| # taz.de -- Aufruhr im Libanon: Mit Kerzen gegen die Power-Cuts | |
| > Die Proteste im Libanon gehen in die vierte Woche, doch die Politiker | |
| > spielen auf Zeit. Neues Symbol der Korruption im Land: das | |
| > Elektrizitätsgebäude. | |
| Bild: Lassen nicht locker: Demonstrantinnen am Donnerstag in Beirut | |
| Beirut taz | Das staatliche Elektrizitätsgebäude in Beirut ist dunkel, aber | |
| die Straße davor ist hell erleuchtet: Hunderte Libanes*innen halten ihre | |
| Handys hoch und leuchten mit den grellweißen Lampen der Telefone in den | |
| Abend. „Warum ist der Strom aus?“, rufen sie, „Revolution!“. Auf einem … | |
| sitzt ein Darbuka-Spieler, ein Mann heizt die Menge mit einer Trommel an, | |
| eine Frau schreit ins Megafon. | |
| „Wir protestieren gegen das Elektrizitätsproblem“, erklärt die bildende | |
| Künstlerin Maria Kassab. „Seit den Neunzigern wurde uns durchgehender Strom | |
| versprochen, aber bis heute gibt es Ausfälle. Wir zahlen zwei Rechnungen: | |
| für den Strom von der Regierung und für den Strom aus Generatoren.“ | |
| Kassab lebt in Mar Michael, einem schicken Beiruter Stadtteil. Doch auch | |
| hier fällt jeden Tag drei Stunden lang der Strom aus. In einigen Vororten | |
| Beiruts sind es sogar sechs Stunden oder mehr, die Menschen mit teuren und | |
| umweltschädlichen Generatoren überbrücken müssen. | |
| Kassab hält eine weiße Kerze in der Hand. „Das ist eine Erinnerung an den | |
| Krieg, bei dem wir in Kellern Zuflucht gesucht haben.“ Die heute 38-Jährige | |
| hat den libanesischen Bürgerkrieg als Kind miterlebt. „Seitdem hat sich | |
| nichts verändert“, schimpft sie. „Wir haben immer noch Wassermangel und | |
| Stromausfälle und dieselben Politiker sind an der Macht. Alles stagniert, | |
| wir haben das Gefühl, festzustecken.“ | |
| ## Mit den Generatoren wird Geld gemacht | |
| Durch den Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 wurde die Strom-Infrastruktur | |
| zerstört. Anschließend setzte die Regierung nicht auf Innovationen, sondern | |
| auf altbewährtes Erdöl. Doch die alten Kraftwerke halten der Nachfrage | |
| nicht mehr stand. Der Elektrizitätssektor weist ein jährliches Defizit von | |
| 2 Milliarden US-Dollar auf. Die Stromausfälle werden mit Dieselgeneratoren | |
| überbrückt – eine lohnende Einnahmequelle, von der private Anbieter | |
| profitieren und die die Politiker nicht versiegen lassen möchten. | |
| Vor dem Elektrizitätsgebäude in Beirut hält Selim Mourad eine weiße Laterne | |
| in die Höhe. „Um auf witzige Art zu zeigen, dass wir noch immer in | |
| prähistorischen Zeiten leben“, sagt der 31-jährige Lehrer und lacht. „Wir | |
| machen irre Rechnungen auf, wenn die Generatoren laufen: Wie viele | |
| Klimaanlagen können wir laufen lassen? Geht noch eine Waschmaschine? Oder | |
| ein Föhn zusammen mit dem Kühlschrank?“ Dann wird er ernst: „All das Geld, | |
| Millionen, Milliarden, die in die Elektrizitätswirtschaft geflossen sind, | |
| wo sind die hin? Es ist total korrupt“, sagt er. | |
| ## Die Mächtigen lassen sich Zeit | |
| [1][Seit nunmehr 23 Tagen] protestieren Hunderttausende Libanes*innen gegen | |
| die korrupte Regierung und fordern eine technokratische Übergangsregierung | |
| sowie eine baldige Neuwahl des Parlaments. Als Reaktion [2][trat | |
| Ministerpräsident Saad Hariri vergangene Woche von seinem Amt als | |
| Ministerpräsident zurück]. Daraufhin bat Präsident Michel Aoun ihn, | |
| kommissarisch vorerst im Amt zu bleiben. | |
| Am Donnerstag sagte Hariri, die Beratungen zur Ernennung eines neuen | |
| Ministerpräsidenten und des neuen Kabinetts seien noch nicht abgeschlossen. | |
| Die Konsultationen des Präsidenten mit den Abgeordneten zur Wahl eines | |
| neuen Ministerpräsidenten sind der erste Schritt, um eine neue Regierung zu | |
| bilden. Es gibt jedoch keine verfassungsmäßige Frist für diese Sitzungen. | |
| Die Staatsführung lässt sich Zeit, die Proteste gehen weiter. | |
| Die 21-jährige Jurastudentin Lea Sbaite ist seit dem ersten Tag dabei. Sie | |
| war in der Innenstadt vor dem Regierungsgebäude und hat Straßen blockiert. | |
| Nun lehnt sie am gelben Zaun vor dem Elektrizitätsgebäude und schreit aus | |
| vollem Hals: „Wir protestieren, weil unser Land sehr korrupt ist. Alle | |
| Politiker nehmen die Steuern, die wir zahlen, und stecken sie in ihre | |
| eigene Tasche. Sie geben uns nicht mal Strom. Wir wollen unsere | |
| Grundrechte: Elektrizität, medizinische Versorgung, kostenlose Bildung.“ | |
| Eine positive Veränderung sieht Sbaite bereits: „Es ist das erste Mal, dass | |
| ein Protest uns alle vereint. Im Libanon haben wir 18 verschiedene | |
| religiöse Gruppen, und das ist das erste Mal, dass Christen oder Muslime | |
| sich nicht um die Religion scheren, sondern zusammen für ein besseres Land | |
| kämpfen.“ | |
| 8 Nov 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julia Neumann | |
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