# taz.de -- Neues Album der Einstürzenden Neubauten: Weltumsegelung im Röhren… | |
> Mit Crowdfunding cofinanziert und per Zufallsgenerator erstellt: „Alles | |
> in allem“, das neue Werk der Krachexperten Einstürzende Neubauten. | |
Bild: Blixa Bargeld (Mitte) und Einstürzende Neubauten | |
Es gibt auf diesem Werk nur einen Rocker“, sagt Blixa Bargeld und meint | |
damit den Song „Ten Grand Goldie“, der als diabolisch-freundlicher | |
Poltergeist das neue Album der Einstürzenden Neubauten eröffnet. Die | |
Neubauten sind ein Quintett, das sich in seinem ersten Jahrzehnt, den | |
mythenumrankten Achtzigern, im alten Westberlin einen lautstarken [1][Ruf] | |
erspielt hat und jetzt im 40. Jahr seines [2][Bestehens] mit „Alles in | |
allem“ sein vielleicht häuslichstes Werk veröffentlicht. Sänger und Texter | |
Bargeld erklärt, er habe seit Wochen das Haus gehütet. | |
Die Unterhaltung findet per Skype statt. Er nehme die Lockdown-Situation | |
sehr ernst, schickt [3][Bargeld] gleich mal voraus. Im vor Kurzem | |
veröffentlichten Videoclip zum Song „Ten Grand Goldie“ trägt er eine | |
Atemschutzmaske, ihr Türkis trifft sich mit dem Make-up seiner Augenbrauen. | |
In die Schwarz-Weiß-Szenen der Einstürzenden Neubauten, wie sie in ihrem | |
Studio tanzen, sind farbige Heimvideos von UnterstützerInnen geschnitten; | |
jener Schwarm, der den Neubauten bereits seit 18 Jahren via Crowdfunding | |
die Arbeit mit ermöglicht. Neubauten-Fans wohnen nicht schlecht, das ist im | |
Video gut zu sehen. Bassist Alexander Hacke spielt die metallene Bassfeder, | |
ein halbmeterlanges Instrument seines Kollegen N.U. Unruh, mit einem | |
Jazzbesen, Bargelds Tochter die Posaune. | |
## Motorisches Puckern | |
„Ten Grand Goldie“ puckert motorisch und wird von psychedelischen | |
Zwischenpassagen akzentuiert, in denen Bargeld wohltemperiert sprechsingt, | |
als habe er am Röhrenradio eine Weltumseglung absolviert. Deutsch, Englisch | |
und Tagalog, die weitverbreitetste Sprache auf den Philippinen: „Kapit sa | |
patalim“. Das meint „nah am Boden“ in sozialer Hinsicht. „Ten Grand Gol… | |
ist eines der Stücke, die mithilfe des Neubauten-Navigationssystems „Dave“ | |
entstanden sind, einer Art gelenkten Improvisation, und so ist Bargeld auch | |
zu dieser Zeile gekommen. | |
„Dave“ umfasst 600 Karten, die die Musiker jeweils zur Inspiration zu Rate | |
ziehen. Auf Bargelds Karte stand „Anrufe“, und so hat er per | |
Zufallsgenerator 20 Neubauten-Supporter angerufen: „Und die haben mir | |
wiederum Worte gegeben, die sie mit mir teilen wollten.“ Aus denen und | |
eigenen Eingebungen montierte Bargeld einen Text, wie er sich erinnert: „Am | |
Ende dieser Materialschlacht hatte ich schon den Eindruck, das ist | |
politisch.“ | |
Einstürzende Neubauten waren nie eine Band griffiger Parolen, aber auch nie | |
so apolitisch, wie es die Mischung aus apokalyptischem Donnern und | |
kryptischen Depeschen in ihrem Frühwerk suggerieren mochte. Es muss schon | |
seine Gründe gehabt haben, dass „Kollaps“, Titelstück ihres 1981 | |
erschienenen Debütalbums, einen Tag nach dem Wahlsieg der Allianz für | |
Deutschland in der ersten und letzten freien Volkskammerwahl der DDR auf | |
einer Demonstration am Berliner Alexanderplatz aus dem Lautsprecherwagen | |
dröhnte. | |
## Musik für marxistischen Vampirfilm | |
Das 1987 veröffentlichte „Fünf auf der nach oben offenen Richterskala“ | |
wiederum, im Rückblick das Album, mit dem bei den Neubauten ein | |
minimalistischeres Musizieren Einzug hielt, bezeichnete die | |
US-Alternative-Bibel TrouserPress treffend als „hypothetischen Soundtrack | |
für einen marxistischen Vampirfilm“. | |
2020 tritt bei den Neubauten tatsächlich eine marxistische Revolutionärin | |
auf. „Behäbig und schwarz / Nur einen Menschen tief“, fließt der | |
Landwehrkanal durch den zweiten Song auf „Alles in allem“, in der dritten | |
Strophe singt Bargeld: „Ich war nicht dabei / Damals bei Rosa / Nicht im | |
Eden-Hotel / Und auch nicht danach / An der Lichtensteinbrücke / Nach | |
Mitternacht.“ Im Gespräch schildert er die Genese des Lieds. | |
Die Melodie hatte er im Kopf gehabt, das Stück auch schon seinen Titel „Am | |
Landwehrkanal“, als Gitarrist Jochen Arbeit Bargeld mit einem Satz, der | |
nicht vervollständigt zu werden braucht, darauf hinwies: „Das ist dort, wo | |
sie Rosa Luxemburg...“, nach ihrer Ermordung 1919 durch präfaschistische | |
Freikorps. Der Song lässt sich als eine von vielen | |
Neubauten-Geschichtsexkursionen hören, zeitlich und thematisch schließt er | |
an „How Did I Die?“ (2014) aus „Lament“ an, der Studiorekonstruktion ei… | |
Performance zum [4][Ersten Weltkrieg]. | |
## Agitprop statt Industrialrock | |
„Ich bin nicht derjenige, der Protestsongs schreibt“, betont Blixa Bargeld: | |
Für ihren Agitprop berühmt war eine andere Westberliner Bandlegende, Ton | |
Steine Scherben, Gewächs der linksradikalen Kreuzberger Wende der Sechziger | |
zu den Siebzigern. Auf den letzten Neubauten-Alben gab es im Bandsound und | |
bei Bargelds Gesang gelegentliche Anklänge an die Scherben, „Am | |
Landwehrkanal“ könnte nun fast als Hommage durchgehen. Warum auch nicht? | |
Die Neubauten werden gerne in die Schublade gesteckt, auf der in großen | |
Lettern „Industrial“ steht, Bargeld meint: „Die musikalischen | |
Referenzpunkte sind eher Krautrock und Ton Steine Scherben.“ Bei den | |
Sessions zu „Am Landwehrkanal“ war dann tatsächlich Scherben-Gitarrist und | |
-Mitbegründer R.P.S. Lanrue zugange, obwohl sein Beitrag es dann doch nicht | |
auf den Schlussmix geschafft hat. | |
Ton Steine Scherben kriegten das Kunststück fertig, politisch zu sein und | |
Privatheit nicht zu denunzieren. Bei den Einstürzenden Neubauten dringt das | |
Politische aus einem Liebeslied. „Was ich in deinen Träumen suche? / Ich | |
suche nichts / Ich räume auf“, hieß es 2004 in „Grundstück“ auf dem Al… | |
„Perpetuum Mobile“. Die erste Hälfte von „Alles in allem“ schließt mit | |
„Taschen“, einem getragenem, mit Streichern unterfüttertem Stück: „Was … | |
in deinen Träumen suchen / Wir suchen nichts / Wir warten.“ Dann: „Zwischen | |
uns und dir / wälzt die Wogen ungeheuer / ein gefräßiges Ungetüm.“ | |
Die Fortschreibung bezieht sich auf den Titel der Übersetzung des | |
palästinensisch-schwedischen Dichters Ghayath Almadhoun, „Ein Raubtier | |
namens Mittelmeer“. Die unheimlichen Schlinggeräusche im Song kommen aus | |
den titelgebenden Instrumenten, speziellen Jumbo-Plastiktaschen, deren | |
Modell Bargeld auf dem Smartphone zeigt: „Im Berliner Volksmund werden die | |
auch Migrantenkoffer genannt.“ Vier davon haben die Neubauten mit Lumpen | |
aller Art gefüllt, die fünfte, die sogenannte Solo-Tasche, spielt Alexander | |
Hacke. Sie enthält kleine, mit Erbsen, Nägeln, Münzen gefüllte | |
Tupperware-Boxen: „Das ergibt eine Art Meta-Maracas“, meint Bargeld. | |
## Verdammte Nazi-Architektur | |
Das längste Stück des Albums haben die Neubauten wie auf einem klassischen | |
Rockalbum kurz vor Schluss gesetzt: „Grazer Damm“ nimmt sechs Minuten ein | |
und kommt als eine Art Talking Blues daher. Eine „autobiografische | |
Berlin-Referenz“ Bargelds: „Das ist, wo ich herkomme.“ Eine Schöneberger | |
Durchgangsstraße, Ortsteil Friedenau. Ihren Namen hat sie vom „Anschluss“ | |
Österreichs an das Deutsche Reich 1938, die Bauten gelten als eines der | |
wenigen Beispiele für Wohnungsarchitektur des Nationalsozialismus. Der Song | |
verschränkt Erinnerungen und Träume, erzählt, wie jemand aufwächst mit | |
„Kachelöfen, Waschküche unterm Dach“, dazu „Luftschutzkeller in allen | |
Häusern“. Und dabei „entbehrt er einer gewissen Schwere“, so Bargeld. | |
Ende der Achtziger hat Bargeld im Westberliner Merve Verlag einen | |
Materialband veröffentlicht, sein Titel: „Stimme frisst Feuer“. Das | |
Bonus-Album, enthalten auf der De-luxe-Edition von „Alles in allem“, | |
enthält ein Stück namens „Zuckerstimme“, und es klingt tatsächlich wie a… | |
einem tiefenentspannten Krautrocktrip. Die Perkussion, mit der „Wedding | |
Dress“ unterlegt ist, erinnert wiederum an frühe Sun-Ra-Alben. „Alles in | |
allem“: Blixa Bargeld möchte den Albumtitel nicht als Bilanz verstanden | |
wissen, die Musik lebt von einer Klangästhetik, die ihre Hörer:innen nicht | |
übermannen muss. Einstürzende Neubauten sind inzwischen eine andere Band | |
als noch 1981. Das war zu hoffen. | |
14 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Robert Mießner | |
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