| # taz.de -- Prekär beschäftigte Lkw-Fahrer: Festgefahren im Arbeitskampf | |
| > Schärfere Regeln auf EU-Ebene und das Lieferkettengesetz sollten | |
| > Ausbeutung von Lkw-Fahrern verhindern. Die Wirklichkeit sieht anders aus. | |
| Bild: Erfolgreicher Hungerstreik für mehr Lohn: Raststätte Gräfenhausen im S… | |
| Raststätte Fichtenplan Süd taz Die Vorhänge sind zugezogen in den meisten | |
| Führerkabinen an diesem frühen Freitagnachmittag. Dominika Adamczak klopft | |
| trotzdem an der Tür eines der rund 50 Lkws, die auf dem Rastplatz | |
| Fichtenplan Süd nahe Berlin stehen. Keine Reaktion. Sie klemmt einen Flyer | |
| in den Türgriff und versucht es am nächsten Wagen. Wieder keine Reaktion. | |
| Beim nächsten wird der Vorhang zurückgezogen, sie winkt mit dem Flyer, der | |
| Fahrer schüttelt den Kopf, zieht den Vorhang wieder zu. Der nächste Fahrer | |
| kurbelt das Fenster herunter. | |
| Mitarbeiter*innen der Beratungsstelle Faire Mobilität, von Verdi und | |
| der European Trade Federation wollen [1][Lkw-Fahrer über ihre Rechte | |
| aufklären] und nebenbei etwas über ihre Arbeitsbedingungen erfahren. Rund | |
| 200 Raststätten hat die Faire Mobilität seit 2017 besucht, das sind etwa 30 | |
| pro Jahr. Mit etwa 10.000 Fahrern haben ihre Berater*innen dabei | |
| gesprochen. Die meisten bestätigen, was die Gewerkschafter*innen | |
| sowieso schon wissen: Die Regeln, die die Europäische Union mit ihrem | |
| Mobilitätspaket vor über zwei Jahren beschlossen hat, werden kaum | |
| eingehalten. | |
| Die Trucker fahren meist für osteuropäische Speditionen, im Auftrag großer | |
| deutscher und westeuropäischer Unternehmen. Sie bringen Waren vom | |
| Hersteller zum Großhandel oder zu Baumärkten und Möbelgeschäften. Viele von | |
| ihnen sind wochen- oder monatelang unterwegs, bevor sie wieder nach Hause | |
| fahren können. | |
| Im Frühjahr wurden die Arbeitsbedingungen der Fahrer Gegenstand | |
| öffentlicher Debatten: Zunächst im März und April, dann noch einmal von | |
| Juli bis Ende September streikten Fahrer der polnischen | |
| [2][Unternehmensgruppe Mazur auf dem hessischen Autobahnrastplatz | |
| Gräfenhausen], weil ihnen ihr Lohn nicht ausgezahlt worden war. Diese Form | |
| der Ausbeutung ist allerdings kein Ausnahmephänomen, wie Gewerkschafter | |
| immer wieder betonten. Sie sei vielmehr die Regel. | |
| Am Freitagnachmittag auf dem Rastplatz bei Berlin sind die | |
| Berater*innen in Teams von drei oder vier Personen mit | |
| unterschiedlichen Sprachkenntnissen unterwegs: Polnisch, Russisch, | |
| Rumänisch, Ukrainisch. Obwohl es noch heller Tag ist, ist kaum ein Fahrer | |
| draußen zu sehen. Es sind fünf Grad, der Wind weht eisig, in den | |
| Führerhäusern ist es wärmer. Außerdem schlafen viele: Sie fahren nachts und | |
| ruhen sich tagsüber aus. | |
| Für Arbeitnehmer eines deutschen Unternehmens gelten der deutsche | |
| Mindestlohn sowie alle weiteren hiesigen Arbeitsrechte, etwa zur | |
| wöchentlichen Stundenzahl und zu Urlaubsregelungen. Sitzt das Unternehmen | |
| in Polen oder Litauen, muss es jeweils den Mindestlohn des Landes zahlen, | |
| in dem der Lkw gerade fährt. Das soll über digitale Fahrtenschreiber | |
| überprüft werden können. Fahrer, die keine EU-Bürger sind, brauchen | |
| zusätzlich eine Arbeitsgenehmigung. | |
| ## Übernachtung im Lkw verboten | |
| Um die Ausbeutung ausländischer Fahrer auf europäischen Straßen zu | |
| verhindern, hat die EU-Kommission 2021 das sogenannte Mobilitätspaket | |
| verabschiedet: Fahrer sollen nicht mehr im Lkw übernachten, alle vier | |
| Wochen nach Hause fahren können und alle acht Wochen müssen die Lkws zum | |
| Firmensitz zurückgebracht werden. | |
| Dass die Realität eine andere ist, zeigen die Raststättenbesuche. Ein Mann | |
| in kurzen Hosen steigt aus einem der Lkws und geht in Richtung | |
| Toilettencontainer. Dominika Adamczak spricht ihn an. Er komme aus Panjabi | |
| in Indien, erzählt er auf Englisch, habe drei Jahre in Dubai gearbeitet, | |
| bevor er nach Polen ging. Dort habe er fünf Monate auf seine Papiere warten | |
| müssen und sei nun seit zehn Tagen unterwegs. Er fahre und schlafe im Lkw. | |
| Sein Lastwagen sei sein Büro und sein Zuhause, sagt er. | |
| Sein Arbeitgeber habe ihm 1.000 Złoty – etwa 225 Euro – für Lebensmittel | |
| gegeben, eine Anzahlung auf seinen Lohn. Umgerechnet 1.500 Euro solle er | |
| pro Monat bekommen. Das sind, geht man von einer 40-Stunden-Woche aus, 9,37 | |
| Euro pro Stunde. Das liegt weit unter dem deutschen Mindestlohn von 12 | |
| Euro. | |
| Die Spanne dessen, was die Fahrer auf dem Rastplatz nach eigenen Angaben | |
| verdienen, ist weit. Von 1.500 Euro sprechen die einen, von 3.000 Euro die | |
| anderen. Manche bekommen Geld pro gefahrenem Kilometer – was nicht rechtens | |
| ist –, andere eine Mischung aus Stunden- und Kilometerlohn. Manche haben | |
| ein Monatsgehalt, andere einen Tageslohn. | |
| „Denjenigen, die am verletzlichsten sind, drängen die Arbeitgeber die | |
| schlechtesten Arbeitsbedingungen auf“, sagt Michael Wahl, | |
| Branchenkoordinator Internationaler Transport bei der Fairen Mobilität, der | |
| den Einsatz auf der Rastplätze am Freitag leitet. Wer in einem fremden Land | |
| arbeitet, kann Verträge oft nicht lesen, weil die Sprachkenntnisse fehlen. | |
| Viele kennen die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht, haben keine | |
| Netzwerke, und man kann mit einem Arbeitsvisum auch nicht einfach den Job | |
| wechseln. „Wir gehen seit sechs Jahren auf Rastplätze, die Bedingungen auf | |
| der Straße haben sich für viele immer weiter verschlechtert“, sagt Wahl. | |
| ## Tricks der Lohndrücker | |
| Oft wenden die Arbeitgeber Tricks an, um die Löhne zu drücken. Eigentlich | |
| müssen sie die Kosten für Parkplätze, die Benutzung von Toiletten, Duschen | |
| oder Unterkünften auf den Rastplätzen bezahlen. Meist jedoch ziehen sie das | |
| Geld vom Lohn ab, statt es draufzuschlagen. | |
| Und nicht selten kommt es vor, dass das Geld erst Monate später oder gar | |
| nicht gezahlt wird – wie dieses Jahr bei der polnischen Spedition Mazur. | |
| Dass Lkw-Fahrer sich wehren, kommt so gut wie nie vor. Das liegt unter | |
| anderem daran, dass sie kaum organisiert sind und oft die Verträge, die | |
| ihnen vorgelegt werden, nicht verstehen oder nicht genug Zeit haben, um sie | |
| zu lesen, bevor sie sie unterschreiben. Umso ungewöhnlicher waren die | |
| beiden wilden Streiks in Gräfenhausen – die jeweils mit einem Erfolg für | |
| die Fahrer endeten. | |
| Im April zahlte Mazur rund 300.000 Euro an etwa 60 Trucker. Die Fahrer | |
| machten Druck auf die an der Lieferkette beteiligten Firmen – große | |
| Unternehmen wie DHL, Bauhaus, Obi und VW. Da seit Anfang 2023 das | |
| Lieferkettensorgfaltsgesetz gilt, sind Unternehmen mit mindestens 3.000 | |
| Beschäftigten in Deutschland dazu verpflichtet, bei ihren Zulieferern auf | |
| die Einhaltung der Menschenrechte zu achten. | |
| Zuständig für die Einhaltung des Gesetzes ist das Bundesamt für Wirtschaft | |
| und Ausfuhrkontrolle (Bafa). Das berief Mitte Oktober einen Krisengipfel | |
| ein. Anschließend erklärte Bafa-Chef Torsten Safarik, in Gräfenhausen seien | |
| rund 1.000 Dokumente ausgewertet worden, und die Ergebnisse hätten ihn | |
| „negativ überrascht“. Das Bafa habe 58 Unternehmen gefunden, die unter das | |
| Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz fallen. Nach dem ersten Streik in | |
| Gräfenhausen hätte den Firmen Mazur bekannt sein und sie hätten die | |
| Zusammenarbeit unterbinden müssen. Das Bafa hat Ermittlungen aufgenommen. | |
| Auch ein zweiter Streik in Gräfenhausen im September endete mit einem | |
| Erfolg für die Fahrer. Mazur sagte zu, seine Anzeigen gegen die Trucker | |
| wegen Erpressung und Unterschlagung der Lkw zurückzunehmen. Zusammen | |
| erhielten die Fahrer außerdem rund 500.000 Euro – allerdings nicht von | |
| ihrem Auftraggeber Mazur, und die Zahlung wurde auch nicht als ausstehender | |
| Lohn deklariert. Deutsche Unternehmen hätten sich, so Safarik, „aus | |
| humanitären Gründen“ zu einer „Spende“ bereiterklärt. | |
| ## Ein stumpfes Schwert | |
| Der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke beschäftigt sich als Mitglied im | |
| Sozialausschuss viel mit prekären Arbeitsverhältnissen, auch im | |
| Transportwesen. „Die Unternehmen haben nicht gezahlt, weil sie durch das | |
| Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz dazu verpflichtet worden wären. Sondern | |
| weil sie wollten, dass das Thema aus der Öffentlichkeit verschwindet“, sagt | |
| er der taz. Das Lieferkettengesetz sieht er als stumpfes Schwert an. | |
| Unternehmen wie Mazur könnten weitermachen wie bisher, da es keine | |
| wirksamen Mittel gebe, um die Regeln, die das Mobilitätspaket geschaffen | |
| habe, auch durchzusetzen. | |
| Daher setzt Radtke auch nicht auf [3][das EU-Lieferkettengesetz], zu dem | |
| die Verhandlungen diese Woche weitergehen. Er hofft, dass die Europäische | |
| Arbeitsbehörde ELA für bessere Arbeitsbedingungen in der Branche sorgt. | |
| Diese relativ junge Behörde soll 2024 evaluiert werden. Das sieht Radtke | |
| als Chance an, um ihr neue Kompetenzen zu erteilen. Radtke will, dass die | |
| ELA künftig selbst ermitteln kann und mit anderen EU-Behörden wie Europol | |
| und Eurojust zusammenarbeitet. „Die Zustände im Transportwesen sind | |
| verheerend“, sagt er. „Wir sind aber schon weit gekommen und auf einem | |
| guten Weg, das abzuschaffen.“ | |
| Zudem wollen Radtke und die SPD-Europpolitikerin Gabriele Bischoff, dass | |
| die EU Beratungsangebote für mobile Arbeitnehmer*innen in ganz Europa | |
| finanziert. „Um den Fachkräftemangel zu beheben, setzt Europa gerade stark | |
| auf die Anwerbung von Arbeitskräften aus Drittstaaten. Dabei muss | |
| verbindlich sichergestellt werden, dass diese Arbeitnehmer*innen auch | |
| fair behandelt und entlohnt werden“, sagt Bischoff. | |
| Ein paar Schritte vor, ein paar zurück: Auf taz-Anfrage erklärte die | |
| Staatsanwaltschaft Darmstadt, bisher seien die Anzeigen von Mazur gegen die | |
| Fahrer nicht zurückgezogen worden. Mehrere Länder, darunter Litauen und | |
| Rumänien, haben gegen Teile des Mobilitätspakets geklagt. Sie wollen die | |
| Pflicht, dass die Lkws alle acht Wochen zurück zum Firmensitz gebracht | |
| werden muss, kippen. Leerfahrten lohnten sich nicht. Vergangene Woche gab | |
| der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs den klagenden Ländern | |
| recht. Das Urteil wird Anfang 2024 erwartet. | |
| 21 Nov 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Johanna Treblin | |
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