei Kolesnikow. „Druck machen und | |
einbuchten“ sei die Regel. Der Trend entspräche dem „neuen | |
Entwicklungsstadium des russischen Autoritarismus“. | |
Der Imageverlust für den Kreml sei im Falle Golunows und Ustinows | |
gleichwohl hoch, so dass nach anderen Lösungen Ausschau gehalten werde, | |
meint ein Eingeweihter. Wird einer freigelassen, werden dafür fünf andere | |
verurteilt. Damit sei die Breitenwirkung garantiert und der Rest der Gegner | |
werde von weiteren Protesten abgehalten. | |
Zu den Glücklicheren zählt unterdessen der 26-jährige Programmierer Eidar | |
Gubaidullin. Er soll mit einer leeren Plastikflasche nach einem Polizisten | |
geworfen haben. Wider Erwarten wurde er nach ein paar Wochen auf freien Fuß | |
gesetzt, sagte der Anwalt. Wohl aus politischen Überlegungen. | |
19 Sep 2019 | |
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## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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