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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Millionär werden leicht gemacht
> In Russland kritisiert die Opposition gern die grassierende Korruption.
> Wenn sich wirklich etwas ändern soll, reicht das aber nicht aus.
Bild: Dmitri Medwedew mit Stahlmagnat Wladimir Lissin, dessen Vermögen auf 21 …
Öffentliche Proteste gehören inzwischen zum politischen Alltag in Russland
– trotz der äußerst repressiven Maßnahmen gegen Demonstrierende. Und die
Auseinandersetzungen zwischen dem Regime und der Bevölkerung werden
intensiver. Seit Juli gingen im Vorfeld der Wahlen zum Moskauer
Stadtparlament zehntausende Russen auf die Straße. Sie protestierten
dagegen, dass die Behörden Oppositionskandidaten von der Teilnahme
ausschlossen. Beispiellos viele Beteiligte wurden bei den friedlichen
Kundgebungen verhaftet, mehr noch von Sicherheitskräften verprügelt und
verletzt.
Den Bürgerinnen und Bürgern ging es allerdings um viel mehr als nur um
diese eine Wahl. Sie sehen sich in der Tradition der Proteste vom Winter
2011: Damals trotzten Zehntausende der bitteren Kälte, um ihre Stimme zu
erheben gegen die Manipulationen der regierenden Partei Einiges Russland
bei der Parlamentswahl vom 4. Dezember 2011 sowie gegen die bevorstehende
Rückkehr Wladimir Putins ins Amt des Staatspräsidenten.
Die Opposition umfasst ein breites Spektrum politischer und ideologischer
Strömungen. Was Liberale, Sozialisten, Monarchisten und Techno-Libertäre
dabei vor allem eint, ist der Kampf gegen Korruption. Von nicht
unerheblichem Nutzen ist hier die Bekanntheit des Politikers Alexei
Nawalny, der sich seit mehr als einem Jahrzehnt beharrlich mit dem Thema
beschäftigt. Auf seinem Blog bei der in Russland besonders beliebten
Plattform LiveJournal, auf Twitter oder auch mittels der
Multimediaaktivitäten seines Fonds zur Bekämpfung der Korruption (FBK)
entlarvt er korruptes Handeln aller Art, von Vetternwirtschaft und
persönlicher Bereicherung von Regierungsvertretern und Beamten bis zu den
gigantischen Raubzügen der Staatskonzerne.
Bei seinen Enthüllungen scheut Nawalny auch nicht vor Personen aus dem
inneren Zirkel des Kreml zurück. So machte der FBK den Reichtum des
früheren Staatspräsidenten Dmitri Medwedew zum Gegenstand seiner
Dokumentation „Nennen Sie ihn nicht Dimon“ aus dem Jahr 2017. Der Film
wirft ein Licht auf Medwedews Privatvermögen, auf seine Jachten, auf
Grundbesitz und Immobilien in Russland und Italien, darunter Nawalny
zufolge Weinberge und ein Schloss in der Toskana.
## Wirksames Mittel, um die Opposition zu einen
Ganz sicher war und ist der Kampf gegen die Korruption ein wirksames
Mittel, um Oppositionelle im Kampf gegen das Regime zu einen – das dann
auch durchaus gezwungen war, sich diesem Problem zu stellen. Als Putin im
Juni während seines vom Fernsehen übertragenen, jährlich stattfindenden
„Dialogs mit dem russischen Volk“ Fragen von handverlesenen Anrufern
beantwortete, kam die Sprache auch auf Korruption. Auf die Frage, ob er
sich persönlich für diesen Schlamassel verantwortlich fühle, sagte er:
„selbstverständlich.“ Putin behauptete aber zugleich, „die Zahl der
Korruptionsdelikte sinkt (…) großenteils dank unseres nicht
nachlassenden, konsequenten Einsatzes“.
Tatsächlich werden gelegentlich hochrangige Personen festgenommen, was
Putins Aussage zu bestätigen scheint. So wurde der ehemalige
Wirtschaftsminister Alexei Uljukajew im Dezember 2017 wegen Bestechlichkeit
zu acht Jahren Haft in einem Straflager verurteilt. Blickt man auf andere
Fälle, so sind Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Korruptionsbekämpfung
dennoch mehr als angebracht: 2012 wurde Verteidigungsminister Anatoli
Serdjukow wegen eines Korruptionsskandals zwar entlassen, doch schon im
darauffolgenden Jahr fiel der Vorwurf des Amtsmissbrauchs gegen ihn unter
den Tisch. Heute hat er einen wichtigen (und zweifellos lukrativen) Posten
bei Rostec, der staatlichen Waffen- und Hightech-Firma.
Anstatt als Disziplinierungsinstrument zu wirken, sind
Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der russischen Elite eher ein
Symptom der Auseinandersetzungen innerhalb dieser Elite selbst. Staatliches
Vorgehen gegen Korruption dient lediglich der internen Kontenklärung oder
bleibt reine PR-Übung. Der Versuch der Opposition, die Korruption aus der
Welt zu schaffen, beruht hingegen auf der Annahme, sie sei nur
Begleiterscheinung eines Systems, das ohne sie gerechter und besser
funktionieren würde.
## Illegale Bereicherung ist Teil der Systemarchitektur
Die wahren Orgien illegaler Bereicherung, die Nawalny und andere zu Recht
angreifen, resultieren aber weniger aus der persönlichen Raffgier Putins
und seiner Kollegen als vielmehr daraus, dass sie Teil der
Systemarchitektur sind. Die Korruption ist nichts Zufälliges oder dem
zeitgenössischen russischen Kapitalismus Übergestülptes – sie ist ihm von
Anfang an inhärent.
Um das besser zu begreifen, muss man die Entstehung der postsowjetischen
Elite betrachten. Gewöhnlich kursiert in den westlichen Medien die
Geschichte, dass schlaue Akteure in dem Drunter und Drüber des Übergangs
zum freien Markt während der 1990er Jahre Reichtümer scheffelten.
Vielleicht hielten sie sich dabei nicht immer an die Gesetze: Aber waren
diese in den chaotischen Zeiten nicht selbst uneindeutig?
Oft wurden die damals emporkommenden Oligarchen mit den US-amerikanischen
Raubkapitalisten („robber barons“) des späten 19. Jahrhunderts verglichen …
also Männern, deren skrupellose Aneignung von Reichtum bald schon
hochwohlanständig daherkam: siehe Boris Beressowski¹, der binnen weniger
Jahre vom Computerverkäufer zum Eigentümer einer Bank, einer Ölgesellschaft
sowie einer großen Zeitung und des wichtigsten landesweiten Fernsehsenders
aufstieg. Obendrein konnte er auch noch einen hohen Posten in der Regierung
Jelzin ergattern.
Was dieser Erzählung fehlt, ist allerdings das grundlegende Verständnis für
die Art und Weise, wie die Oligarchen ihre Vermögen erwarben. Die neue
russische Elite entstand nämlich nicht durch munteren Wettbewerb, sondern
durch den politischen Willen des Staats.
Da für die Regierung Jelzin die Zerschlagung der sowjetischen
Planwirtschaft oberste Priorität besaß, privatisierte sie Staatsvermögen
von 1992 an in einem regelrechten Rundumschlag. Mittels „Coupon-Vergaben“
bekamen die russischen Bürger und Bürgerinnen Anteile an ausgewählten
Unternehmen, mit denen sie handeln durften; durch „Privatisierungen qua
Dekret“ übertrug der Regierungschef bestimmten Personen den Besitz ganzer
Firmen.
Die Folge dieser Formen von Privatisierung war eine rasch sich bildende und
wachsende neue Schicht von Reichen, die beträchtliche Anteile der
produktiven Infrastruktur des Landes zu lächerlich niedrigen Preisen
ergatterten. Dabei machten sie ihre mangelnden unternehmerischen Qualitäten
mehr als wett durch ihr Talent, ihre Beziehungen zum Staatsapparat
auszunutzen. Dank ihrer informellen Verbindungen besorgten sie sich etwa
eine Exportlizenz oder versprachen als Gegenleistung für eine
Ölgesellschaft Jelzins Bewerbung um die Wiederwahl 1996 zu unterstützen.
Der Banker Petr Awen drückte das Ganze so aus: „Um in unserem Land
Millionär zu werden, muss man mitnichten Köpfchen oder besondere Kenntnisse
haben. Häufig reicht es, dass man von Regierung, Parlament, lokalen
Potentaten oder Strafverfolgungsbehörden tatkräftig unterstützt wird. Wenn
Sie Glück haben, wickelt der Staat eines schönen Tages seine
Finanzgeschäfte über Ihre eigene kleine Bank ab, oder es werden großzügig
Quoten für den Export von Öl, Holz und Gas erteilt. Mit anderen Worten: Sie
können gar nicht anders, als Millionär werden.“²
Schon kurz nachdem Putin im Jahr 2000 auf den Präsidentenstuhl gelangt war,
gelobte er öffentlich, „die Oligarchen als Klasse zu liquidieren“ – dem
ersten Anschein nach ein Zeichen, dass sich die Zeiten änderten und der
Staat privaten Reichtum von nun an nicht mehr unangetastet lassen würde.
Die Realität sah dann anders aus. Putin schaffte die Oligarchen nicht etwa
ab, im Gegenteil: Während seiner Amtszeit erlebten sie einen beispiellosen
Aufschwung. Als er an die Macht kam, gab es in Russland laut der jährlichen
Forbes-Liste null Milliardäre, 2008, zum Ende seiner zweiten Amtszeit, 82.
Gegenwärtig verzeichnet die Liste trotz der schwächelnden Wirtschaft und
der Sanktionen, die der Westen und Russland nach der Annexion der Krim 2014
gegeneinander verhängt haben, 98 Milliardäre!
Unter Putin änderten sich freilich nicht nur die Möglichkeiten zur
kolossalen persönlichen Bereicherung, es wandelte sich auch die Beziehung
der Profiteure zum Staat; und diejenigen, die absahnten, waren nun andere.
Während die Oligarchen in der Ära Jelzin dem Staatsapparat eher
fernstanden, aber Nutzen aus seinem Nichtfunktionieren zogen, sind die
Oligarchen in der Ära Putin Insider, die staatliche Macht erfolgreich dafür
instrumentalisieren, das Staatsvermögen unter ihre Kontrolle zu bringen.
Unterschiede gibt es auch zwischen den verschiedenen Wirtschaftsbereichen:
Als in den 1990er Jahren die Preise für Bodenschätze allgemein niedrig
waren, konnte man im Bankensektor, Finanzwesen, Fernsehen und
Kommunikationssektor die größten Vermögen scheffeln. Als Öl, Gas und Metall
in den 2000er Jahren teurer wurden, machten Großunternehmer in diesen
Sparten üppige Gewinne. Dazu gehörten unter anderem dem Kreml nahestehende
Männer an der Spitze von Staatskonzernen; die spätkapitalistische
Vetternwirtschaft florierte.
Dies aber wiederum verschleiert, wie sehr viele russische Staatskonzerne
mit ihren Methoden und Prioritäten ohnehin schon Privatfirmen ähneln. Beide
versuchen eher, Shareholder Value und Zahlungen an ihre Führungskräfte zu
maximieren, als Gewinne in für die Nation langfristig wichtige Projekte zu
reinvestieren (ganz zu schweigen von einer Umverteilung von Reichtum).
Trotz nach außen hin formaler Unterschiede differieren privater und
öffentlicher Sektor kaum.
Die Grenzen zwischen Staat und Wirtschaft sind aber nicht erst seit der Ära
Putin allenthalben verwischt. Und das ist auch kein Zeichen für eine
schleichende Übernahme der Wirtschaft durch den Staat oder für die
kriminellen Energien mächtiger Individuen. Nein, die Unschärfen rühren von
einer Verflechtung der politischen und ökonomischen Macht in Russland her,
die zurückgeht auf die Präsidentschaft Jelzins und die Herausbildung der
postkommunistischen Wirtschaft.
## Beamte und und Regierungsvertreter als „Käufer“
Diese Verflechtung erlaubt Korruption auf dem derzeitigen Niveau und in
ihren derzeitigen Formen. Gelüstet es einen biznesmen, einen
konkurrierenden Betrieb zu übernehmen, kann er Beamte bestechen, die
Steuerprüfungen, Arbeitsschutzbegehungen und dergleichen veranlassen, bis
sein Übernahmepreis vom Rivalen akzeptiert wird. Im vergangenen Jahrzehnt
waren die „Käufer“ zunehmend Beamte und Regierungsvertreter selbst, die
ihre legale Macht missbrauchten, um sich jedes Anlageobjekt unter den Nagel
zu reißen, das ihnen ins Auge stach. Wie lautet das schöne russische
Sprichwort? „Für unsere Freunde haben wir alles, für unsere Feinde das
Gesetz.“
Was also heißt das für die Opposition und ihre Stoßrichtung?
Selbstverständlich ist es politisch sinnvoll, die Korruption weiterhin
anzuprangern, allein schon wegen des schieren Ausmaßes. Doch wie in anderen
Teilen der Welt birgt eine politische Agenda, die vor allem auf dem
Antikorruptionskampf beruht, Risiken und Beschränkungen. Wenn Nawalny die
Korruption als Vergeudung von Steuergeldern kritisiert, dann öffnet er mit
dieser – vollkommen berechtigten – Klage Tür und Tor für ein breites
antistaatliches Pro-Markt-Denken und eine Konsumentenhaltung gegenüber zum
Beispiel öffentlichen Dienstleistungen. Was wiederum leicht zum Ruf nach
einem völligen Rückzug des Staats und nach noch harscheren neoliberalen
Maßnahmen führen kann, als Russland sie ohnehin schon erlebt – mit der
Begründung, dass der Staat ja eine zu einfach zu plündernde Quelle bleibe.
Dem Kampf der Opposition gegen die Korruption gelingt es derzeit nicht, die
Strukturen infrage zu stellen, die sie überhaupt erst möglich gemacht
haben. Doch solange man nicht das herrschende wirtschaftliche und
politische System Russlands ändert, wird man den Räubereien in den sich
überlappenden Bereichen von Wirtschaft und Staat kein Ende setzen.
¹ Beressowski war einer der mächtigsten russischen Oligarchen. In Russland,
Frankreich und Brasilien wurde er der Korruption angeklagt. Er setzte sich
schließlich nach London ab, wo er 2013 verstarb. Die Behörden teilten mit,
es sei nicht mehr zweifelsfrei festzustellen, ob es sich um Selbstmord oder
ein Tötungsdelikt handele.
[1][www.theguardian.com/world/2014/mar/27/boris-berezovsky-inquest-open-ver
dict-death].
² Peter Reddaway und Dmitri Glinski, „The Tragedy of Russia’s Reforms:
Market Bolshevism against Democracy“, Washington, D. C. (United States
Institute of Peace Press) 2001, S. 603.
Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier.
12 Sep 2019
## LINKS
[1] https://www.theguardian.com/world/2014/mar/27/boris-berezovsky-inquest-open…
## AUTOREN
Tony Wood
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