# taz.de -- Proteste gegen Netanjahu: Israels Regierung gerät unter Druck | |
> Gegner des Kabinetts Netanjahu gehen wieder auf die Straße, der Rückhalt | |
> für den Ministerpräsidenten sinkt. Die USA intensivieren diplomatischen | |
> Einsatz. | |
Bild: Israelis fordern am Samstag vor Netanjahus Residenz in Jerusalem seinen R… | |
BERLIN taz | Sie sind zurück in den Straßen, die israelischen | |
Protestierenden, die mehr als ein halbes Jahr lang gegen die | |
[1][Justizreform] anriefen. Anfang Oktober wurden die Proteste durch den | |
großangelegten Terrorangriff der radikalislamischen Hamas auf Israel jäh | |
unterbrochen. Nun sind sie mit aktualisierten Botschaften zurück, die die | |
Wut und den Schmerz über die Ereignisse des 7. Oktobers mit sich tragen. | |
„Bibi muss weg“, riefen Tausende vor der Residenz von Premierminister | |
Benjamin Netanjahu in Jerusalem. Einige durchbrachen die Polizeiabsperrung. | |
Es kam zu Rangeleien. | |
Auch im Zentrum von Tel Aviv versammelten sich Tausende. „Bring them home“ | |
stand auf ihren Schildern, mit denen sie forderten, dass die Rückkehr der | |
von der Hamas [2][in den Gazastreifen entführten Geiseln] absolute | |
Priorität sein müsse. Kurz nach dem Ende der Demonstration ertönten die | |
Sirenen, die Raketenangriffe aus dem Gazastreifen ankündigten. | |
[3][Niemand weiß, wie und wann der Krieg enden wird.] Trotzdem – oder | |
deswegen – glauben die meisten Israelis, dass Netanjahus politisches Ende | |
unmittelbar bevorsteht. Auch Gayil Talshir, Politikwissenschaftlerin an der | |
Hebräischen Universität Jerusalem und Netanjahu-Expertin, hat daran keinen | |
Zweifel: „Die Regierung wird sich nicht mehr lange halten können“, sagt sie | |
am Telefon. | |
Umfragen zeigen, dass hauptsächlich Netanjahu für das katastrophale | |
Scheitern am 7. Oktober verantwortlich gemacht wird. Die Umfragewerte für | |
die israelische Regierung befinden sich im freien Fall. Die Likud-Partei | |
von Regierungschef Netanjahu erhielte bei Neuwahlen von ihren aktuell 32 | |
nur noch 19 Sitze. Die ultrarechten Parteien kämen nur noch auf vier oder | |
fünf Sitze. Aktuell besetzen sie 14. | |
## Regierung lasse Opfer im Stich | |
Es sind längst nicht nur Linke, die ihren Unmut laut zeigen. Die heftige | |
Kritik kommt von den Familien der am 7. Oktober Getöteten oder Entführten. | |
Er kommt von den Menschen, die aus Sorge vor einem [4][Kriegseintritt der | |
Hisbollah] von der Nordgrenze Israels evakuiert wurden und die von der | |
Regierung so gut wie keine Unterstützung erhalten. Von Menschen, die die | |
Massaker miterlebten und nun von der Regierung alleingelassen werden. | |
Harsche Kritik kommt auch aus Netanjahus eigenen Reihen: Am 1. November | |
trat der Vorsitzende eines Regionalrats, dessen Gebiet an den Gazastreifen | |
grenzt, öffentlich aus der Likud-Partei aus und forderte andere | |
Likud-Mitglieder auf, es ihm nachzutun. Hilfe für die Evakuierten aus den | |
Ortschaften nahe dem Gazastreifen kommt bislang über private Spenden und | |
Organisationen, nicht von der Regierung – staatliche Unterstützung durch | |
die Regierung sei auch nicht in Sicht. | |
Politikwissenschaftlerin Talshir rechnet mit einem sehr baldigen Ende der | |
Regierung, sobald sich die Situation in Gaza in irgendeiner Weise | |
stabilisiert hat – unter der Voraussetzung, dass die Hisbollah nicht in den | |
Krieg einsteigt. Sie geht davon aus, dass diejenigen, die die | |
parlamentarischen Möglichkeiten für einen Regierungswechsel vorantreiben, | |
nicht bis zum Ende des Krieges damit warten werden. Auch deshalb, weil | |
allen klar ist, dass Netanjahu Interesse an einem langen Krieg hat. Er | |
weiß, was ihn danach erwartet. | |
Denkbar wäre der Sturz der Regierung durch ein konstruktives oder | |
destruktives Misstrauensvotum. Doch für genauso möglich hält es Talshir, | |
dass die Proteste so gigantisch werden, dass sie Netanjahu förmlich aus dem | |
Amt zwingen, auch wenn sich niemand einen freiwilligen Abgang Netanjahus | |
vorstellen kann. Die einzige Option, die kursiert: Netanjahu könnte mit | |
einem Deal in seinem Gerichtsverfahren möglicherweise um eine Haftstrafe | |
herumkommen und so zum Rücktritt überredet werden. | |
Und nicht nur innenpolitisch wächst der Druck. US-Präsident Joe Biden soll | |
Netanjahu im letzten Gespräch dazu aufgefordert haben, sich zu überlegen, | |
welche Lehren er seinem Nachfolger weitergeben wolle. Netanjahus Zeit laufe | |
ab. | |
## Diplomatische Bemühungen laufen auf Hochtouren | |
Die USA haben ein Interesse daran, die Stabilität im Nahen Osten | |
wiederherzustellen und den Einfluss [5][Irans] und Russlands | |
zurückzudrängen. Ein wichtiger Schritt dafür wäre ein | |
Normalisierungsabkommen zwischen Saudi-Arabien und Israel. Angesichts des | |
Krieges hat Saudi-Arabien dies eine Woche nach Kriegsausbruch gestoppt. | |
Dass mit Netanjahus ultrarechter Regierung nicht die Schritte gegangen | |
werden können, die dem Nahen Osten Stabilität bringen, wird immer | |
deutlicher. Das rechtsextreme Kabinettsmitglied Amichai Eliyahu sorgte am | |
Sonntag mit einer Äußerung im Radio für internationalen Aufruhr: Er halte | |
das Abwerfen einer Atombombe über Gaza für eine Option. Netanjahu | |
suspendierte Eliyahu bis auf Weiteres von sämtlichen Regierungssitzungen. | |
US-Außenminister Antony Blinkens diplomatische Bemühungen laufen derweil | |
auf Hochtouren. Bereits zum dritten Mal innerhalb eines Monats ist er in | |
der Region unterwegs. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu drängte er dazu, | |
eine vorübergehende „humanitäre Pause“ zuzulassen und die palästinensisc… | |
Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu schützen. Forderungen von | |
Vertreter*innen arabischer Länder nach einem sofortigen | |
Waffenstillstand wies er bei einem Treffen in Amman am Sonntag zurück. Ein | |
Waffenstillstand würde der Hamas nur die Möglichkeit geben, „sich neu zu | |
formieren“ und zu wiederholen, was sie am 7. Oktober getan hat, begründete | |
Blinken seine Ablehnung. | |
Die Lösung für das im Gazastreifen entstehende Machtvakuum – sollte es | |
Israel gelingen, die Hamas zu entmachten – sieht Blinken in einer | |
Machtübernahme der Palästinensischen Autonomiebehörde unter Mahmoud Abbas | |
im Gazastreifen. Ein Treffen zwischen Blinken und Palästinenserpräsident | |
Abbas endete am Sonntag zwar ohne gemeinsames Statement. Der | |
palästinensischen Nachrichtenagentur WAFA zufolge, dem Sprachrohr der | |
Autonomiebehörde, habe Abbas jedoch erklärt, bereit zu sein, Verantwortung | |
im Gazastreifen zu übernehmen, wenn dies eine umfassende politische Lösung | |
einschließt. Blinkens Sprecher Matthew Miller sagte, die beiden hätten auch | |
über die Notwendigkeit gesprochen, „die extremistische Gewalt gegen | |
Palästinenser“ im Westjordanland zu stoppen. Seit Ausbruch des Krieges | |
haben Angriffe extremistischer Siedler im Westjordanland weiter zugenommen. | |
Medienberichten zufolge hat der Sicherheitsdienst Shin Bet die Regierung | |
vor einem Ausbruch von Gewalt im Westjordanland gewarnt, wenn die Gewalt | |
durch Siedler, die innerhalb der Regierung Rückhalt genießen, nicht | |
eingedämmt wird. | |
Den Rückhalt in der Öffentlichkeit, den Netanjahus Regierung verliert, | |
gewinnt den Umfragen zufolge der zentristische Benny Gantz. Die rechten | |
Extremisten verlieren an Boden. Es könnte der Beginn für gute Nachrichten | |
aus dem Nahen Osten sein. | |
5 Nov 2023 | |
## LINKS | |
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[5] /Repression-in-Iran/!5965365 | |
## AUTOREN | |
Judith Poppe | |
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