# taz.de -- Gelenkte Wahlen in Russland: Für die Liebe | |
> Ljubow Sobol ist zum Gesicht der russischen Opposition avanciert. Weil | |
> sie nicht in Haft ist wie ihre Mitstreiter aus der Opposition. | |
Bild: Ljubov Sobol bei einem Interview nach ihrem Hungerstreik | |
MOSKAU taz | Die Polizei kam am späten Montagabend zum Supermarkt, um sie | |
abzuholen. Ljubow Sobol ließ die Einkäufe im Auto und ging mit den | |
Sicherheitskräften mit. Auf überraschende Festnahmen sind Russlands | |
Oppositionelle längst eingestellt. | |
Erst am vergangenen Samstag hatte Sobol auf einem Bordstein vor den | |
Demonstranten in Moskau gestanden, hatte gerufen: „Wir haben das Recht, | |
hier zu sein. Wir haben das Recht, unsere Meinung zu sagen. Das Recht, die | |
Freilassung politischer Gefangener einzufordern.“ Ihre Stimme brach fast. | |
Es war eine ungenehmigte Protestaktion, die zum ersten Mal seit Langem ohne | |
Festnahmen ablief. Diese folgten erst zwei Tage später, in der Moskauer | |
Dunkelheit. Sobol, die 31-jährige Juristin, kam noch in der Nacht frei und | |
bekam wenige Stunden später wegen Aufrufs zu einer nicht genehmigten | |
Demonstration eine Ordnungsstrafe, wieder einmal. Die Zahlungen summieren | |
sich inzwischen auf umgerechnet etwa 165.000 Euro. Zunächst hatte der | |
Richter ihre Akte nicht gefunden, die Verhandlung drohte zu platzen. | |
Ljubow Sobol kennt die Auswüchse russischer Justiz. Auch die Auswüchse | |
russischer Politik. An diesem Sonntag wäre sie gern bei der Wahl für das | |
Moskauer Stadtparlament angetreten, wie es 228 der Stadtverwaltung genehme | |
Anwärter für 45 Abgeordnetenposten nun tun. Die Zentrale Wahlkommission | |
aber schloss Anfang Juli sie und 55 weitere oppositionelle Kandidaten aus. | |
Seitdem hielten Tausende von Moskauern und Moskauerinnen jeden Samstag | |
„politische Spaziergänge“ ab. Spaziergänge, bei denen Nationalgardisten | |
teils brutal zuschlugen. Und nach denen die Behörden den Demonstranten | |
„Massenunruhen“ vorwarfen. Erst am Dienstag hatten Richter drei junge | |
Männer zu zwei bis fünf Jahren Strafkolonie verurteilt. Für einen Tweet, | |
für den Einsatz von Pfefferspray, dafür, einen Polizisten geschubst zu | |
haben. „Reine Willkürherrschaft“, hatte Ljubow Sobol noch im Gerichtssaal | |
gerufen. | |
Da war sie wieder, ihre Wut auf „die Macht“, die den Menschen, wie die | |
Juristin immer wieder sagt, mit ihrer Propaganda die Sinne vernebele und | |
sie in politische Apathie zwinge. Sobol tritt seit Jahren dagegen an. Sie | |
tut es verbissen, entschlossen, äußerst kontrolliert. Sie zu einem Gespräch | |
zu treffen ist in diesen Tagen kaum möglich. Sie bestimmt, mit wem sie | |
reden will, ignoriert jene, die sie für nicht wichtig hält. Sie muss ihre | |
Kräfte schonen, immer noch. Ihr Hungerstreik, den sie nach 32 Tagen | |
abgebrochen hatte, ließ sie abmagern, machte sie schwach. | |
Kompromissbereiter machte er sie nicht. | |
Für die Oppositionelle entscheidet sich an diesem Sonntag nicht weniger als | |
„das Schicksal unseres Landes. Wenn die Macht uns die Chance zur Wahl | |
stiehlt, wird sie jede Wahl stehlen. Sie wird uns die Zukunft stehlen“. So | |
spricht eine, die zu allem entschlossen ist, die auch einfach einmal bis | |
Mitternacht auf einem Sofa im Gang der Zentralen Wahlkommission in Moskau | |
sitzen bleibt, weil sie die Vorsitzende sprechen will. Weil sie dieser | |
beweisen will, dass die Unterschriften, die ihre Mitarbeiter für die | |
Zulassung zur Wahl gesammelt hatten, nicht gefälscht seien, wie ihr die | |
Prüfkommission vorgeworfen hatte. | |
## Sie ist eine Perfektionistin | |
Eine Kurzschlussreaktion der „Perfektionistin“, wie Sobol sich selbst | |
bezeichnet. „Mich regen ja schon die zuweilen schief stehenden Schuhe | |
meines Mannes auf. Was soll ich erst über die Lügen der Behörden sagen?“, | |
sagte sie einst einem russischen Onlinemedium, um ihre Motivation zu | |
erklären, in die Politik zu gehen. Fünf bullige Männer trugen die zierliche | |
Anti-Korruptions-Kämpferin nach Stunden des Sitzstreiks schließlich auf die | |
Straße, mitsamt dem braunen Behörden-Sofa. | |
„Für die Liebe“, rufen Sobols Anhänger stets bei Protesten. „Ljubow“ | |
bedeutet auf Russisch „Liebe“. Trotz zahlreicher Festnahmen blieb die | |
Jungpolitikerin bislang auf freiem Fuß – weil sie eine fünfjährige Tochter | |
hat. „Mira weiß, dass die Mama gegen Putin kämpft. Für sie ist er ein | |
schlechter Onkel, der Geld stiehlt“, erzählt Sobol Journalisten, die sie | |
nach ihrem Kind fragen. Die Juristin lebt in zweiter Ehe mit dem | |
Anthropologen Sergei Mochow in Moskau. | |
Seit Jahren setzt sie sich für Freiheitsrechte in Russland ein – und gegen | |
die Korruption. Sie war 23 Jahre alt, als sie als erste Juristin beim | |
Projekt „Rospil“ des Kreml-Kritikers Alexei Nawalny anfing, der | |
Galionsfigur der russischen Opposition. Darin gingen sie den | |
Bereicherungsmechanismen russischer Eliten nach. | |
Die Tochter eines Wirtschaftsprüfers und einer Ingenieurin aus einem | |
Moskauer Vorort hatte da gerade mit Auszeichnung ihr Jurastudium an der | |
renommierten Moskauer Staatsuniversität abgeschlossen und Stellen bei | |
McKinsey und der russischen Zentralbank in Aussicht. Sie entschied sich für | |
das damals dreiköpfige Nawalny-Team. Schnell übernahm sie die Moderation | |
der Morgenshow bei Nawalnys YouTube-Sender, stieg zur Produzentin des | |
Kanals auf, der mehr als eine Million Abonnenten hat. | |
## Hungern für mehr Gerechtigkeit | |
Bereits 2014 wollte sie Abgeordnete des Moskauer Stadtparlaments werden, | |
sammelte aber nicht genügend Unterschriften, um zugelassen zu werden. Nach | |
der russischen Besetzung der ukrainischen Halbinsel Krim taumelte Russland | |
zu der Zeit in Euphorie. | |
Der Krim-Effekt allerdings ist längst verpufft. Das Protestpotenzial im | |
Land steigt. Für Sobol sei das genau der Zeitpunkt, „die Ungerechtigkeiten | |
eines ganzen Systems zu zeigen“, erklärt sie immer wieder auf allen | |
Onlinekanälen, die sie geschickt einsetzt. Diesem Kampf ordnet sie vieles | |
unter. Für den Hungerstreik war sie in den fensterlosen Keller ihres | |
Kampagnenbüros gezogen. Im Netz wird ihre gesamte Familie verunglimpft. Ihr | |
Mann hatte Ende 2016 einen Anschlag überlebt. Ein Unbekannter hatte ihm | |
eine Spritze mit undefinierter Flüssigkeit in den Oberschenkel gejagt, | |
daraufhin fiel Mochow in Ohnmacht. Wer hinter der Tat steht, hat die | |
Polizei bis heute nicht herausgefunden. | |
Durch ihre unnachgiebige, auf viele unzugänglich wirkende Art ist Ljubow | |
Sobol zum Gesicht der russischen Opposition avanciert. Ihre Bekannten | |
sagen: „Wenn sie sich ein Ziel gesetzt hat, dann ist sie nicht mehr zu | |
stoppen.“ | |
7 Sep 2019 | |
## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
## TAGS | |
Russland | |
Alexei Nawalny | |
Russische Opposition | |
Ljubov Sobol | |
Russland | |
Russland | |
Russland | |
Russland | |
Russland | |
Einiges Russland | |
Einiges Russland | |
Russland | |
Russland | |
Ljuba Sobol | |
Russland | |
Russische Opposition | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Justiz gegen Oppositionelle in Russland: Knapp am Knast vorbei | |
Der Student Jegor Schukow hatte an Protesten der Opposition teilgenommen. | |
Dafür wurde er nun zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. | |
Russische Justiz lenkt ein: Pawel Ustinow kommt frei | |
Eine breite Protestwelle nach dem harten Urteil gegen den Schauspieler | |
Pawel Ustinow zeigt offenbar Wirkung: Er wird aus der Haft entlassen. | |
Proteste in Russland: Breite Kritik an Willkürjustiz | |
Ein hartes Urteil gegen einen Schauspieler bringt dessen Kollegen in Rage. | |
Auch die orthodoxe Kirche und kremltreue Journalisten sind empört. | |
Aus Le Monde diplomatique: Millionär werden leicht gemacht | |
In Russland kritisiert die Opposition gern die grassierende Korruption. | |
Wenn sich wirklich etwas ändern soll, reicht das aber nicht aus. | |
Einmischung in russische Regionalwahlen: Der alte Vorwurf | |
Russland setzt seine Aufsichtsbehörde auf Facebook und Google an – wieder | |
einmal. Sie sollen Einfluss auf die Regionalwahlen genommen haben. | |
Regionalwahlen in Russland: Putins Partei hat abgewirtschaftet | |
Das Ergebnis der Wahlen in Russland, vor allem in Moskau, ist mehr als nur | |
ein Achtungserfolg für die Opposition. Die braucht jetzt eine Strategie. | |
Wahlen in Russland: Tritt vors Schienbein für Putin | |
Bei den Regional- und Kommunalwahlen muss die Partei „Einiges Russland“ | |
Federn lassen. Die Opposition erzielt einen Achtungserfolg. | |
Kommunalwahlen in Russland: Gefährlicher Minimalkonsens | |
In Russland hat bei den Kommunalwahlen keiner so recht gewonnen. Die | |
Opposition ist gefährlich diffus. Putins Regierungspartei hat alles im | |
Griff. | |
Regionalwahlen in Russland: Feiern und wählen gehen | |
In Moskau laufen die Kommunalwahlen, dazu Regionalwahlen. Für Putin könnten | |
sie gefährlich werden. | |
Opposition in Russland: Kinder als Druckmittel | |
Zwei russischen Familien wird nun doch nicht ihr Sorgerecht entzogen. Sie | |
hatten mit ihrem Nachwuchs an Protesten teilgenommen. | |
Protest in Moskau: Verdächtige Ruhe | |
Politische Spaziergänge in Russland – die Staatsmacht lässt die | |
Demonstranten gewähren, hält sich zurück und zeigt doch: „Fühlt euch bloß | |
nicht sicher!“ | |
Proteste in Moskau: Beim Flanieren festgenommen | |
Widerstandsgeist und Hartnäckigkeit beunruhigen den Kreml. Schon auf | |
kleinere Proteste reagiert Moskau mit massiver Gegenwehr. |