# taz.de -- Ausschreitungen im Libanon: Zwei Nächte der Gewalt | |
> Saad Hariri will in Zukunft nicht mehr an der Spitze der libanesischen | |
> Regierung stehen. Der Rückzug folgt auf gewalttätige Unruhen. | |
Bild: „Revolution“ auf dem Stirnband: Demonstrantin im Zentrum Beiruts verg… | |
BEIRUT taz | Der libanesische Interims-Ministerpräsident Saad Hariri will | |
in Zukunft keine Regierung mehr leiten. Am Dienstag [1][forderte er] | |
Präsident Michel Aoun auf, schnell bindende parlamentarische Konsultationen | |
abzuhalten, um einen neuen Ministerpräsidenten zu bestimmen. | |
Seit sechs Wochen protestieren hunderttausende Menschen im Libanon gegen | |
Korruption sowie für einen säkularen Staat und fordern den Rücktritt der | |
politischen Elite. Als Antwort hatte Hariri am 29. Oktober seinen Rücktritt | |
verkündet. Seitdem steht die Bildung einer Übergangsregierung aus. | |
Hariris Ankündigung vom Dienstag folgt auf gewalttätige Ausschreitungen in | |
den Nächten auf Montag und Dienstag. Unterstützer der schiitischen | |
Hisbollah und Amal-Partei hatten das zentrale Protestlager in Beirut | |
angegriffen, Demonstrierende an einer Straßenblockade in der Innenstadt | |
beschimpft und mit Steinen geworfen. | |
Die jungen Männer [2][fuhren auf Motorrädern] durch die Straßen und | |
bekundeten ihre Loyalität mit den Führern beider Parteien. An den | |
schiitischen Parlamentssprecher Nabih Berri gerichtet, riefen sie: „Mit | |
unserem Blut und unseren Seelen opfern wir uns für dich, Nabih“, wie die | |
Tageszeitung [3][Daily Star berichtet]. | |
Als die Situation eskalierte, stellten sich Sicherheitskräfte zwischen die | |
Lager. Nach Angaben des Zivilschutzes wurden bei den Auseinandersetzungen | |
mindestens zehn Demonstrant*innen verletzt. | |
Der UN-Sicherheitsrat in New York [4][hatte Montag angemahnt], die | |
Demonstrationen müssten ihren „pazifistischen Charakter“ behalten. Das | |
Gremium forderte dazu auf, zeitig eine neue Regierung zu bilden. | |
In der südlibanesischen Stadt Nabatäa versammelten sich Menschen am Montag | |
zu einer Mahnwache, um Berri und Hisbollah-Parteichef Hassan Nasrallah zu | |
unterstützen. Bei Kerzenschein gedachten sie zweier Menschen, die bei einem | |
Autounfall in der Nähe einer Straßensperre starben, die von Protestierenden | |
errichtet worden war. | |
## Hisbollah gegen die Protestbewegung | |
„Es sieht aus, als ob Amal und Hisbollah nach Opfern gesucht haben, um so | |
ihre übliche Strategie des Märtyrertums anzuwenden“, sagt die Beobachterin | |
Samah Karaki, die das Verhalten von Amal- und Hisbollah-Anhängern seit | |
Beginn der Proteste analysiert. | |
„Nasrallah wurde am Morgen von Protestierenden beleidigt“, so Karaki am | |
Dienstag. „Ein Organisator könnte grünes Licht gegeben haben, um ein Klima | |
des Schreckens zu verbreiten, um die Menschen davon abzuhalten, auf die | |
Straße zu gehen, bevor eine Regierung angekündigt wird, die den | |
Protestierenden nicht gefällt.“ | |
Die Hisbollah, die im Libanon sowohl als politische Partei wie auch als | |
schlagkräftige Miliz agiert, versucht die Protestbewegung zu stoppen, um | |
ihre derzeitige Machtposition innerhalb der Regierung zu halten. Sie hatte | |
Hariri als erneuten Kandidaten für den Posten des Ministerpräsidenten | |
unterstützt. | |
Die jüngsten Ausschreitungen erinnern an den Tag des Rücktritts Hariris. | |
Auch damals schlugen Hisbollah- und Amal-Anhänger auf friedlich | |
Protestierende ein und zerstörten deren Zelte. | |
## Antiisraelische Slogans | |
Einige der Hisbollah- und Amal-Anhänger skandierten am Montag zudem: „Samir | |
Geagea ist ein Zionist“, um auf die proisraelische Haltung der | |
rechtsorientierten Partei Libanesische Kräfte und deren Parteivorsitzenden | |
aufmerksam zu machen. Die Partei unterstützt die Proteste. | |
Die Hisbollah gilt in weiten Teilen des Landes als Widerstandsbewegung und | |
genießt hohes Ansehen für ihren Kampf gegen Israel im Libanonkrieg 2006, in | |
dessen Folge sich die israelische Armee aus dem Libanon zurückzog. | |
Einige ihrer Anhänger fühlten diesen Verdienst nicht wertgeschätzt, sagt | |
Karaki. „Die Protestierenden haben versucht, dieses Gefühl der Missachtung | |
zu korrigieren, indem sie in den Gesang einstimmten und zeigten, dass sie | |
gegen Israel verbündet sind.“ Der Libanon befindet sich mit dem | |
Nachbarstaat offiziell im Krieg. | |
## Wirtschaft am Boden | |
Unterdessen verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage im Libanon. Die | |
Staatsverschuldung in Höhe von 86 Milliarden US-Dollar entspricht [5][150 | |
Prozent] des Bruttoinlandsprodukts. Obwohl die Staatswährung offiziell noch | |
an den Dollar gekoppelt ist, verliert das libanesische Pfund inoffiziell an | |
Wert, weil die US-Dollarreserven im Land nicht ausreichen. | |
Der Libanon hängt stark von importiertem Benzin, Weizen und Medikamenten | |
ab, die in Dollar bezahlt werden müssen. Hariri schrieb in der | |
[6][Begründung zu seiner Entscheidung], er sehe die Lösung für die | |
wirtschaftliche Krise in einer Regierung von Spezialist*innen. Er habe aber | |
nicht den Rückhalt, diese Technokrat*innen zu benennen. | |
26 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/saadhariri/status/1199308774210723840 | |
[2] https://twitter.com/timourazhari/status/1199027140479590400 | |
[3] http://www.dailystar.com.lb/News/Lebanon-News/2019/Nov-26/496264-hezbollah-… | |
[4] https://unscol.unmissions.org/press-elements-security-council-meeting-resol… | |
[5] https://tradingeconomics.com/lebanon/government-debt-to-gdp | |
[6] https://twitter.com/saadhariri/status/1199308772386254848 | |
## AUTOREN | |
Julia Neumann | |
## TAGS | |
Libanon | |
Saad Hariri | |
Hisbollah | |
Protest | |
Libanon | |
Iran | |
Libanon | |
Libanon | |
Zehn Jahre Arabischer Frühling | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Regierungsbildung in Libanon: Ex-Minister will Experten-Regierung | |
Präsident Aoun hat den Universitätsprofessor Hassan Diab mit der | |
Regierungsbildung beauftragt. Das führte am Freitag zu neuen Protesten. | |
Aktivist über Krise im Libanon: „Die Parteien schützen das System“ | |
Die Protestbewegung im Libanon lässt nicht locker. Was die Menschen auf den | |
Straßen des Landes antreibt, erklärt der Aktivist Nizar Hassan. | |
Iranische Dominanz auf dem Prüfstand: Gemeint sind alle von ihnen | |
Seit Wochen kommt es im Irak und im Libanon zu Massendemos. Der | |
überkonfessionelle Protest wird auch dem Regime im Iran gefährlich. | |
Aufruhr im Libanon: Mit Kerzen gegen die Power-Cuts | |
Die Proteste im Libanon gehen in die vierte Woche, doch die Politiker | |
spielen auf Zeit. Neues Symbol der Korruption im Land: das | |
Elektrizitätsgebäude. | |
Massenproteste im Libanon: Wenn die Party zur Revolte wird | |
Maria Mouawad protestiert wie Tausende Libanes*innen gegen das korrupte | |
System. Der Regierungschef ist schon abgetreten. Das reicht ihr nicht. | |
Proteste im Libanon: Das wahre Ende des Bürgerkriegs | |
Das Proporzsystem im Libanon hat die arabischen Aufstände 2011 überlebt. | |
Die aktuellen Proteste zeigen, dass es nicht mehr tragbar ist. |