# taz.de -- Fünf Szenarien für den Gazastreifen: Gibt es eine Lösung? | |
> Gazas Zukunft ist seit dem Beginn von Israels Offensive ungewiss. In | |
> Verhandlungen und in einem Arbeitspapier zeichnen sich aber Szenarien ab. | |
Bild: PalästinenserInnen im Flüchtlingslager Jabaliya im Norden Gazas mitten … | |
[1][Der Gazakrieg geht in die fünfte Woche] – und bislang hat Israel keine | |
Pläne für den „Tag danach“ verkündet, wenn die Hamas tatsächlich zerst�… | |
sein sollte. Rollen die Panzer zurück ins israelische Kernland? Oder | |
springen internationale Truppen der Armee zur Seite, um den | |
Küstenstreifen zu kontrollieren? [2][Und wer soll Gaza regieren?] | |
Er gehe davon aus, dass nach dem Terrorüberfall der Hamas aktuell eine Art | |
Brainstorming stattfinde, sagt der Analyst Michael Milshtein, der einst | |
beim israelischen Militärgeheimdienst die Palästinaabteilung leitete. | |
Sicher weiß auch er nur: „Gaza wird nach diesem Krieg fast vollständig | |
ruiniert sein.“ | |
Doch es gibt bereits Aussagen, die auf mögliche Szenarien schließen lassen: | |
Verteidigungsminister Joaw Gallant hat ein „neues Sicherheitsregime im | |
Gazastreifen“ in Aussicht gestellt, Außenminister Eli Cohen machte | |
Anspielungen auf ein geschrumpftes Gaza: „Am Ende dieses Krieges wird sich | |
das Gebiet verkleinern.“ | |
„Vor einem Monat“, sagte Milshtein der taz, „haben wir verstanden, dass | |
wir nicht mehr so tun können, als könnten wir unsere Beziehungen mit der | |
arabischen Welt normalisieren, ohne uns mit der palästinensischen Arena zu | |
beschäftigen.“ Selbst „historische Entscheidungen“, die neben Gaza auch … | |
Westjordanland betreffen, hält er für möglich. | |
## Status quo | |
Vorstellbar ist zunächst ein verschärfter Status quo, also eine | |
intensivierte Abriegelung des Gazastreifens. Die „Zerstörung der Hamas“ | |
würde möglicherweise nicht erreicht, stattdessen würde die | |
Terrororganisation deutlich geschwächt, bevor sich Israel aus dem Gebiet | |
zurückzöge. Die Bewohner*innen wären mehr noch als bislang auf | |
humanitäre Hilfe angewiesen, und kaum jemand könnte Gaza noch verlassen, | |
auch nicht temporäre Arbeiter*innen und Schwerkranke. Israel würde die | |
Grenze noch stärker sichern als bisher. | |
Cohens Aussage zu einem geschrumpften Gaza lässt vermuten, dass Israel eine | |
breite Pufferzone errichten wird. Zumindest einige Jahre lang würde Ruhe | |
herrschen. Die Perspektivlosigkeit im Gazastreifen allerdings, wo fast 70 | |
Prozent der Menschen unter 30 Jahre alt sind, würde sich noch verschärfen, | |
der Hass auf Israel noch wachsen. | |
## Besetzung Gazas | |
Eine dauerhafte Militärbesatzung und Wiederbesiedlung des Gazastreifens | |
wurde [3][aus Israels rechtsreligiösem Lager] schon vor dem Krieg | |
gefordert. „Es gibt keinen Zweifel, dass Gaza Teil Israels ist, es wird der | |
Tag kommen, an dem wir dorthin zurückkehren“, sagte Orit Strook, die als | |
Ministerin für die Siedlungen im Westjordanland zuständig ist. | |
Der Analyst Milshtein hält dieses Szenario allerdings für unwahrscheinlich. | |
Eine Besatzung würde enorm kostspielig werden für Armee und Gesellschaft. | |
„Die meisten Israelis, sagen wir 90 Prozent, wollen eine komplette, harte | |
Trennung von den Palästinensern.“ Eine Wiederbesiedlung Gazas sei kaum | |
durchsetzbar, bedeutete dies doch statt Trennung eine enge räumliche | |
Koexistenz. | |
## Vertreibung | |
Eine harte Trennung wäre in einem Szenario gegeben, das viele | |
Palästinenser*innen befürchten. Es wäre die düsterste aller Optionen: | |
Die Bevölkerung Gazas würde komplett vertrieben – nach Ägypten und in | |
andere Staaten. | |
René Wildangel, Nahostexperte und Dozent an der Hellenic University in | |
Thessaloniki, weist auf ein Dokument des israelischen | |
Geheimdienstministeriums hin, [4][das vergangene Woche von israelischen | |
Medien öffentlich gemacht wurde]. In dem Papier wird tatsächlich die Option | |
durchgespielt, die gesamte Gazabevölkerung von 2,3 Millionen zu | |
„evakuieren“. Das Büro von Premier Netanjahu spielte die Bedeutung des | |
Dokuments herunter; es handele sich nur um ein Arbeitspapier. | |
Wildangel bleibt skeptisch: „Das Szenario einer Evakuierung – gleich | |
Vertreibung – hätte dramatische Folgen: weitreichende Zerstörungen in Gaza | |
und riesige Zeltstädte in Ägypten. Ich befürchte, dass dieses Szenario | |
nicht komplett unrealistisch ist.“ Der Sicherheit Israels wäre damit | |
allerdings nicht gedient: „Das würde riesiges Leid verursachen und damit | |
auch entsprechend Hass auf sich ziehen.“ | |
„Eine totale Illusion“ seien solche Überlegungen, sagt Milshstein. Kein | |
Land werde die Palästinenser*innen aufnehmen. Außerdem dürfe man die | |
Radikalität der Hamas nicht unterschätzen. „Die Hamas-Mitglieder sind | |
bereit, sich selbst, ihre Familien, ihre Nachbarn zu opfern.“ Sie würden | |
bis zum Tod kämpfen, statt Gaza zu verlassen, ist sich Milshtein sicher. | |
## Blauhelme | |
Denkbar ist auch ein Engagement anderer Staaten. Nach einem Gipfel mit | |
mehreren arabischen Staaten im Oktober in Kairo sprach | |
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock von Erfahrungen im Westbalkan. Dort | |
wurde 1999 das Kosovo unter UN-Verwaltung gestellt. | |
Auch der Gazastreifen könnte unter internationaler Verwaltung, mitsamt | |
internationaler Truppenpräsenz kommen. Dies müsste eine Entwaffnung | |
militanter Gruppen garantieren. | |
Michael Milshtein ist skeptisch: „In Israel haben wir sehr schlechte | |
Erfahrungen mit internationalen Truppen“, sagt er. Die UN-Mission im | |
Südlibanon beispielsweise sei extrem schwach. Israel müsste im Rahmen einer | |
internationalen Lösung also darauf bestehen, militärisch die Kontrolle zu | |
behalten. | |
Vor allem aber sei eine UN-Präsenz kaum durchsetzbar: „Es bräuchte ein | |
Mandat des UN-Sicherheitsrats für eine robuste internationale Truppe“, sagt | |
Wildangel. Im Zweifelsfall müssten die Soldaten Gewalt anwenden dürfen, | |
wozu ein Mandat nach Kapitel 7 der UN-Charta nötig wäre. „Das ist vor dem | |
Hintergrund des blockierten Sicherheitsrats so gut wie unmöglich.“ | |
## Rückkehr der PA | |
Für wahrscheinlicher hält Wildangel eine Zustimmung der Konfliktparteien zu | |
einer verhandelten Lösung. In diesem Szenario würden sich arabische Länder | |
bereit erklären, Truppen für einen Übergangszeitraum zu entsenden. Jeder | |
Staat, erklärt er, könne die Staatengemeinschaft zu Missionen einladen. In | |
diesem Fall wäre die Zustimmung Israels und der Palästinensischen | |
Autonomiebehörde (PA) nötig, die 1993 geschaffen und 2007 von der Hamas aus | |
Gaza verjagt wurde, die aber bis heute – mit begrenzter Macht – im | |
Westjordanland regiert. | |
Das Problem: „Die PA ist in einem katastrophalen Zustand, personell, | |
strukturell und finanziell“, sagt Wildangel. „Sie ist kaum in der Lage, die | |
wenigen Gebiete im Westjordanland, die ihr noch geblieben sind, zu | |
kontrollieren.“ Internationale Partner hätten die Behörde „verhungern | |
lassen“, da niemand mehr wirklich an den palästinensischen Staat glaubte, | |
der im Rahmen einer Zweistaatenlösung entstehen sollte. Vor allem aber | |
fehle der PA die demokratische Legitimation. Die letzten Wahlen fanden 2006 | |
statt. | |
Außerdem, schränkt Wildangel weiter ein, könne die PA nur wieder eine Rolle | |
spielen, wenn auch Israel Interesse zeige, dass diese Verwaltung | |
funktioniere und auch ein neuer politischer Prozess in Gang komme. „Man | |
darf nicht vergessen, dass in Israel immer noch eine Regierung unter | |
Netanjahu an der Macht ist, der seit Jahrzehnten dafür steht, dass es keine | |
Zweistaatenlösung gibt und dass kein palästinensischer Staat entsteht.“ | |
3 Nov 2023 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Jannis Hagmann | |
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