# taz.de -- Neuer Roman von Henning Ahrens: Schuld und Milchdunst | |
> In „Mitgift“ erzählt Henning Ahrens die Geschichte seiner bäuerlichen | |
> Familie, die einen Nazihintergrund hat. Im Zentrum: ein | |
> Vater-Sohn-Konflikt. | |
Bild: Ein Entkommen gibt es nur im Schreiben und in den Krieg: Bauernhof im Neb… | |
Es ist ein gut eingeführtes Verfahren, Familiengeschichten aus der | |
[1][Perspektive eines Rückblicks] zu erzählen. Sie hat viele Vorteile. | |
Jemand, der sich schon distanziert hatte, kehrt zurück in die alte Heimat – | |
und das emotionale Drama aus Distanz und (verfehlter) Nähe ist gleich voll | |
da. | |
Die bedrängenden Bilder sind gleich da, die Schuldgefühle und | |
Schuldzuweisungen, und zwar egal, ob man den Rückblick auf eine Versöhnung | |
zulaufen lässt, wie Didier Eribon es in seiner „Rückkehr nach Reims“ | |
letztlich tut, oder ob man im Unversöhnlichen bleibt wie Bov Bjerg in | |
seinem Roman „Serpentinen“. | |
Henning Ahrens erzählt in seinem neuen Roman auch von Familie als einem | |
engen Kosmos, der einen nicht loslässt, aber er macht das ganz anders. Das | |
Nachwort von „Mitgift“ informiert, dass das Buch tatsächlich von der | |
eigenen – allerdings umbenannten und zu Romanfiguren transponierten – | |
Familie des Autors handelt. | |
Das Rückkehrmotiv hält Ahrens aber ganz raus, zumindest auf den ersten | |
Blick (zum zweiten gleich). In jeweils in sich abgeschlossenen, für die | |
Familiengeschichte bedeutsamen Szenen schreibt er eine Chronik seiner | |
Familie, die über viele Generationen – das Buch geht zurück bis ins Jahr | |
1755 – einen Bauernhof im Niedersächsischen bei Peine bewirtschaftete. | |
## Totenfrau des Dorfes | |
So liest man also etwas darüber, wie zum Ende des Zweiten Weltkriegs die | |
Amerikaner kamen und die Familie erst mal hektisch einige Waffen sowie | |
Nazidevotionalien in der Jauchegrube versenken musste. Über das Tun des | |
Vaters im Krieg als Agrarfachmann in der Ukraine, seine | |
Kriegsgefangenschaft, schließlich seine Rückkehr gibt es Szenen. Historisch | |
ausholend werden die Vorfahren beschrieben, hart arbeitende, pietistisch | |
orientierte Bauern und Bäuerinnen. | |
In den 1860er Jahren vererbte einer den Hof der christlichen Mission, die | |
„den Afrikanern den christlichen Glauben“ beibrachte. Die nächsten drei | |
Generationen müssen den Hof zurückkaufen und die Schulden dafür abbezahlen. | |
Eingewoben ist eine zweite Erzählebene, die 1962 spielt. In dieser Zeit | |
begeht Wilhelm Leeb junior (der Name Wilhelm wird in dieser Familie immer | |
weitervererbt) Suizid. Erzählt wird dieser Strang aus der Perspektive der | |
Totenfrau des Dorfes, die den Leichnam herrichten soll und zusammen mit | |
anderen älteren Frauen eine Art kommentierenden Chor abgibt. | |
Die Handlung läuft also auf ein Verhängnis zu, doch die historischen Szenen | |
behalten ein Eigenrecht. Henning Ahrens hat viel in der eigenen | |
Familiengeschichte recherchiert und breitet sie mit dem Willen zur | |
Sachlichkeit aus. | |
## Wundern über den Autor | |
Man kann dieses Erzählen als traditionell, fast schon als vormodern | |
bezeichnen. Wer die viel literarischeren, teilweise wilden und sich vom | |
Realismus wegdrückenden bisherigen Romane dieses Autors kennt, [2][mag sich | |
auch wundern;] er schreibt hier ganz anders. Doch das distanzierte, beinahe | |
brechtisch nichtidentifikatorische Lesen, das sich einstellt, gewinnt einen | |
eigenen Reiz. Henning Ahrens macht Vorschläge, wie man so eine | |
Familiengeschichte erzählen könnte – und man nimmt beim Lesen viel mit. | |
Respekt flößt der Umgang mit dem Nazihintergrund der Familie ein. „Die | |
Juden sind alle verschwunden; Leeb weiß sehr wohl, was mit ihnen passiert | |
ist.“ Solche Sätze stehen unmissverständlich da. Leeb ist hier Wilhelm Leeb | |
senior, der Vater, der die Ukraine zur Kornkammer des Deutschen Reichs | |
umbauen soll und will. Mit Schlussstrichen, Versöhnungen oder auch nur | |
Relativierungen hat dieser Roman nichts zu tun. | |
Mit über den konkreten Kontext dieser Familie hinausgehenden | |
„Aufarbeitungen“ der Vergangenheit allerdings auch nicht. Neben der derzeit | |
„explodierenden“ (so der Merkur ) Debatte über historisches Gedenken nimmt | |
sich dieser Roman geradezu bescheiden aus. | |
## Postarische Familie | |
Er weiß um seine Grenzen, was gut ist. Und wenn man hinzunimmt, was für | |
Tabus und Verbrämungen in „postarischen“ (Per Leo) deutschen Familie bis in | |
die Gegenwart herrschen, ist man dankbar für die Unerschrockenheit, mit der | |
Henning Ahrens das Denken seines Großvaters beschreibt (sie wird psychisch | |
komplex errungen worden sein). Dieser Opa war eben doch ein Nazi. | |
Die historisch weiter ausgreifenden Szenen liest man ein bisschen so, als | |
blättere man in einem Familienalbum. Interessant sind die Realien. Man | |
erfährt, wie wenig selbstverständlich Traktoren und fließendes Wasser noch | |
bis weit in die Bundesrepublik hinein waren und wie hart, patriarchalisch, | |
Gefühlen gegenüber indolent und dem Hof alles unterordnend das Leben war. | |
Für die Frauen gab es gar kein Draußen. Und für die Männer höchstens zwei | |
Wege, der Enge zu entkommen: schreibend – das Motiv des zugleich immer auch | |
beargwöhnten („hast du nichts Besseres zu tun?“) Schreibens als | |
Möglichkeit, die Realität auf Zeit hinter sich zu lassen, taucht immer mal | |
wieder auf – oder, zweite Möglichkeit, in einen Krieg ziehend, was | |
schließlich zur Familienkatastrophe führt, weil Wilhelm junior erst | |
viel zu früh den Hof übernehmen muss und dann, als der Vater zurückkehrt, | |
wieder rüde degradiert wird. Seine Mutter sagt: „Ab jetzt ist er wieder der | |
Herr im Haus. So ist das nun mal. So gehört es sich.“ | |
## Zerschellt am Vater | |
Eher vorsichtig passt Henning Ahrens in den historischen Szenen die | |
Erzählsprache der erzählten Zeit an. In einer Szene am Ende des 19. | |
Jahrhunderts wird Sex so benannt: Sie „gaben sich einander hin“. In den | |
Szenen über die 1950er Jahre tauchen Begriffe wie „Penne“ für Schule auf. | |
Zentral bei alledem wird schließlich der Vater-Sohn-Konflikt. Der Vater, | |
Wilhelm Leeb senior, riecht in der Kriegsgefangenschaft über Hunderte | |
Kilometer hinweg den heimischen Hof, den „säuerlichen Milchdunst“, den | |
„würzig-beißenden Schweinemief“, den „Duft von Roggen und Weizen“, die | |
„mürbe Süße“ der Körner. Dem Sohn dagegen, Wilhelm Leeb junior, wird in… | |
gleich darauffolgenden Szene im Stall schlecht, als eine Sau, wie das | |
manchmal geschieht, eins ihrer Ferkel erdrückt. Eine Nebenfigur findet es | |
dann später „erbarmungswürdig mit anzusehen, wie der Sohn am Vater | |
zerschellte“. | |
Spätestens bei solchen Szenen fühlt man sich zu einem zweiten Blick auf die | |
Perspektive des Autors animiert. Im Nachwort steht, dass es einen Suizid | |
tatsächlich gegeben habe, allerdings in Wirklichkeit erst 1989. Im Roman | |
datiert Ahrens dies Ereignis auf das Jahr 1962 zurück. Er selbst wurde 1964 | |
geboren. Das heißt, von dem Suizid des Vaters konnte Henning Ahrens nur | |
erzählen, indem er von der eigenen Existenz gänzlich absah. | |
## Schwankender Boden | |
Zugleich ist in dieser erzählerischen Bewegung aber noch der schwankende | |
Boden spürbar, auf dem man als Erzähler der eigenen Familiengeschichte | |
gegenübersteht. Außerdem wird so der ganze Roman zu einem – Denkmal ist zu | |
viel gesagt, aber doch zu einem Erinnerungsstück an den eigenen Vater, der | |
eben in Wirklichkeit 1962 noch nicht an wiederum seinem Vater zerschellte, | |
sodass Henning Ahrens in der Realität geboren werden konnte. „Für meinen | |
Vater Heinrich Ahrens (1931–1989)“, so lautet denn auch die Widmung des | |
Romans. | |
Auch wenn man nicht voll auf der Seite des Buches ist, ist man doch voll | |
auf der Seite des Autors. Und das muss das Buch auch erst einmal schaffen. | |
28 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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