| # taz.de -- Animationsfilm „Sausage Party“: Die Vermessung der Wurst | |
| > Sprechende Lebensmittel gehen auf die Barrikaden und feiern wilde Orgien: | |
| > Der Film ist ein großartiges, gagaeskes, groteskes Spektakel. | |
| Bild: Wuaaaa, wir werden alle gefressen! | |
| Von seiner Katze angeschaut zu werden, wenn er nackt ist, wecke Scham in | |
| ihm, schreibt Jacques Derrida in „L’animal que donc je suis“. Nicht Scham, | |
| aber Verwirrung entsteht, wenn der Film „Sausage Party“ beginnt. Sprechende | |
| Lebensmittel sehen einen mit seltsam puppenhaften Augen unschuldig an: Ist | |
| das wirklich ernst gemeint? Bin selbst ich nicht zu alt für den Scheiß? | |
| Wobei ich natürlich nicht nackt im Kino war, zumindest hat es niemand | |
| gemerkt. | |
| „Um die Wurst“ geht es in dem Film von Greg Tiernan und Conrad Vernon | |
| tatsächlich. Und um Hotdog-Brötchen, Kartoffeln, Salat, Babykarotten, | |
| „Muschiduschen“, Feuerwasser. Er spielt in einer Welt, in der Lebensmittel | |
| an ähnlichen Stellen wie Menschen clowneske Beine, Arme, Münder, Augen, | |
| Nasen und Ohren haben, dazu noch Gefühle, Bewusstsein, einen eigenen | |
| Willen. Halt so ziemlich wie wir eben. | |
| Was ja auch schon wieder absurd ist: Selbst wenn wir Menschen unsere | |
| verzweifelten Bemühungen, mal nicht wir zu sein, mal nicht wie wir zu | |
| fühlen, von dressierten Affen, kupierten Schweinen und mit Marmelade und | |
| Kleber gequälten Meerschweinchen auf naive Würstchen im Supermarkt | |
| ausdehnen, kommen letztlich wieder Menschen raus. Unser eigenes Bewusstsein | |
| können wir nicht überlisten, und so müssen selbst Lebensmittel für uns die | |
| nach der Verdauung der ihren riechende Spur des Humanoiden tragen, müssen | |
| sein wie Marco Schreyl und Juli Zeh und Frank Henkel. | |
| Doch „Sausage Party“ bleibt an diesem Punkt nicht stehen. Wenn schon | |
| deppert, dann richtig. Wenn schon Klischees, dann bitte auch die plumpsten. | |
| Wenn die (eklig aussehenden) Lebensmittel schon so aussehen wie Menschen, | |
| dann müssen sie sich auch so verhalten. | |
| ## Glückliche Warenwelt | |
| Im Zentrum des – eklig aussehenden – Geschehens steht das Würstchen Frank | |
| (ein männlicher Protagonist!!!???!!!), das zusammen mit seinen Kollegen in | |
| Plastik eingeschweißt darauf wartet, aus dem „Shopwell’s“-Supermarkt | |
| gekauft und ins „große Jenseits“ gebracht zu werden, das mythische Paradies | |
| außerhalb des Marktes. Weil sich alle Lebensmittel so darauf freuen, wird | |
| jeden Morgen eine Ode an das „große Jenseits“ gesungen, und sie fordern die | |
| Kund*innen lautstark dazu auf, gerade ihre Packung zu kaufen, auch wenn die | |
| das nicht hören können und wie dumme, riesige Berserker durch die Hallen | |
| stapfen. Auch das letzte Glied in der Kette einer perfekten Konsumwelt ist | |
| hier scheinbar geschlossen, indem selbst die Ware glücklich ist und ihre | |
| Bedürfnisse durch ihr Konsumiertwerden Befriedigung finden. | |
| Die Würstchen sind scharf auf die neben ihnen stehenden Hotdog-Brötchen – | |
| und umgekehrt. Im „großen Jenseits“ werden Würstchen und Brötchen dann | |
| nämlich vereint, so glauben sie. Die Brötchen haben alle Brüste und Ärsche, | |
| oder eher das, was man sich vorstellt, wenn man an vermenschlichte | |
| Hotdog-Brötchen denkt, die alle Brüste und Ärsche haben sollen. Und über | |
| die Würstchen kommen, klar, allerlei Groß-lang-dick-Witze aus dem Stuhlgang | |
| Atze Schröders. Frank ist aber anständig und stellt sich zum Beispiel | |
| schützend vor die kurze, schiefe, und daher gemobbte Wurst Barry. | |
| Hochgradig jugendgefährdend, muten Obst und Gemüse tendenziell | |
| streber*innenhaft an, während die Alkoholika permanent Party machen. Aber | |
| der Film ist ohnehin erst ab 16 (beziehungsweise in den USA ohne Begleitung | |
| ab 17, als erster Animationsfilm überhaupt) – aus Gründen. | |
| Kommen Lebensmittel aus einem anderen Kulturkreis als dem | |
| nordamerikanischen, haben sie einen dementsprechenden Akzent, wie zum | |
| Beispiel die mexikanische (und lesbische) Teresa del Taco, der Bagel Sammy | |
| Bagel Jr. (jiddisch) oder der Teigfladen Kareem Abdul Lavash. Beide | |
| streiten sich um Land und sind sich spinnefeind, einziger gemeinsamer | |
| Nenner ist Hummus. Ein Hitlerprodukt gibt es natürlich auch, ich glaube, es | |
| war Sauerkraut. | |
| ## Selbstmord im Senfglas | |
| Verspricht „Sausage Party“ anfangs nicht mehr, als ein blöder Trashfilm zu | |
| sein, den man als Kulturavantgarde selbstredend ironisch guckt, sitzt das | |
| versammelte Kinopublikum (Preview, Multiplex-Massenkonsument*innen) bald | |
| gebannt vor der Leinwand – denn die Handlung hat es in sich. | |
| Nachdem Frank und Brötchen Brenda, die sich innig lieben, mit ihren | |
| jeweiligen Packungen im selben Einkaufswagen landen und sich darüber, haha, | |
| tierisch freuen, erklingen die Kassandrarufe des Honigsenfs: Das „große | |
| Jenseits“ sei bloß Beschiss, in Wahrheit würde das Essen dort kollektiv den | |
| Tod finden. Das Senfglas droht, Selbstmord zu begehen: sich aus dem Wagen | |
| zu stürzen. Frank springt hinterher, ein großes Chaos entsteht, | |
| Lebensmittel fallen auf den Boden, kriegsähnliche Zustände. | |
| Die Produkte, die überlebt haben, begeben sich auf die Suche nach der | |
| Wahrheit und befreien sich aus ihrer Unmündigkeit – menschliche | |
| Geistesgeschichte en miniature. Verfolgt werden sie dabei von der moralisch | |
| verkommenen „Muschidusche“: Auch sie fiel aus jenem Einkaufswagen, ist | |
| daher nun beschädigt und wird nicht mehr gekauft, obwohl sie doch so gerne | |
| Muschis reinigen will. Sie säuft und mordet, sinnt auf Rache, ist böse, | |
| absolut böse. | |
| Dass sie also nur leben, um zu sterben, ignorieren die Lebensmittel | |
| gekonnt, wie wir Menschen, füllen aber die Lücke, in der der gute, alte | |
| Sinn des Lebens sich zu verbergen verheißt, nicht mit Karriere oder | |
| Fernsehen, sondern mit der Supermarktrevolution gegen die menschlichen | |
| Unterdrücker*innen (Achtung, es fließt Ketchup!) und den wildesten | |
| Sexorgien: alle mit allen, alles mit allem, jede*r mit jeder*m. Homo, | |
| hetero, Sex, Gender, Geschmack, Konsistenz, Textur, Form, Tonalität – alles | |
| egal. Hauptsache, geile Bilder. Keinerlei Hemmungen, schwarze Balken | |
| braucht’s ja nicht. Ein Hardcoreporno mit Brot und Brötchen, Käse, Keksen, | |
| dem irrsinnig intelligenten Rollstuhl-Kaugummi, der redet wie Stephen | |
| Hawking, der „Muschidusche“, die letztlich ihr Einsatzgebiet in einem | |
| menschlichen männlichen Arsch findet, und, natürlich: Würstchen. | |
| ## Grotesk und großartig | |
| Das ist grotesk und großartig, sodass man gar keine Zeit mehr hat, sich die | |
| anfänglichen Langweilfragen des Wohlfühlironischen zu stellen: ob man | |
| lachen muss, kann, soll oder nicht; ob man lachen darf; wenn ja, warum. | |
| Manch eine*r links und rechts hingegen sah darin sicher bloß stumpfen | |
| Schund, und auch er*sie hat damit bestimmt ein bisschen recht. | |
| Die letztlich recht simple Moral „Habt euch lieb!“ ist heute wohl nur noch | |
| im Skurrilen transportierbar – sonst würde sie Unterhaltung so | |
| durchpädagogisieren, dass die keine mehr wäre. „Sausage Party“ aber ist so | |
| absurd und wahnsinnig wie unsere menschliche Kultur selbst: nicht zuletzt, | |
| weil sie Filme wie „Sausage Party“ hervorbringt. | |
| Diese crazy Selbstreferenz-Schleifen, die mich schon die ganze Zeit ganz | |
| geil machen, bleiben dem Film natürlich auch nicht verborgen. Am Ende kommt | |
| eine Art Selbstapotheose in Sachen Meta: Das Stephen-Hawking-Kaugummi und | |
| ein paar andere finden heraus, dass sie nicht nur Teil einer Welt sind, in | |
| der sie durch Gegessenwerden planmäßig sterben – sondern dass diese Welt | |
| selbst nur innerhalb einer anderen stattfindet: als Film. | |
| Meine Katze ist übrigens abgehauen („wg. zu viel Nacktheit“). Sieht so aus, | |
| als könnte ich etwas Aufheiterung gebrauchen. Wo ist der nächste | |
| Supermarkt? | |
| 5 Oct 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Adrian Schulz | |
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