# taz.de -- Pixarfilm „Alles steht Kopf“: Urängste in Brokkoligestalt | |
> Der Animationsfilm „Alles steht Kopf“ von Pete Docter erfindet für die | |
> Gefühlswelt eines Mädchens wunderbar originelle Bilder. | |
Bild: Angst, Freude und Ekel. Nicht im Bild: Kummer und Wut. | |
Als vor 20 Jahren der erste komplett am Computer generierte Animationsfilm | |
der von Steve Jobs geführten Firma Pixar in die Kinos kam, war die Skepsis | |
groß. Könnten Pixel liebevoll gezeichnete Figuren ersetzen, aus Nullen und | |
Einsen programmierte Charaktere eine Seele haben, gar die gleichen | |
Emotionen hervorrufen wie ein sterbendes Reh, ein Löwenjunge oder eine in | |
Tausenden von Handzeichnungen zum Leben erweckte Meerjungfrau? Sie konnten, | |
und „Toy Story“, der erste von mittlerweile 15 Kinolangfilmen von Pixar, | |
wurde ein enormer kommerzieller Erfolg. | |
Während computeranimierte Realfilme wie „Final Fantasy“ (2001) und „Der | |
Polarexpress“ (2004) als seelenlos und flach empfunden wurden, gelang es | |
Pixar, das digitale Geschichtenerzählen zu revolutionieren. Kühne | |
Drehbuchideen, überbordender Ideenreichtum und große Sensibilität für die | |
Figuren und deren Empfindungen wurden zum Markenzeichen. | |
Nach einem stummen Müllroboter („Wall-E“) und einem in seinem Haus durch | |
die Lüfte gleitenden Rentner („Oben“) spielen nun Gefühle die Hauptrolle … | |
„Alles steht Kopf“, dem bisher originellsten und eigenwilligsten aller | |
Pixar-Filme. | |
Pete Docters Film führt in den Kopf des Mädchens Riley, deren Handlungen | |
und Entscheidungen von fünf personifizierten Emotionen gesteuert werden: | |
Freude, Wut, Ekel, Angst und Kummer treten als bunte StrippenzieherInnen | |
der kindlichen Persönlichkeitsentwicklung in Erscheinung und bestimmen die | |
Färbung von Rileys Langzeiterinnerungen, die in Form von Murmeln aus der | |
Schaltzentrale abgesogen und in Regalen im Langzeitgedächtnis gespeichert | |
werden. | |
Dort kommen ab und zu die „Vergesser“ vorbei und saugen mit ihrem | |
Staubsauger unnötige Namen und Telefonnummern ab, doch ansonsten strahlen | |
die Wände überwiegend gelb – der Farbe von „Freude“, die mit unermüdli… | |
Optimismus die Schaltzentrale zu leiten sucht. | |
Auf verschiedenen, über dem Abgrund des Vergessens schwebenden | |
Persönlichkeitsinseln („Ehrlichkeit“, „Familie“, „Spaß“) herrscht… | |
und Betrieb. Übersetzt heißt das: Riley ist ein glückliches Mädchen und die | |
Welt ist gut. Doch dann zieht die Familie von Minnesota nach San Francisco, | |
und der Kampf der Gefühle um die Vorherrschaft der Schaltzentrale beginnt, | |
als Angst, Wut und Ekel nach dem Wohnungswechsel die Kontrolle zu | |
übernehmen beginnen. | |
Freude und Kummer werden versehentlich in die Weiten des Gehirns abgesaugt, | |
von wo aus sie ihre Odyssee zurück antreten. Übersetzt heißt das: Riley | |
fühlt sich allein, weint gleich am ersten Schultag vor der neuen Klasse und | |
beginnt gegen ihre Eltern zu rebellieren. | |
## Bonbons als Tränen | |
All das klingt erzählerisch relativ kompliziert und ist es irgendwie auch. | |
So werden die Zuschauer in die Schlucht des Unterbewusstseins geführt, wo | |
sich Urängste etwa in Form eines riesigen Brokkoli-Baums manifestieren. Man | |
begegnet Rileys vergessenem imaginären Freund Bing Bong – einer | |
kuscheltierhaften Kompositfigur, die Bonbons als Tränen weint – und laufen | |
durch den Fantasiepark, in dem es Schlösser aus Zuckerwatte gibt. | |
Neurologen, Psychologen und Emotionsforscher wurden für die Geschichte von | |
„Alles steht Kopf“ konsultiert, das Spektrum aller Emotionen wurde zur | |
besseren Übersicht auf fünf reduziert. Ob jeder Drehbucheinfall ein | |
wissenschaftliches Pendant hat, ist angesichts der Fülle wunderbarer Ideen | |
gar nicht ausschlaggebend, denn durch die Übertragung des Gefühlschaos auf | |
zwei erzählerische Ebenen – innerhalb und außerhalb Rileys, wie der | |
Originaltitel „Inside Out“ es besser beschreibt – schafft es der Film, oh… | |
Rührseligkeit zu bewegen. | |
Wenn zum Beispiel „Kummer“ versehentlich zahlreiche Kernerinnerungen blau | |
einfärbt und damit gespeicherte Glücksmomente ihre Bedeutung verlieren, | |
präsentiert der Film so einfach wie eindrücklich eine mögliche Bebilderung | |
von Depressionen. Das ausgerechnet diese Figur als dicke Frau in | |
Erscheinung tritt, bleibt eine ärgerliche Randnotiz. Für Kinder ist „Alles | |
steht Kopf“ als rasante Abenteuergeschichte lesbar, für Erwachsene ein | |
Experiment, das beweist, wie gut computergenerierte Emotionen | |
funktionieren. | |
29 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Toby Ashraf | |
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