| # taz.de -- Kommunalwahlen in St. Petersburg: Demokraten starten ganz unten | |
| > Polina Rysakowa klingelt an jeder Tür. Die Dolmetscherin wirbt für ihre | |
| > Wahl in einen der Bezirksräte – als unabhängige Kandidatin der | |
| > Opposition. | |
| Bild: Eigene Ideen: Polina Rysakowa will ihre Stadt mitgestalten | |
| St. Petersburg taz | Wer mit dem Schlafwagen von Moskau in Sankt Petersburg | |
| eintrifft, kommt auch mit besten Russischkenntnissen nicht immer weiter. | |
| Riesige Reisegruppen aus China, angeführt von einer Frau, die eine blaue | |
| Fahne hochhält, drängen in Richtung des Bahnhofsvorplatzes. Wenig später | |
| verschlucken ein Dutzend Busse die nervösen Chinesen. Nur die | |
| Petersburgerin Polina Rysakowa findet sich in diesem Sprachengewirr | |
| zurecht. Die 40-Jährige ist Dolmetscherin für Chinesisch, Reiseleiterin, | |
| Doktorin der Soziologie und Dozentin an der Universität von Sankt | |
| Petersburg. | |
| Doch auch sie ist wenig begeistert von den vielen chinesischen Touristen. | |
| „Der Boom hat Russland nicht das gebracht, was man sich versprochen hat“, | |
| meint sie. Die Chinesen würden mit eigenen Reiseleitern und Dolmetschern | |
| anreisen, lebten in billigen Hotels. Und die Reiseleiter drängen ihre | |
| Kunden, in chinesischen Geschäften einzukaufen. Nun würden chinesische | |
| Investoren gar Hotels in der Stadt bauen. | |
| Als stellvertretende Leiterin der lokalen Vereinigung der Reiseführer und | |
| Dolmetscher und Vorsitzende des Labors zur Erforschung des Tourismus aus | |
| China fordert Rysakowa Gesetze, die nur noch die Beschäftigung von | |
| russischen Staatsbürgern als Reiseleiter und Dolmetscher erlauben. „In | |
| China dürfen Ausländer auch nicht als Dolmetscher und Reiseleiter | |
| arbeiten“, begründet sie das. | |
| Doch seit diesem Sommer hat die Chinesisch-Dolmetscherin noch eine weitere | |
| Aufgabe. In einem Café der gehobenen Preisklasse erklärt die ganz in Weiß | |
| gekleidete Petersburgerin, warum sie sich als Parteilose und ohne jede | |
| politische Erfahrung dazu entschlossen hat, die russische Demokratie von | |
| ganz unten auszutesten – als Kandidatin bei den Bezirksratswahlen am | |
| nächsten Sonntag auf der Liste der kleinen sozialliberalen Jabloko-Partei. | |
| Sechs Stimmen kann jeder Wähler in der „nördlichen Hauptstadt“ abgeben: | |
| eine Stimme für den Gouverneur und fünf weitere für den Bezirksrat. Bei der | |
| Gouverneurswahl hätte Rysakowa keine Chance: Dort darf nur kandidieren, wer | |
| mindestens 10 Prozent der Unterschriften der lokalen Stadt- und Bezirksräte | |
| hinter sich weiß. Da in diesen aber Präsident Wladimir Putins Partei | |
| „Einiges Russland“ mit 90 Prozent vertreten ist, wurde kein einziger | |
| erklärter Gegner seiner Politik zur Wahl zugelassen. | |
| ## Eine Lücke für die Opposition: die Bezirksräte | |
| Weitaus mehr Chancen haben Regierungskritiker in den Bezirksräten. So leben | |
| in Polina Rysakowas Stimmbezirk Semenowskij nur 9.000 Wähler. Bei einer zu | |
| erwartenden Wahlbeteiligung von gut 20 Prozent reichen bereits einige | |
| hundert Stimmen für ein Mandat. | |
| Erstmals startete die sozialliberale Jabloko-Partei bei dieser Wahl eine | |
| Kampagne, in der auch Parteilose aufgefordert wurden, unter ihrem Dach für | |
| die Bezirksräte zu kandidieren. Mit diesem niederschwelligen Angebot bringt | |
| Jabloko neuen Wind in die Politik. Um auf die Jabloko-Liste zu kommen, | |
| musste man lediglich der Programmatik der Partei in wenigen Punkten, wie | |
| etwa der Ablehnung von Nationalismus, der Krim-Annexion und der | |
| Diskriminierung sexueller Minderheiten, zustimmen. | |
| „Mein gesamtes erwachsenes Leben habe ich unter Präsident Putin gelebt. Ich | |
| will diese Stagnation nicht mehr. Ich will Veränderung“, sagt Polina | |
| Rysakowa. Viele ihrer Freundinnen hätten resigniert, doch sie wolle den | |
| Versuch wagen, neuen Wind in die Politik zu bringen. Auch wenn ein | |
| Bezirksrat nicht viele Kompetenzen habe, ein kommunales Mandat sei an und | |
| für sich schon ein Gewinn. Ein Mandat verleihe ihrer Stimme mehr Gewicht, | |
| gebe ihr eine Plattform für ihre Ideen. Wenn sie gewählt wird, wolle sie | |
| mehr Bänke, mehr Parkanlagen, mehr Schönheit und Gemütlichkeit in ihren | |
| Bezirk Semenowskij im Herzen von Sankt Petersburg bringen. | |
| ## Im 5. Stock im Treppenhaus | |
| Wahlkampf macht Rysakowa online auf ihrer Facebook-Seite – und mit | |
| Hausbesuchen. Unweit der U-Bahn- Station Technologicheskij Institut läuft | |
| sie bis in den 5. Stock eines Hauses. Die Wand im engen Treppenhaus ist | |
| blau, an vielen Stellen fällt der Putz auf den Boden. Ein bisschen außer | |
| Atem läutet Rysakowa an einer Wohnungstür. Die Tür öffnet sich einen Spalt. | |
| Erschrocken sieht die Bewohnerin auf die Frau an der Tür, die sich für die | |
| Hausbesuche ein bescheiden wirkendes blaues Kleid angezogen hat. | |
| „Ich bin Ihre Kandidatin für die Wahlen am 8. September“ beginnt Rysakowa. | |
| Sie wisse nur, dass ein neuer Gouverneur gewählt werde, antwortet die | |
| Bewohnerin. „Aber genauso wichtig ist die Wahl für den Bezirksrat an diesem | |
| Tag“, hält ihr Rysakowa entgegen. „Kommen Sie doch ins Wahllokal, geben Sie | |
| Ihre Stimme ab, wenn Sie wollen, dass unser Startteil schöner werden soll.“ | |
| Die Bewohnerin schweigt – und Polina Rysakowa verabschiedet sich höflich, | |
| nachdem sie der Frau ein Flugblatt mit ihrem Bild in die Hand gedrückt hat. | |
| Schwer fielen ihr die unangemeldeten Besuche nicht, erklärt sie. Als | |
| Reiseleiterin und Dozentin habe sie gelernt, auf fremde Menschen zuzugehen. | |
| Was ihr wirklich etwas ausmache, seien die vielen Treppenstufen, die sie | |
| ersteigen müsse. Fast täglich veröffentlicht sie auf ihrer Facebook-Seite | |
| Fotos von Treppenhäusern und Hinterhöfen ihres Stimmbezirks. „Unsere | |
| Treppenhäuser sind doch wirklich schön“, sagt sie. Sie wolle nicht in einem | |
| dieser ideen- und gefühllosen Hochhäuser in den Schlafvierteln der Stadt | |
| leben. An Treppenhäusern kann man so viel erkennen: die Graffiti zeigen den | |
| Ideenreichtum der Bewohner, die heruntergekommenen Holztreppen und die | |
| mangelhafte Beleuchtung machten deutlich, wie wenig sich die Bürokraten der | |
| Stadt um die Bürger kümmern würden. | |
| „Ich kann es schon mit weniger als 1.000 Stimmen schaffen, gewählt zu | |
| werden“, sagt Rysakowa optimistisch – und sie fügt hinzu, dass das Ergebnis | |
| aber nicht nur von denen abhängt, die ihre Stimmen abgeben, sondern auch | |
| von denjenigen, die diese Stimmen am Ende auszählen. | |
| ## Dmitri Nikolajew kämpft für einen Wald | |
| Nach Jugo-Sapad, gelegen am südwestlichen Stadtrand von Sankt Petersburg, | |
| verirrt sich kein Tourist. Umgeben von heruntergekommenen Hochhäusern | |
| tummeln sich Kinder auf den zahlreichen Spielplätzen im Viertel. Auf der | |
| Straße sind fast nur Frauen zu sehen. Die Männer sitzen an diesem Abend in | |
| der rustikal eingerichteten Bar Rodnitschok. | |
| In diesem Viertel wohnt der 22-jährige Dmitri Nikolajew. Der an Armen und | |
| Beinen tätowierte und unrasierte Mitarbeiter des russischen Kunstmuseums | |
| und seine Freundin, die nicht weniger tätowiert ist und einen Nasenring | |
| trägt, könnten von ihrem Aussehen her der Hausbesetzerszene entstammen. | |
| Nikolajew ist Umweltaktivist, Mitglied der Russischen Sozialistischen | |
| Bewegung, kämpft gegen die Rentenreform, für die Rechte sexueller | |
| Minderheiten und für Immigranten. Er lebt seit seiner frühesten Kindheit in | |
| Jugo-Sapad. | |
| Als bekannt wurde, dass im nahen Poleschaewskij-Park für ein Panzermuseum | |
| ein Teil des Waldes gerodet werden sollte, gründete Nikolajew mit ein paar | |
| Gleichgesinnten eine Gruppe. Und auch er kandiert auf der Jabloko-Liste für | |
| den Bezirksrat. | |
| An diesem Tag suchen Nikolajew und seine Freundin die Spielplätze im | |
| Viertel auf. „Haben Sie gehört, sie wollen im Park abholzen?“, fragt | |
| Nikolajew die Frauen. „Ja, das ist schrecklich“, antwortet eine Frau, die | |
| sacht einen Kinderwagen hin- und herschiebt. „Und wer weiß, vielleicht | |
| wollen die ja auch noch etwas ganz anderes bauen als nur ein Panzermuseum. | |
| Und dann haben wir gar nichts mehr in der Nähe, wo wir uns erholen können“, | |
| wirft eine andere Frau ein. Alle am Spielplatz unterschreiben Nikolajews | |
| Unterschriftenliste gegen die Abholzung des Parks. „Ich habe hier noch | |
| etwas für Sie“, beendet Nikolajew das Gespräch und drückt den Frauen ein | |
| Flugblatt in die Hand, in dem er dazu aufruft, ihn zu wählen. Zwei Symbole | |
| sind dort zu sehen: das der Russischen Sozialistischen Bewegung und das der | |
| Partei Jabloko. | |
| 1,3 Millionen Euro beträgt der Haushalt von Jugo-Sapad, rechnet Nikolajew | |
| einer anderen Frau auf dem nächsten Spielplatz vor. Über zehn Prozent davon | |
| würden für Bürokraten und „sinnlose Feierlichkeiten“, wie er es nennt, | |
| ausgegeben. Gerade einmal zwei Prozent werde für Müllentsorgung, sechs | |
| Prozent für Kindergärten und Sporteinrichtungen bezahlt. Sollte er gewählt | |
| werden, werde er gegen Abholzungen, für Mülltrennung, Bürgersteige und | |
| öffentliche Bezirksratssitzungen kämpfen, sagt der Jungpolitiker. | |
| ## Als Linker auf einer liberalen Liste? Kein Problem | |
| Nein, er habe als Linker keine Schwierigkeiten damit, auf der Liste von | |
| Jabloko anzutreten, meint Nikolajew. An manchen Orten arbeite die | |
| Russischen Sozialistischen Bewegung auch mit der kommunistischen Partei | |
| zusammen. Doch die Kooperation mit Jabloko laufe reibungsloser. | |
| Nach den Besuchen auf den Kinderspielplätzen geht es in die Hochhäuser. | |
| 13.000 Wahlberechtigte leben in Jugo-Sapad. Erst gegen 10 Uhr am Abend | |
| beenden Dmitri Nikolajew und seine Freundin ihre Wahlwerbung. | |
| Lautstark überlegen unterdessen die Männer des Viertels in der Bar | |
| Rodnitschok in der Peterhof-Chaussee Nummer 3 bei einem billigen Bier, was | |
| sie alles anders machen würden, wenn sie etwas zu sagen hätten. | |
| 5 Sep 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Bernhard Clasen | |
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