# taz.de -- Peter und Florian Kossen über die Schlachtindustrie: „Es macht m… | |
> Peter und Florian Kossen engagieren sich für Arbeiter in der | |
> Schlachtindustrie. Ein Gespräch über Politiker, die wegschauen, und das | |
> Ausharren im Gegenwind. | |
Bild: Stur: Für Florian (l.) und Peter Kossen endet der Glaube nicht an der Ki… | |
taz: Sie sind Brüder, ein Priester und ein Arzt, und Sie engagieren sich | |
seit sieben Jahren für osteuropäische Werkvertragsarbeiter in Ihrer Region. | |
Wie kam es dazu? | |
Peter Kossen: Ostern 2013 kamen Ungarn zu mir, die ihren Job und gleich | |
auch die Wohnung verloren hatten. Sie hatten monatelang gearbeitet und | |
quasi nichts dafür bekommen. Einer der jungen Männer sagte: Dass ich in | |
Deutschland viel würde arbeiten müssen, das habe ich gewusst. Aber dass ich | |
so gedemütigt werde, habe ich nicht gewusst. | |
Florian Kossen: Ich bin seit 20 Jahren Arzt, aber solch ein Ausmaß an | |
Überlastung habe ich vorher noch nie gesehen. Es sind oft junge schmächtige | |
Frauen, die mir erzählen, dass sie zwölf Stunden lang Kisten von 20 bis 30 | |
Kilo schleppen müssen. Auch gestandene Männer kommen mit ähnlichen | |
Beschwerden. Aber statt einer echten Behandlung wollen sie meist einfach | |
nur eine Krankmeldung, damit sie dem Wahnsinn wenigstens für ein, zwei | |
Wochen entfliehen können. Länger geht nicht, weil sie sonst rausfliegen. | |
Wenn es ein deutscher Arbeiter wäre, nähme es einen völlig anderen Verlauf. | |
Nämlich? | |
Es gäbe eine fachärztliche Untersuchung, Physiotherapie, es wäre eine | |
Krankmeldung über mehrere Monate. Bei den Werkvertragsarbeitern ist Heilung | |
eigentlich überhaupt nicht möglich. Nach den zwei Wochen geht der Wahnsinn | |
weiter. | |
Peter Kossen: Und die psychische Belastung kommt dazu. Die Leute sind ja | |
bereit, einiges einzustecken. Aber die Demütigung, die Ungewissheit, dieser | |
Druck, nicht durchatmen zu können, das hat körperliche und seelische | |
Folgen. Das ist eine Parallelwelt in unserer sogenannten Sozialen | |
Marktwirtschaft, in der Menschen verschlissen und aussortiert werden wie | |
Maschinenschrott. | |
Wie sieht diese Parallelwelt aus? | |
Peter Kossen: Es ist moderne Sklaverei. Dass das Fleisch so billig ist, hat | |
ja einen hohen Preis, und der wird nicht an der Kasse bezahlt, den zahlen | |
diese Arbeiter. | |
Florian Kossen: Es macht mich wütend und täglich wütender. Diese | |
Fleischunternehmer sind Leute, die so viel Geld haben, dass sie es in 20 | |
Generationen nicht aufbrauchen werden, und sie häufen nur noch mehr an, | |
indem sie diese Arbeiter ausbeuten. | |
Peter Kossen: Da passt das schlichte Klischee: Sie sitzen in der Kirche | |
ganz vorne, geben richtig fette Spenden ab. Woher das Geld aber kommt, | |
fragt niemand. | |
Wie sichtbar ist dieses Elend für die Öffentlichkeit? | |
Florian Kossen: Wenn Sie nachher aus Goldenstedt zurückfahren, sehen Sie an | |
einer Abzweigung eine ehemalige Gastwirtschaft. Heute ist dort eine | |
Unterkunft für etwa fünfzig bis sechzig Leute. Nicht nur Alleinstehende, | |
sondern auch Familien mit Kindern. Da gibt es keine Privatsphäre, keine | |
Möglichkeit zu spielen, auf dem Grundstück sieht es aus wie auf einer | |
Müllhalde. Den Eingang kann man nicht einsehen, da steht eine Bretterwand, | |
als ginge man in ein Ghetto. Direkt gegenüber ist eine Grundschule. Ich | |
habe wiederholt gesehen, wie eine Frau mit schulpflichtigen Kindern an der | |
Hand von der Schule kam und dann hinter diesem Bretterverschlag verschwand. | |
Peter Kossen: Ich habe Kontakt zu einem Awo-Kindergarten. Die Mitarbeiter | |
sagen mir, dass manche Kindergartenkinder den ganzen Tag schlafen. Sie sind | |
verstört, sie bekommen nachts in der Unterkunft Prostitution, Drogen, | |
Alkohol und Gewalt zu sehen. Die Kindergärtnerinnen sind hilflos; sie sehen | |
jeden Tag, was das mit kleinen Kindern macht. Aber mir sagen Unternehmer in | |
Gesprächen: Ich weiß nicht, was du willst, die wohnen zu Hause auch im | |
Dreck. Ein kleiner Junge hier meinte: Ich wünsche mir zu Weihnachten einen | |
Trecker und einen Polen dazu. | |
Würden Sie eigentlich deutlich mehr Druck aus der Politik erwarten? | |
Florian Kossen: Die niedersächsische Landwirtschaftsministerin sagte nach | |
einem Besuch bei einem der großen Schlachthöfe, sie hätte nichts zu | |
beanstanden. Die Arbeitsverhältnisse und die hygienischen Verhältnisse | |
seien in Ordnung. Dabei wissen hier alle, dass sich trotz | |
Selbstverpflichtungserklärung und Mindestlohn im Prinzip nichts geändert | |
hat. | |
Peter Kossen: Unser Eindruck ist, dass die Richtlinienkompetenz hier in der | |
Region nicht bei den Bürgermeistern liegt, sondern bei den großen | |
Unternehmern. Manchen Politikern mag das Thema ein echtes Anliegen sein – | |
aber nicht vielen. Und Gesetze sind leider nur so gut wie ihre | |
Durchsetzung. | |
Wie gut ist die? | |
Peter Kossen: Die niedersächsischen Landkreise Cloppenburg und Vechta haben | |
zum Beispiel mit großem Aufwand und großer Öffentlichkeit Richtlinien für | |
die Unterkünfte beschlossen, aber wenn die Untersuchung vorher angekündigt | |
wird, dann kann man zusehen, wie die Mieter rein- und wieder rausgebracht | |
werden. Der Arm der Szenegrößen reicht bis in die Justiz hinein. Oder aber | |
die Behörden werden bei ihrer Arbeit behindert und haben nicht genügend | |
Personal. | |
Florian Kossen: Dass sich wesentlich nichts verändert hat, wissen wir aus | |
dem direkten Kontakt mit Betroffenen. Auch Beratungsstellen für die | |
Arbeitsmigranten bestätigen das aus ihrer Praxis, etwa das | |
Gewerkschaftsprojekt „Faire Mobilität“ oder die Arbeitslosenselbsthilfe | |
Oldenburg. | |
Versuchen die Betroffenen selbst, sich zu wehren? | |
Peter Kossen: Die Leute wehren sich praktisch kaum, sie ziehen sich eher | |
resigniert zurück. Da will unser jetzt gerade neu gegründeter Verein | |
„Aktion Würde und Gerechtigkeit“ Abhilfe schaffen durch leichteren Zugang | |
zu Rechtshilfe. | |
Fühlen Sie sich ohnmächtig, wenn sich so wenig bewegt? | |
Peter Kossen: Wir können nur hoffen, dass Protest hilft. Manchmal packt es | |
mich einfach. Einmal habe ich spontan den Verkehrskreisel beim Hauptsitz | |
der Wesjohann-Brüder zu einem Altar umgestaltet. Mir ging durch den Kopf: | |
Was wird hier wem geopfert? | |
Und dann? | |
Ich habe Sperrholzplatten besorgt und „Denkmal des unbekannten Lohnsklaven“ | |
drauf gedruckt. Das hat für ziemlich großen Wirbel gesorgt. Die | |
Mittelstandsvereinigung Visbek meinte, wir würden dem Mittelstand schaden | |
und nicht differenzieren. | |
Und – differenzieren Sie? | |
Peter Kossen: Natürlich! Es gibt ja auch Unternehmen wie Wernsing in | |
Cloppenburg. Die machen Feinkost, 3.000 Mitarbeiter und kein einziger | |
Werkvertragsarbeiter. Ich kenne den Chef und habe ihn gefragt, ob er damit | |
nicht werben will. Aber er hat abgewunken, weil er Fleisch bei Tönnies und | |
Danish Crown einkauft. Er wolle sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. | |
Werden Ihre Kritiker denn auch genau so deutlich wie Sie selbst? | |
Peter Kossen: Das hätte ich manchmal gern: die direkte Konfrontation. Als | |
ich in Vechta noch in der Behörde tätig war, wurde aus der Politik und aus | |
der Wirtschaft heraus schon versucht, über den damaligen Weihbischof | |
Gegendruck aufzubauen, er hat sich dem auch zur Verfügung gestellt – | |
leider. Deshalb musste ich die Stelle wechseln. | |
Traditionell ist man als Priester, als Arzt auf dem Land ja eine geachtete | |
Persönlichkeit. Haben Sie Erfahrung damit, Gegenwind zu bekommen? | |
Florian Kossen: Für mich ist diese Art von Öffentlichkeit Neuland. Aber ich | |
habe noch genug zu tun und auch keine Angst davor, dass mir die Patienten | |
flöten gehen. | |
Peter Kossen: Wir brauchen keinen Krawall, um uns wohl zu fühlen. Aber wir | |
haben von unseren Eltern gelernt, dass man eine Meinung haben und sie bis | |
zu einem gewissen Grade auch vertreten muss, auch gegen die | |
Mehrheitsmeinung. Und wir sind ziemlich stur. | |
In Andachten haben Sie den Verzicht auf Billigfleisch gefordert. Wie sieht | |
Ihre Gemeinde Ihr Engagement? | |
Peter Kossen: Einige sagen, ich sei besessen. Aber andere sagen: So stellen | |
wir uns Kirche vor – anwaltschaftlich für jene, die offenkundig keine | |
Stimme haben. Das sagen Leute inner-halb und auch außerhalb der Kirche, | |
manchmal sogar öfter außerhalb der Kirche. | |
Hat das Aufbegehren in Ihrer Familie Tradition? | |
Peter Kossen: Wir sind vier Kinder und unsere Eltern haben immer Wert | |
darauf gelegt, dass wir in der Schule immer die im Blick haben, die gemobbt | |
werden. | |
Das ist als Kind ganz schön mühsam. | |
Peter Kossen: Man hat uns schon mal nachgesagt: Heilige Familie. Das hat | |
mich gewurmt. In der Region ist noch eine gewisse Kirchlichkeit messbar, | |
vieles scheint mir aber bloße Konvention zu sein. Kardinal von Galen stammt | |
von hier,der sich während des NS-Regimes für Behinderte eingesetzt hat, die | |
damals in den Kliniken ermordet wurden. Da sagen die Leute: „Das ist einer | |
von uns.“ Aber seinem Vorbild,den Schutzlosen zu helfen, folgen zu wenige. | |
13 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
Miguel Ferraz | |
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