# taz.de -- Polizeigewalt in 70er-Filmen: Das Gesetz ist verrückt | |
> Vor 50 Jahren kamen mit „Dirty Harry“ und „French Connection“ zwei | |
> Cop-Thriller ins Kino. Heute wirken sie wie die Vorboten reaktionärer | |
> Politik. | |
Bild: „Dirty Harry“: kritisiert für sein problematisches Weltbild | |
In hohem Bogen fliegt der gelbe Polizeistern durch die Luft und landet | |
dort, wo der psychopathische Killer Scorpio wenige Momente vorher den Tod | |
gefunden hat: im See. Für beides ist „Dirty“ Harry Callahan verantwortlich. | |
Scorpio hat er mit seiner berühmten Magnum.44 abgeknallt, und auch seines | |
Abzeichens hat er sich selbst entledigt. Ein letzter Akt des Protests nach | |
der gerechten Strafe für den Killer. | |
Der Protestakt gilt dem Polizei-Establishment von San Francisco, das | |
Scorpio zuvor wieder auf freien Fuß gesetzt hatte, weil Harry bei | |
Festnahmen nicht immer auf alle Regeln achtet, denen ein Cop unterliegt. | |
Als die Chefs ihn darauf hinwiesen, dass auch ein tatverdächtiger Killer | |
laut Gesetz gewisse Grundrechte hat, entgegnete Harry entgeistert: „Then | |
the law is crazy.“ Ganz in der Tradition des Westerns und seines | |
Frontier-Mythos ist Gerechtigkeit für Harry Handarbeit, auf das Gesetz eher | |
kein Verlass. Deshalb muss er „dirty“ sein, deshalb landet der Polizeistern | |
im Wasser. | |
50 Jahre nach der Premiere von „Dirty Harry“ kommt diese letzte große | |
Geste, die [1][Clint Eastwood] in einem Film voller großer Gesten und | |
markiger Sprüche vollzieht, fast wie ein Omen daher. | |
Der innerpolizeiliche Battle zwischen dem konsequenten Recht der Straße und | |
verrückten Gesetzen, die am Ende doch nur die bad hombres schützen, scheint | |
in der Rückschau wie eine Generalprobe für den staatskritischen Marsch | |
gegen die Institutionen, der ein paar Jahrzehnte später eine radikale | |
Rechte ins Weiße Haus spülen sollte – die nicht mehr nur konservative Werte | |
predigte, sondern als reaktionäre Erneuerungsbewegung auftrat. | |
## Die richtigen Köpfe bedienen | |
Wie die politischen Vertreter*innen dieser Bewegung kommt auch Harry | |
Callahan selten offen rassistisch daher, weiß aber zuverlässig die | |
richtigen Knöpfe zu bedienen, um ein weißes Publikum mit entsprechendem | |
Kontextwissen zu triggern. „Nicht noch mal so ein Ding wie in Fillmore!“, | |
wird er zu Beginn von seinen Vorgesetzten gewarnt. | |
Was Harry in diesem Stadtteil von San Francisco, der auch als „Harlem of | |
the West“ bezeichnet wird, angestellt hat, bleibt unserer Vorstellung | |
überlassen. Schon San Francisco selbst steht in der konservativen | |
Vorstellungswelt paradigmatisch für jene Städte, aus denen in der Regel | |
viel Ärger kommt – und kaum seriöse Wahlstimmen. | |
Doch ist es eine leichte Übung, diejenigen Vorreiter der reaktionären | |
Rechten ausfindig zu machen, auf die diese sich ohnehin nur zu gern | |
beziehen. Ergiebiger ist der Blick auf einen anderen Klassiker des | |
Polizeifilms, der nur wenige Monate vor „Dirty Harry“ in die US-Kinos kam. | |
„The French Connection“, in Deutschland mit dem Untertitel „Brennpunkt | |
Brooklyn“ versehen, war in vielerlei Hinsicht das Gegenstück zu „Dirty | |
Harry“. Während Letzterer von Regie-Altmeister Don Siegel stilsicher in der | |
Tradition des klassischen Hollywood inszeniert und mit Clint Eastwoods | |
ikonischem Western-Gesicht ausgestattet wurde, versammelte „French | |
Connection“ alles, was das aufregende New-Hollywood-Kino der Zeit | |
ausmachte: mit [2][William Friedkin] einen aufstrebenden Autorenfilmer, mit | |
Gene Hackman einen talentierten Method-Actor, der sich körperlich | |
verausgabte, und nicht zuletzt die Ästhetik eines neuen urbanen Realismus: | |
an realen Drehorten eingefangene Handkamera-Bilder, per Montage in | |
dynamische Bewegung versetzt. | |
## Neuer Realismus des US-Films | |
Zu diesem von der Presse gefeierten neuen Realismus des US-Films gehörte | |
auch ein Faible für moralische Grautöne: Die Zeit der eindeutigen Helden | |
war vorbei, Abgründe waren angesagt. Und „Popeye“ Doyle, der Cop im | |
Zentrum von „French Connection“, hatte einige zu bieten. | |
In einer von vielen begeisterten Besprechungen schrieb die New York Times, | |
Doyle sei „brutal, rassistisch, vulgär, engstirnig, zwanghaft, lüstern, | |
aber noch in seinen miesesten Zügen als Mensch erkennbar und damit so viel | |
mehr als der eindimensionale Bulle der liberalen Folklore“. Wurde „Dirty | |
Harry“ schon in der zeitgenössischen Filmkritik für sein problematisches | |
Weltbild kritisiert, galt „French Connection“ als authentischer Vertreter | |
einer neuartigen Form der Filmkunst – und Doyle als widersprüchlicher, also | |
besonders menschlicher Protagonist. | |
Reales Vorbild für Doyle war NYPD-Cop Eddie Egan, der in Interviews mit | |
seiner Verhaftungsquote prahlte und durchblicken ließ, dass auch er es mit | |
dem Gesetz nicht so genau nahm, wenn er sich im Recht fühlte. Mit seinem | |
Dirty-Harry-Ethos stellte sich Egan als Außenseiter dar, doch hatte gerade | |
diese Performance in den frühen 1970ern auch eine Funktion. | |
## Affektive Anreize für die Politik | |
Wie die Historikerin Elizabeth Hinton nachgezeichnet hat, nutzte die | |
Nixon-Regierung für ihren „war on crime“ nicht nur finanzielle, sondern | |
auch affektive Anreize. Durch weniger Streifenfahrten und mehr | |
Undercover-Einsätze sollte die Polizeiarbeit für unterbezahlte, frustrierte | |
Cops wieder aufregender werden. | |
Denn Anerkennung gab es weniger für die von Expert*innenkommissionen | |
geforderte Community-Arbeit als für coole Zivilbullerei mit hohen | |
Verhaftungsquoten und spektakulären Verfolgungsjagden. Gleich in der ersten | |
Szene von „French Connection“ entledigt sich Doyle eines | |
Santa-Claus-Kostüms, um einen Schwarzen Drogendealer durch Brooklyn zu | |
jagen und ein paar Infos aus ihm herauszuprügeln. | |
Ein genauer Blick ins visuelle Archiv der Polizeigewalt, auch und gerade im | |
stylischen Cop-Thriller, ist nicht nur geboten, um „[3][Black Lives | |
Matter]“ in diesem Zusammenhang als Forschungsauftrag ernst zu nehmen. Er | |
kann zudem helfen, den komplexen Infektionsketten nachzuspüren, die für die | |
gegenwärtig hohe Inzidenz offensiv reaktionärer Weltentwürfe verantwortlich | |
sind. | |
Dabei wird mittlerweile anerkannt, dass die Neue Rechte die sozialen und | |
kulturellen Bewegungen der 1960er nicht nur bekämpft, sondern sich ihrer | |
auch bedient hat. Es gibt keinen Backlash ohne Aneignung. Der strategische | |
Tabubruch, der Widerstand gegen eine angeblich totalitäre Moral – und auch | |
Harrys Einsicht, dass Gesetz und Gerechtigkeit nicht dasselbe ist – | |
gehörten schließlich ebenso zum Selbstverständnis der Gegenkultur wie | |
mittlerweile zum Repertoire reaktionärer Politik. | |
## Westernheld und Antiheld | |
Diese Doppelbewegung kommt in den beiden Filmen zum Ausdruck, deren | |
Premieren sich in diesem Jahr zum 50. Mal jähren. Ist Harry dabei eher | |
Wiedergänger des kaltblütigen Westernhelden, der für Recht und Ordnung | |
sorgt, eine klassische Backlash-Figur, ist Popeye Doyle dem faszinierenden | |
Antihelden des Film Noir näher. | |
Somit stehen die weißen Cops für die zwei Seiten einer Affektpolitik, die | |
zugleich reaktionär und gegenkulturell ist – und das einer „schweigenden | |
Mehrheit“ zugeschriebene Denken mit den Racheakten ihrer Vertreter | |
verbindet. Harry und Doyle sind Gesetze überschreitende Gesetzeshüter in | |
einer Zeit, in der die kulturelle Autorität weißer Männlichkeit zumindest | |
weniger selbstverständlich geworden ist. Fünf Jahre später muss sich Harry | |
im dritten Teil der Reihe sogar mit einer humorlosen | |
Gleichstellungsbeauftragten rumschlagen. | |
Liefert Eastwood als Harry Callahan am Ende noch einmal zuverlässig die | |
große Anti-Establishment-Geste, endet „French Connection“, typisch für das | |
Kino des New Hollywood, eher existenzialistisch. Doyle jagt seinen | |
Gegenspieler in eine Fabrikhalle, seine Schießwut trifft den Falschen, ein | |
letzter Schuss fällt in den Abspann hinein. | |
„Er schießt auf Gespenster“, kommentierte Regisseur Friedkin dieses Ende | |
einst, das in der Welt da draußen leider kein Ende ist: Die Gespensterjagd | |
schießwütiger Rebellen mit und ohne Polizeistern ist für viele schließlich | |
weiterhin eine tödliche Bedrohung. | |
16 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Till Kadritzke | |
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