| # taz.de -- PDS-Rauswurf von Egon Krenz 1990: Belastung für die Partei | |
| > Am 20. 1. 1990 warf die SED-PDS Egon Krenz und weitere Mitglieder der | |
| > Nomenklatura aus der Partei. Das Tribunal hatte theatralische Qualität. | |
| Bild: Offizielles Gruppenfoto (1980) der Mitglieder des Politbüros des Zentral… | |
| Kurt Hager war in der DDR eine Schlüsselfigur, Chefideologe der SED, | |
| Philosophieprofessor, 39 Jahre im ZK der SED, 26 Jahre im Politbüro. [1][In | |
| Wandlitz] traf er sich jeden Morgen mit Stasi-Chef Erich Mielke. Am | |
| Samstag, den 20. Januar 1990, sitzt Hager vor der Schiedskommission der | |
| SED-PDS, Berlin, Wallstraße 57. Er soll aus der Partei ausgeschlossen | |
| werden und versucht sich, etwas müde, zu rechtfertigen. | |
| Er schwadroniert eine Dreiviertelstunde lang in Substantivketten und dem | |
| typischen Bürokratensound der SED über den [2][Marxismus-Leninismus] und | |
| seine Verdienste beim Aufbau der Gesellschaftswissenschaften in der DDR. | |
| Hager ist Schwabe, hat sich aber sprachlich an den Osten assimiliert. Wenn | |
| er Partei sagt, klingt das sächsisch. Baddei. | |
| Als er schließlich bei 1933 und dem Kampf gegen die Nazis ankommt, sagt ein | |
| Genosse aus der Schiedskommission: „Das wollten wir eigentlich hier nicht | |
| hören.“ Das 14-stündige Tribunal beginnt morgens früh und endet nachts um | |
| zwei [3][(Tondokumente sind abzurufen unter der Webseite der | |
| Rosa-Luxemburg-Stiftung)]. | |
| Die Schiedskommission, im Dezember 1989 neu gegründet, rehabilitiert ein | |
| paar Dutzend in der Vergangenheit in Ungnade gefallen SEDler und ist | |
| entschlossen, die frühere Spitze vor die Tür zu setzen. Es gilt, ein Signal | |
| der Erneuerung zu senden. | |
| ## Eingeübte Regeln von Kritik und Selbstkritik | |
| „Genosse Hager“, sagt ein Mann der Schiedskommission, „ich bin unter | |
| anderem wegen deiner Schuld angespuckt worden, und man hat mir telefonisch | |
| erklärt, mein Laternenmast steht schon fest.“ Hager: „Ja, ja, das kann | |
| passieren, dass mein Laternenmast auch schon feststeht.“ Der Genosse | |
| erwidert: „Aber ich war nicht im Politbüro! Ich habe nicht zig | |
| Farbfernseher in Wandlitz gekauft! Und ich habe keine Ideologie gemacht als | |
| Chef! Ich habe sie vertreten, weil ich dir geglaubt habe.“ | |
| Solche Gefühlsausbrüche sind eher selten. Meist ist der Ton der Befragungen | |
| ruhig, man folgt den eingeübten Regeln von Kritik und Selbstkritik. Werner | |
| Walde, Erster SED-Parteisekretär aus Cottbus, hat sich ein paar Mal mit | |
| Westwaren in Wandlitz versorgt, ansonsten aber nicht mehr auf dem Kerbholz, | |
| als es Parteisekretäre in einer Diktatur eben so haben. Walde zeigt sich | |
| gleichwohl zerknirscht, dass er der Partei der Arbeiterklasse nicht mehr | |
| nützlich sein kann. Auch Hager gesteht, wie es das Ritual vorsieht, Fehler | |
| ein. | |
| Die SED fällt Anfang 1990 in Trümmer. Hunderttausende kehren der | |
| Staatspartei jede Woche den Rücken. Sie ist politisch am Ende, moralisch | |
| diskreditiert. Der Ausschluss der alten, verhassten SED-Spitze soll zeigen, | |
| dass sich die Partei erneuert. Viele SEDler wollen die Partei auflösen – | |
| der neue Parteichef Gregor Gysi will das verhindern. Die Ausschlüsse sind | |
| der Versuch, von der SED zu retten, was zu retten ist. | |
| Draußen vor der Tür der Wallstraße in Berlin-Mitte fällt am 20. Januar die | |
| SED-Ordnung in Asche – drinnen sind die Rituale noch halbwegs intakt. Die | |
| Rollen sind zwar verkehrt: Die Basis richtet über die Führung. Aber Richter | |
| und Angeklagte sind Teil des gleichen Wertekosmos. Die Abrechnung mit der | |
| Nomenklatura findet in der Form eines parteikommunistischen Verfahrens | |
| statt. | |
| So müssen sich die früheren SED-Fürsten dafür rechtfertigen, dem Vorbild | |
| Sowjetunion und Gorbatschows Kurs nicht in ausreichendem Maße gefolgt zu | |
| sein. Vorgehalten wird ihnen zudem „Subjektivismus und Missachtung des | |
| Kollektivs“. | |
| [4][In der kommunistischen Welt] ist der Parteiausschluss die Höchststrafe. | |
| Bis 1953 folgte in der Sowjetunion auf die Exkommunizierung das | |
| Erschießungskommando. In der poststalinistischen DDR war der | |
| Parteiausschluss zu einer Art sozialem Tod zivilisiert, verbunden mit | |
| Berufsverbot, Stasiüberwachung, Repressionen. | |
| ## „Ich bitte darum mich auszuschließen“ | |
| Zum Ritual gehört, dass der Delinquent selbst Ja zu seinem Ausschluss sagt. | |
| Am Ende des Auftritts fragt der Leiter der Schiedskommission, ein | |
| DDR-Staatsanwalt, ob Hager versteht, dass er „für die Partei eine | |
| Belastung“ ist. Hager ist einsichtig: „So bitter es für mich nach 60 Jahren | |
| Zugehörigkeit zur Partei ist, bin ich der Auffassung, dass ich eine | |
| Belastung für die SED-PDS wäre. Ich bitte darum, mich auszuschließen.“ | |
| Volkmar Schöneburg, der bis 2013 Justizminister in Brandenburg war, | |
| schreibt in dem sorgfältig editierten 500 Seiten starken Buch „Ausschluss“, | |
| in dem die Anhörungen transkribiert sind: „Die Strafe anzunehmen, auch wenn | |
| sie ungerecht war, galt als kommunistische Tugend, als Dienst an der | |
| ‚Sache‘. Das Beharren auf der eigenen Unschuld schien dagegen eine | |
| Demonstration gegen die vermeintlich höhere Gerechtigkeit des Systems zu | |
| sein, also ‚Schädlingsarbeit gegen die Sache‘.“ | |
| Hagers Einverständnis ist ein letzter [5][Nachhall des stählernen | |
| kommunistischen Ethos]. Heiner Müller hat es in der Stalinismus-Parabel | |
| „Mauser“ präzise skizziert. Dort fordert der Chor, Symbol der Partei, von | |
| einem Genossen, der liquidiert wird: „Die Revolution braucht Dein Ja zu | |
| Deinem Tod.“ | |
| Die Partei ist in der kommunistischen Mythologie mehr als die Summe der | |
| Einzelnen: Sie ist die Verkörperung eines blutrünstigen, aber am Ende | |
| gerechten Gottes – der Geschichte. Das kommunistische Drama und der Terror | |
| schimmern in Hagers Bitte, ihn auszuschließen, wie eine ausgebleichte, aber | |
| noch entzifferbare Schrift durch. | |
| ## Diktatur im Endstadium | |
| Auch die letzten Sitzungen des ZK der SED im Herbst 1989 sind wortwörtlich | |
| überliefert. Die Theatergruppe „theater 89“ hat daraus vor Jahren eine | |
| eineinhalbstündige Performance kondensiert. Die Diktatur im Endstadium als | |
| theatralischer Stoff. Die Aufzeichnung von Lebensbeichten, Ausflüchten und | |
| Illusionen hat theatralische Kraft. Nachts um ein Uhr etwa tritt Egon Krenz | |
| vors Tribunal, zwei Monate zuvor noch die letzte Hoffnung der SED. | |
| Er hat acht Stunden draußen vor der Tür gewartet. Krenz hatte im Frühjahr | |
| 89 die gefälschten Kommunalwahlergebnisse im Fernsehen der DDR verkündet. | |
| „Wenn gefälscht worden ist“, sagt Krenz, sei das vor Ort passiert. Er habe | |
| nur zusammengefasst, was von unten kam. Das ist nicht mal die halbe | |
| Wahrheit: Die Funktionäre in Neubrandenburg und Anklam lieferten die | |
| Wahlergebnisse, die von Krenz und Honecker erwartet wurden. | |
| Auch die GenossInnen der Schiedskommission ahnten natürlich, wie die stets | |
| fantastischen Wahlergebnisse der SED zustande kamen. In ein paar Momenten | |
| beginnen die klaren Rollen von Richtern und Angeklagten zu flirren. Das | |
| Tribunal erinnert vage an Kleists „Zerbrochenen Krug“. Es will die Willkür | |
| der Diktatur überwinden und hat selbst etwas Willkürliches. „Wenn Egon in | |
| der Partei bleibt“, so das Urteil der Schiedskommission, könne man deren | |
| Erneuerung sofort vergessen. | |
| ## Betrogene und betrogene Betrüger | |
| An demokratischem Parteienrecht gemessen eine sehr freihändige Begründung. | |
| Die Ausschlüsse, die das bleierne Erbe überwinden sollen, folgen selbst der | |
| autoritären Logik. Der Einzelne wird geopfert, damit das Wir überlebt. „Ich | |
| bin genauso betrogen worden“, erwidert Krenz trotzig. Ein Genosse der | |
| Schiedskommission antwortet: „Es gab Betrogene, und es gab betrogene | |
| Betrüger.“ | |
| Am Ende dieser Nacht sind fast alle erschöpfte Opfer – ihrer Rollen, des | |
| Systems, ihrer Trugbilder, mit denen sie die Diktatur für sich selbst | |
| unsichtbar machten. Wandlitz, Inbegriff der Doppelmoral der SED-Führung, | |
| die dem Volk Wasser predigte und selbst (billigen) Westwein trank, kommt in | |
| fast jeder Befragung zur Sprache. Die Mauer kein Mal. | |
| 20 Jan 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
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