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# taz.de -- Pöbelmanie: Gefangen im Klassenkampf
> ​Die Erwartungen an das neue Jahr sind riesig, aber solange die
> Produktionsverhältnisse so sind wie sie sind, wird es kaum besser werden.
Bild: Auf der Straße festgeklebt: Eine von vielen Blockadeaktionen der Letzten…
Der Start ins neue Jahr ist in Berlin eine anstrengende Angelegenheit. Die
Tage vor und nach Silvester wird auf den Straßen unablässig geböllert, ganz
so, als könnten die zahlreichen la Bomba, die die Häuser erzittern lassen,
das beschissene Jahr wieder wettmachen.
Noch anstrengender finde ich die alljährliche Böllerverbotsdebatte, in der
mit fadenscheinigen Umweltargumenten gegen die Unterschicht gehetzt wird.
Als wären nicht etwa die ausbeuterischen kapitalistischen
Produktionsverhältnisse, sondern die Neuköllner Jugendlichen für die
Zerstörung des Planeten verantwortlich.
Am Tag selbst sind die Erwartungen dann riesig, dass die Party des Jahres
steigt, und das nächste Jahr irgendwie besser wird als das vorherige. Was
meistens nicht der Fall ist, denn es sieht trotz Zuspitzung der
Klassenwidersprüche und der Klimakatastrophe nicht so aus, als würde die
Art, wie wir leben, arbeiten und miteinander umgehen, in absehbarer Zeit
von einer breiten Masse infrage gestellt.
Wer es doch tut, wird dafür gern mal eingesperrt. Nicht nur von der Letzten
Generation sitzen über die Feiertage Aktivist*innen im Gefängnis, auch
zahlreiche andere Menschen werden dafür eingebuchtet, dass sie für eine
bessere Welt kämpfen – oder auch einfach nur dafür, dass sie arm sind: etwa
daran zu sehen, dass in Berlin und Brandenburg die Zahl der
Ersatzfreiheitsstrafen im vergangenen Jahr gestiegen ist.
## Bittere Realität
Die einzige Silvestertradition, die ich begehe, ist daher die alljährliche
Knastdemo, bei der den Menschen hinter Gittern auch in diesem Jahr wieder
gezeigt wurde, dass sie nicht allein sind und wir auch in ihrem Namen
weiter gegen den unerträglich ungerechten Normalzustand kämpfen werden.
„Wir sind nicht alle, es fehlen die Gefangenen“, das ist keine hohle
Phrase, sondern bittere Realität.
Rund 3.500 Menschen sitzen derzeit in Berlin in Haft. Hunderte von ihnen
wegen Schwarzfahrens, kleineren Diebstählen, Sachbeschädigungen oder
Betrug. Dass zwischen 60 und 85 Prozent der
[1][Ersatzfreiheitsstrafler*innen] arbeitslos und 40 Prozent
obdachlos sind, ist kein Zufall, sondern hat System. Menschen, die von der
Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, sollen gefälligst auch dort
bleiben, denn ohne Unten schließlich kein Oben.
Diese Bestrafung von Armut würde Berlins [2][Linke-Justizsenatorin Lena
Kreck] gern abschaffen. Sagt sie zumindest, was leicht ist, denn zuständig
dafür ist nicht sie, sondern der Bund. Und der sieht [3][in seiner
aktuellen Reform des Sanktionsrechts] lediglich eine Halbierung der
Ersatzfreiheitsstrafen vor. Das ist wenig überraschend, denn dass das
Einsperren von Obdachlosen, Junkies, psychisch Kranken oder einfach
armutsbetroffenen Menschen nicht nur moralisch falsch ist, sondern auch
sehr viel mehr kostet, als die verhängten Geldstrafen wert sind, spielt für
den Staat keine Rolle.
Es geht dabei einzig und allein darum, die kapitalistischen Eigentums- und
Produktionsverhältnisse zu verteidigen. Und sie infrage zu stellen ist
hierzulande immer noch das größte Verbrechen.
„Ich habe nichts gegen Klassenjustiz, mir gefällt nur die Klasse nicht, die
sie macht. Und dass sie noch so tut, als sei das Zeug Gerechtigkeit – das
ist hart. Und bekämpfenswert“, sagte Kurt Tucholsky vor 100 Jahren. Wie
recht er damit hat, müssen die Aktivist*innen der Letzten Generation
derzeit auf die harte Tour lernen. Denn Klimakrise ist immer auch
Klassenkampf und kann ohne eine Vergesellschaftung der Produktion nicht
wirksam bekämpft werden.
## Mit allen Mitteln bekämpfen
Als Instrument der herrschenden Klasse muss die Justiz radikalen
Klimaaktivismus daher mit allen Mitteln bekämpfen. Das zu bejubeln oder
härtere Strafen zu fordern bedeutet, seine eigene Unterwerfung zu bejubeln.
Doch wer sich der Repression des Klimaaktivismus verweigert, wird
abgestraft: Erst vor einer Woche wurde [4][ein Amtsrichter, der einen
Strafbefehl für eine Klimakleberin mit Verweis auf die Weltlage abgelehnt
hatte, vom Landgericht zurückgepfiffen] und sein Urteil aufgehoben.
Justitia ist eben nicht nur blind, ihr fehlt auch die Weitsicht.
Aber das war letztes Jahr, dieses wird bestimmt besser. Dafür gibt es doch
schließlich die guten Vorsätze. Einen hab ich schon: Kleber besorgen. Und
eine Feile.
2 Jan 2023
## LINKS
[1] /Demo-gegen-Ersatzfreiheitsstrafen/!5885526
[2] /!s=Kreck&Autor=plarre/
[3] /Reform-der-Ersatzfreiheitsstrafe/!5904067
[4] /Verdacht-auf-kriminelle-Vereinigung/!5901388
## AUTOREN
Marie Frank
## TAGS
Schwerpunkt Klimawandel
Letzte Generation
Ersatzfreiheitsstrafe
Silvester
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Kolumne Postprolet
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Lena Kreck
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