# taz.de -- Proteste im Libanon: Das wahre Ende des Bürgerkriegs | |
> Das Proporzsystem im Libanon hat die arabischen Aufstände 2011 überlebt. | |
> Die aktuellen Proteste zeigen, dass es nicht mehr tragbar ist. | |
Bild: Die Menschenkette soll ein Zeichen setzen für die nationale Einheit | |
BEIRUT taz | Über konfessionelle Grenzen hinweg zeigen sich die | |
Libanes*innen 30 Jahre nach dem Bürgerkrieg vereint wie nie zuvor. Vom | |
sunnitisch dominierten Norden bis zum schiitischen Süden des Landes | |
bildeten am Sonntag 170.000 Menschen eine Menschenkette. | |
Statt Werbung zeigen Anzeigetafeln in Beirut die rot-weiße Nationalflagge | |
mit dem grünen Zedernbaum. Protestierende ersetzen Parteiflaggen mit ihr – | |
dem wichtigsten Symbol der Hunderttausenden Protestierenden, die gegen die | |
korrupte Regierung auf die Straße gehen. Die Zedernflagge hat den | |
öffentlichen Raum über alle Viertel- und Städtegrenzen hinweg erobert und | |
die Plakate mit den entsprechenden Parteilogos und den Fotos ihrer Anführer | |
verdrängt. | |
Es ist das erste Mal seit dem Bürgerkrieg, dass sich eine Mehrheit der | |
Libanes*innen [1][über ihre konfessionellen Grenzen hinwegsetzt]. 15 Jahre | |
lang bekämpften sich verschiedene Fraktionen im Bürgerkrieg, der das Land | |
entlang der Religionsgemeinschaften gespalten hat. Vor 30 Jahren, am 22. | |
Oktober 1989, beendete das Friedensabkommen von Ta'if die Kämpfe. | |
Seitdem ist die Gesellschaft anhand der 18 anerkannten | |
Konfessionszugehörigkeiten aufgeteilt: Sunniten, Schiiten, Maroniten, | |
Drusen oder Orthodoxe leben in ihren eigenen Vierteln oder Dörfern, haben | |
eigene Zivilorganisationen, Schulen, Pfadfinder*innengruppen und | |
Fußballteams. | |
## Kult um Märtyrer | |
Statt einen kollektiven Heilungsprozess anzustoßen, verhängten die | |
Machthabenden eine kollektive Amnestie ihrer Kriegsverbrechen. Schulbücher | |
behandeln die Ereignisse des Krieges nicht, seit 1932 gab es keinen Zensus | |
mehr. Alles mit der Begründung, das Ringen um Aussöhnung könnte neue | |
Konflikte erzeugen. Gleichzeitig sind die Erinnerungen an Gewalt und Krieg, | |
an Märtyrer und die Jahrestage von Siegen essentiell für die | |
politisch-religiösen Parteien und die Identitätsbildung innerhalb der | |
Community. | |
Das Wahlsystem im Libanon garantiert, dass die ehemaligen Milizenführer und | |
ihre aristokratischen Familien an der Macht bleiben. Die Rechtfertigung der | |
Fraktionen für ihre Proporzpolitik: Wenn jeder was vom Kuchen der Macht | |
abbekommt, könne es keinen neuen Bürgerkrieg geben. Mit diesem Argument | |
haben die Parteien alle Forderungen nach einer säkularen Demokratie | |
abgewehrt. So konnte die wirtschaftliche Elite die arabischen Aufstände | |
2011 überleben. | |
Doch nun rebellieren die Menschen gegen diese kontrollierende Strategie. | |
Sie sehen sich als Nation, die über konfessionelle Linien hinweg vereint | |
ist. Gemeinsam kämpfen sie gegen die Wirtschaftselite, die [2][zur eigenen | |
Bereicherung in die Taschen der Armen greift]. Die wirtschaftliche Elite | |
konnte nur überleben, weil Angriffe gegen sie aus der dünnen Mittelschicht | |
kamen. Bewegungen wie die gegen die Müllkrise von 2015 waren von | |
Intellektuellen in Beirut geführt, die nicht auf Patronage angewiesen | |
waren. | |
Dass die Protestierenden geeinigt auftreten, liegt an der unteren Klasse. | |
Vor allem die Armen und Arbeitssuchenden gehen auf die Barrikaden. Sie | |
können es sich nicht mehr leisten, für Wasser aus Flaschen und Strom aus | |
Generatoren zu bezahlen. Sie nutzen WhatsApp, um die horrenden | |
Telefonkosten einzusparen. Ihre Wut hat sich so weit aufgestaut, dass sie | |
sich nicht mehr von jenen leiten lassen, die sie bei Wahlen mit Geld oder | |
Benzingutscheinen bestechen. | |
Es ist die Arbeiterklasse, die das Spiel der Klientelpolitik mitspielen | |
muss. Nur über die konfessionell geprägte Gemeinschaft gibt es Schutz durch | |
lokale Anführer, Zugang zu Jobs, Sozialhilfen, politischen und sozialen | |
Rechten. Die Zivilehe gibt es nicht, auch Gewerkschaften sind dem | |
Klientelsystem unterworfen. Aufmüpfigen wurde Gewalt angedroht. Wer die | |
schiitischen Führungspersönlichkeiten bloßstellte, musste sich im Fernsehen | |
für die Äußerungen entschuldigen. | |
Die Rufe auf den Straßen nach dem Sturz aller Machthabenden markiert die | |
Emanzipation von diesem System. Die populärsten Gesänge schmähen alle | |
Führungspersönlichkeiten – ob den sunnitischen Ministerpräsidenten Saad | |
Hariri, den maronitischen Präsidenten Michel Aoun und seinen korrupten | |
Schwiegersohn Gebran Bassil oder den schiitischen Parlamentssprecher Nabih | |
Berri. | |
Die Rivalitäten des konfessionellen Systems machen es möglich, dass externe | |
Mächte ihren Einfluss stärken und die Fraktionen gegeneinander ausspielen. | |
Deutlich wurde das 2017, als das sunnitische Saudi-Arabien | |
Ministerpräsident Hariri zum Rücktritt zwang. Hariri war dem Königreich zu | |
kompromissbereit gegenüber der schiitischen Hisbollah, die vom Iran | |
gestützt wird. Erst Frankreichs Präsident Macron sorgte dafür, dass Hariri | |
seinen Rücktritt vom Rücktritt verkündete. | |
## Hisbollah bremst den Wandel | |
Am Dienstag beugte sich Ministerpräsident Hariri dem Druck der Straße. | |
Zuvor hatte er schnelle Wirtschaftsreformen angekündigt, die das Land | |
dringend braucht, um einen Staatsbankrott abzuwehren. Das war den | |
Protestierenden nicht genug. Sie misstrauen den Politikern, die seit Jahren | |
in ihre eigene Tasche gewirtschaftet haben. | |
Doch die pro-syrische Koalition aus der Partei des Staatspräsidenten Aouns, | |
der schiitischen Amal und der schiitischen Hisbollah sprach sich gegen den | |
Rücktritt aus. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah versucht mit allen Mitteln, | |
die Macht seiner Partei in der Regierung zu wahren. Auch Parlamentssprecher | |
Berri, ein ehemaliger Milizführer im Bürgerkrieg, schreckt vor Gewalt nicht | |
zurück. Hisbollah- und Amal-Anhänger hatten die Protestierenden zuletzt mit | |
Steinen, Tritten und Schlagstöcken aus der Innenstadt vertrieben. Nasrallah | |
warnte öffentlich, das Land falle in einen Bürgerkrieg zurück. | |
Doch von diesem Drohszenario lassen sich die Libanes*innen nicht mehr | |
einschüchtern. Die Protestierenden fordern weiter den Austausch der | |
politischen Köpfe und eine technokratische Übergangsregierung. 2019 ist das | |
Jahr, in dem der Bürgerkrieg wirklich beendet wurde. | |
1 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Gesellschaft-und-Spannungen-im-Libanon/!5631809 | |
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## AUTOREN | |
Julia Neumann | |
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