# taz.de -- Protest in Moskau: Verdächtige Ruhe | |
> Politische Spaziergänge in Russland – die Staatsmacht lässt die | |
> Demonstranten gewähren, hält sich zurück und zeigt doch: „Fühlt euch bl… | |
> nicht sicher!“ | |
Bild: Demonstration an der Statue des russischen Dichters Alexander Gribojedow … | |
Moskau taz | Nach 20 Minuten setzt sich der Protestzug in Bewegung. Jemand | |
ruft: „Los, kommt“, und die etwa 2.000 Menschen – die meisten sind | |
Studenten – laufen am Moskauer Boulevard-Ring entlang. Großmütterchen | |
sitzen hier auf den Bänken im Schatten, Kinder klettern die | |
Spielplatz-Rutschen hoch. Und die Demonstranten skandieren: „Russland ohne | |
Putin“ und „Wir wollen eine echte Wahl“. | |
Es ist [1][der achte Samstag in Folge], den die Moskauer Opposition wieder | |
zum Flanieren nutzt. „Politische Spaziergänge“, so nennen die Unzufriedenen | |
ihre Versammlungen, seit die Zentrale Wahlkommission 57 oppositionelle | |
Kandidaten nicht zur Wahl des Moskauer Stadtparlaments zugelassen hat. | |
Längst geht es hier um mehr als um eine Institution, die in der | |
Vergangenheit kaum jemanden interessiert hat. Es ist der allgemeine Unmut, | |
der die Menschen auf die Straße treibt. Auch dieses Mal ist die Aktion, zu | |
der die ebenfalls nicht zugelassene Kandidatin Ljubow Sobol aufgerufen | |
hatte, nicht genehmigt. | |
Was das heißt, hat sich in den vergangenen Wochen gezeigt. Polizisten | |
hatten teils brutal zugegriffen, hatten allein an zwei Samstagen knapp | |
2.000 Menschen festgenommen. 15 junge Männer sitzen mittlerweile in Haft, | |
ihnen wird die Organisation von „Massenunruhen“ vorgeworfen, ein | |
Straftatbestand, der mit mindestens acht Jahren Haft geahndet wird. Der | |
Protest wird kriminalisiert, die Menschen hält das harte Vorgehen dennoch | |
nicht davon ab, ihre Stimme zu erheben. | |
## „Was passiert am Endpunkt?“ | |
„Natürlich habe ich Angst. Angst, im Gefangenentransporter zu landen, | |
meinen kleinen Sohn plötzlich nicht mehr zu sehen. Aber ich habe keine | |
Angst, meine Meinung zu sagen. Putins Stabilität entstammt einem verlogenen | |
System. Ich will endlich die Gewissheit haben, dass auch ich als Einzelner | |
etwas ändern kann, will erreichen, dass mein Sohn in einem wirklich freien | |
Land aufwächst, nicht in der politischen Fassade, in der wir hier leben“, | |
sagt Roman, ein 32-Jähriger, der seit etwa zehn Jahren bei | |
Anti-Regierungsprotesten mitmacht. Er wundert sich über die Ruhe an diesem | |
Samstag. | |
Tatsächlich scheint die Staatsmacht eine Woche vor der Wahl einen | |
Strategiewechsel zu vollziehen, indem sie die Demonstranten gewähren lässt. | |
Mehr als eine Stunde lang schlängelt sich die Menge durch die Parkanlagen | |
und Straßen, Polizisten regeln den Verkehr, Absperrungen und Spezialkräfte | |
in voller Montur, wie sie bei jeder nicht genehmigten Demonstration zu | |
sehen sind, gibt es dieses Mal nicht. Die Protestierenden macht das | |
zufrieden, aber auch stutzig. „Was passiert am Endpunkt?“, fragen sich | |
viele, die sich teils in die russische Flagge wickeln, teils Plakate | |
hochhalten. | |
Am Endpunkt wartet eine Falle. In Sekundenschnelle laufen am Puschkin-Platz | |
mitten im Zentrum die Spezialkräfte entlang der Straßen, umstellen den | |
Platz. Ein Durchkommen ist lediglich über den Eingang zur Metro möglich, | |
wohin die Polizei die Demonstranten geleitet. „Wir haben das Recht, hier zu | |
sein. Wir haben das Recht, unsere Meinung zu sagen. Das Recht, die | |
Freilassung politischer Gefangenen einzufordern“, ruft die Oppositionelle | |
Ljubow Sobol in die Menge. | |
Ihre Stimme bricht fast, ihre Anhänger applaudieren. Nach wenigen Minuten | |
entschwindet auch sie in die Metro, der Protest löst sich langsam auf. Zu | |
Festnahmen kommt es nicht. Es soll ein Zeichen der Entspannung sein, das | |
beschwichtigende Gesicht der Staatsmacht, die mit der Umstellung des | |
Protestzugs am Ende kurz für Angespanntheit sorgt und zeigt: „Fühlt euch | |
nicht zu sicher.“ | |
31 Aug 2019 | |
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## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
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