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# taz.de -- Justiz in Russland: Die Verteidiger
> Eine Gruppe russischer Anwälte trifft sich in europäischen Städten. Sie
> diskutieren, wie sie sich gegen Misshandlung und Rechtsbruch verteidigen.
Bild: In einem russischen Gerichtsraum
In der Nacht auf den 13. September teilten russische Anwälte ein Video auf
Facebook. Darauf ist ein Mann in einem weißen Hemd zu sehen, Gerichtsdiener
ziehen ihn durch einen Flur, danach fesseln und schlagen sie ihn.
Der Rechtsanwalt Dmitri Sotnikow kam am 12. September aus Moskau nach
Nowomoskowsk, über 200 km südlich von Moskau. Er wollte einen wegen
Drogenhandel angeklagten Mann vor Gericht verteidigen. Der Anwalt kam
wenige Minuten zu spät. Trotz seiner Anwaltszulassung und der Vereinbarung
mit dem Angeklagten erlaubte die Richterin nicht, dem Hauptzeugen Fragen zu
stellen, und forderte ihn auf, das Gebäude zu verlassen.
Noch im Gerichtssaal [1][drehen Augenzeugen ein Video von Sotnikow. Er sagt
darin], die Entscheidung der Richterin widerspreche dem Gesetz und dass er
das Gerichtsgebäude nicht freiwillig verlassen werde. Nach einer kurzen
Vertagung betreten alle den Gerichtssaal. Nur Sotnikow darf nicht hinein.
Bei seinem Versuch, die Gerichtsdiener zu passieren, [2][reißen sie ihn zu
Boden und würgen ihn]. Sotnikow wurde für mehrere Stunden gefesselt
eingesperrt. Der Gerichtsprozess lief währenddessen weiter.
In der letzten Septemberwoche haben sich am Ceeli Institute in Prag über
fünfzig russische Anwälte getroffen. Ihr Ziel war unter anderem zu
besprechen, wie man sich vor rechtswidrigen Verweisungen aus dem
Gerichtssaal schützen kann. Ceeli Institute ist eine unabhängige
nichtstaatliche Organisation, die sich für die Rechtsstaatlichkeit in
verschiedenen Ländern einsetzt. Die Anwälte gehören zum Prager Club, der
die Unabhängigkeit der russischen Anwaltschaft stärken will. Er wurde in
Prag gegründet, organisiert aber auch Veranstaltungen in russischen Städten
wie Woronesch, Ischewsk und Krasnodar.
Auch in Berlin hat sich der Prager Club schon getroffen, gerade erst wieder
im August. Die Anwälte haben Erfahrungen darüber ausgetauscht, wie es in
Ländern, die früher zur Sowjetunion gehört haben, um die Rechte der Anwälte
bestellt ist und wie sie dort mit Rechtsverletzungen umgehen.
Der Fall Sotnikow ist nicht der einzige Fall, in dem Anwälte in Russland
unterdrückt werden. Rechtsverletzungen sind für russische Anwälte in den
letzten Jahren zum Alltag geworden. Der Bericht „Angegriffene Anwaltschaft:
Gewalt, Belästigung und interne Konflikte“ der internationalen
Menschenrechtsgruppe Agora beschreibt 50 der bekanntesten Fälle.
„Verteidiger werden verhört, durchsucht, geschubst, getreten, gefesselt,
gewürgt, geschlagen und manchmal beschuldigt, Gerichtsdiener angegriffen zu
haben“, schreibt der Autor, Alexandr Popkow. Er stellt unter anderem fest,
dass im vergangenen Jahr Angriffe auf das Anwaltsgeheimnis zugenommen
haben. Außerdem wurden Anwälte von Fällen abgezogen, zur Vernehmung
geladen, ihre Wohn- und Geschäftsräume wurden illegal durchsucht wurden.
Das Ceeli Institute ist in einer alten Villa untergebracht, sie liegt von
einem Weingarten und Bäumen umgeben in einem ruhigen Park. In einem der
großen Vortragssäle der Neorenaissance-Villa treffen sich russische
Anwälte. Während draußen Touristen spazieren, werden hier an drei
Tischreihen ein ganzes Wochenende Anwaltsrechte, Honorare und Risiken für
Anwälte besprochen. Es gibt bis zu drei Redner bei jedem Thema: einen
Redner, einen Moderator und einen Gegenredner. Jeder Anwalt hat die
Möglichkeit mitzudiskutieren.
## Der Anwalt mit dem Gebetskranz
Der Moskauer Anwalt Alexandr Pichowkin trägt eine rechteckige Brille und
einen kurzen Bart. Nach einer Diskussion bleibt er in dem Vortragssaal an
seinem Tisch, um noch mit KollegInnen zu sprechen. Pichowkin spielt mit den
schwarzen Perlen seines Gebetskranzes. Er nimmt ihn manchmal mit ins
Gericht, und wenn die Atmosphäre angespannt wird, zählt er ein paar runter,
kurz bevor er sein Plädoyer hält. Als am 12. September Dmitri Sotnikow
angegriffen wurde, war er mit einer Anwältin, die zur Hilfe kam, per
Internet im Kontakt und postete auf seiner Facebook-Seite immer wieder neue
Informationen über den Stand der Situation: „Unsere Aufgabe war es, Dmitri
vor allem vor körperlicher Gewalt zu schützen.“
Vor ein paar Jahren erlebte Pichowkin einen ähnlichen Vorfall. Aber die
lokale Anwaltskammer reagierte darauf nicht. In der folgenden Zeit wurde
ihm klar, dass er nicht der Einzige war, der keine Hilfe von der
Körperschaft bekam.
Pichowkin trat daraufhin selbst in Moskau in eine Kommission beim Rat der
Anwaltskammer ein, die sich für den Schutz der Anwaltsrechte einsetzt. In
den letzten Jahren war er regelmäßig dabei, wenn die Polizei Kollegen
durchsuchte.
Alexander Pichowkin war auch einer der fünfzehn Anwälte, die den Anwalt
Michail Benjasch vor Gericht verteidigten. Benjasch wurde von der Polizei
in Krasnodar vor einem Jahr brutal festgenommen.
Später behaupteten die Behörden, er habe Polizisten gebissen und sich
selbst im Polizeiauto verletzt. Daraufhin haben 370 Anwälte aus 51 Regionen
eine Anrufung an die Föderale Anwaltskammer FPA unterschrieben, über 50
Anwälte legten Berufung gegen mit der Causa zusammenhängende
Gerichtsentscheidungen ein. Das macht den Fall in Russland einzigartig.
„Die Selbstverwaltungsorgane der Anwaltskammern fangen an, den
Rechtsverletzungen Beachtung zu schenken“, sagt Pichowkin, trotzdem sei es
nicht genug und “die Anwälte bleiben machtlos“. In letzter Zeit beobachtet
er einen positiven Trend, dass die aktive Anwaltsgemeinschaft sich
zusammenschließt. „Die Anwälte beginnen zu erkennen, dass wenn die Rechte
eines Anwalts verletzt werden, die Rechte aller Anwälte verletzt werden“,
sagt Pichowkin.
## Es gibt so viele Opfer, es reicht für alle
Nach einer Diskussion wie Anwaltsrechte gesetzlich besser geschützt werden
können, ergreift Pichowkin das Wort. Er steht auf und stellt sich vor das
Plenum. „Unter uns sind heute viele Kollegen, mit denen ich die Rechte von
Berufsgenossen zusammen verteidige. Sie haben unter den Ämtern gelitten“,
sagt er und holt mehrere Din-A4-Blätter mit Fotos darauf aus seiner Tasche.
„Das ist Dagir Chasawow, der sich wegen seiner Arbeit derzeit in
Untersuchungshaft befindet. Pichowkin zeigt ein Schwarz-Weiß-Foto und sagt:
„Das ist Andrej Zlomnow – er wird wegen Beleidigung eines Ermittlers
verfolgt, der sich erst drei Monate später daran erinnert hat. Lydia
Holodowitsch wurden Handschellen angelegt und sie wurde auf den Boden
gedrückt. Und nun wird ihr die Androhung von Gewalt vorgeworfen. Dmitri
Sotnikow wurde wie ein Kartoffelsack durch das Gerichtsgebäude geschleift.“
Mehrere Anwälte erheben sich von ihren Plätzen, Pichowkin gibt ihnen die
ausgedruckten Porträts, sie stellen sich nebeneinander auf.
Anwältin Karinna Moskalenko steht neben Pichowkin und ermutigt die anderen,
sich der Aktion anzuschließen: „Kollegen, leider gibt es viele Opfer. Die
Porträts reichen für alle.“
Kurz darauf stehen fast alle Teilnehmer der Konferenz auf dem Podium und
halten die Porträts von 12 Anwälten, um ihre Solidarität zu bekunden.
„Freiheit für Dagir Chasawow“, „Freiheit für Andrei Zlomnow“ – sie …
jedes Opfer beim Namen.
Ein paar Kollegen fotografieren die Aktion. Später [3][veröffentlicht]
Pichowkin diese Fotos auf Facebook mit Informationen über Fällen der 12
Anwälte. Die Verletzung der Anwaltsrechte sei nicht abstrakt, sagt
Pichowkin, es gebe Täter und Opfer. Man sollte sie kennen.
Aber wie können die russischen Anwälte, wie kann der Prager Club auf solche
Verletzungen reagieren? Zum Beispiel mit einem Gesetzesvorschlag. Eine
Arbeitsgruppe des Prager Clubs hat einen erarbeitet. Die Anwälte der Gruppe
wollen, dass es strafbar wird, die berufliche Tätigkeit der Anwälte illegal
einzuschränken. Ein Teil der Initiative stößt auf Kritik, da es Regeln
bereits gebe. Ein Anwalt sagt, die Strafprozessordnung sei „durch
Gesetzeshüter verdorben, die sie einfach ignorieren“.
Karinna Moskalenko hat volle lockige Haare und eine tiefe Stimme. Sie sagt,
ein Gesetzvorschlag allein werde nicht weiterhelfen. Sie habe einen
besseren Plan. Sie will sich an den Europarat wenden. Während sie langsam
redet, herrscht Stille im Vortragssaal. Moskalenko ist für ihre Erfolge vor
dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bekannt. Dort vertritt sie
seit 15 Jahren die Rechte von Russen.
Der Europäische Gerichtshof hat mehrfach geurteilt, dass die Rechte von
Anwälten in Russland verletzt wurden. Eine neue Arbeitsgruppe, die sich in
einer Pause an einem Stehtisch um Karinna Moskalenko sammelt, wird diese
Entscheidungen zusammenfassen und mit aktuellen Fällen der
Rechtsverletzungen ergänzen.
Dieses Dokument, ein sogennantes Memorandum, reicht Moskalenko beim
Ministerkomitee des Europarates ein. Das Ziel ist, den russischen Staat
dazu zu bringen, auf diese und neue Fälle zu reagieren. „Die russischen
Behörden müssen zeigen, wie sie die Rechts- und die
Strafverfolgungspraktiken geändert haben, damit sich solche Verstöße nicht
wiederholen“, sagt Moskalenko.
## Mit Gehirnerschütterung vor Gericht
Wie man gegen die Verweisung aus dem Gerichtssaal vorgehen kann, ist
Gegenstand einer gesonderten Sitzung in Prag. Die Teilnehmer diskutierten
verschiedene Empfehlungen: sich äußerst korrekt verhalten, in besonders
angespannten Fällen um eine Pause zu bitten und versuchen, die Sitzung zu
verschieben.
Die Anwälte reden auch noch einmal über den Fall des durch das Gericht
geschleiften Dmitri Sotnikow. Sie sind sich nicht einig, wie sie den Fall
beurteilen sollen. Eine Anwältin sagt, der Anwalt habe das Geschehene
selbst provoziert, als er sagte, er werde den Gerichtssaal nicht freiwillig
verlassen. “Er hätte eine Beschwerde schreiben können.“ Sie glaubt, der
Vorfall diene jetzt als schlechtes Vorbild für andere Richter.
„Ich würde Sotnikow nicht vorwerfen, dass er durch die Flure geschleppt
wurde“, sagte dazu Karinna Moskalenko. Auch die Föderale Anwaltskammer in
Moskau hat Sotnikows Verhalten für gerechtfertigt erklärt.
Dmitri Sotnikow war nicht mit in Prag, aber er sagt am Telefon, er hätte
laut dem Anwaltsgesetz den Raum nicht verlassen dürfen. Die Richterin
weigerte sich, ihn offiziell zu entfernen oder die Anhörung zu verschieben.
„Wenn die Entfernung nicht im Protokoll eingetragen wird, wird die Kammer
dies als Weigerung betrachten, Rechtshilfe zu leisten.“
Nachdem er wegen einer Gehirnerschütterung krank geschrieben wurde, ist
Dmitri Sotnikow vor einigen Tagen wieder nach Nowomoskowsk gefahren, nun
aber von Kollegen begleitet. Einen Befangenheitsantrag hat die Richterin
abgelehnt. Für sie war der Anwalt Sotnikow am 12. September gar nicht
anwesend. Deswegen gebe es auch keinen Interessenkonflikt.
15 Oct 2019
## LINKS
[1] https://www.facebook.com/irina.yatsenko.81/videos/2454832907939851/
[2] https://www.facebook.com/irina.yatsenko.81/videos/2454541241302351/
[3] https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=480482762575342&id=10…
## AUTOREN
Alina Ryazanova
## TAGS
Russland
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