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# taz.de -- Kurzgeschichten aus der Silvester-sonntaz: Der Hassjäger
> "Ja, diese Spießer lieben Lügen. Sie genießen es, andere in den Dreck zu
> reden", sinnierte Deutschland-Girl und ließ die Bernsteinkette durch ihre
> Finger gleiten.
Bild: Er leerte den Wodka auf ex, rekapitulierte, was sich zugetragen hatte.
Walther Leydenfrost, seines Zeichens Versandantiquar, sah aus dem Fenster
auf die Straße. Die Straße führte durch ein Dorf. Das Dorf lag hart am
Hessischen, eingebettet in weit ausschwingende, bewaldete Hügel. Aus diesen
Hügeln kam der Hassjäger. Er ritt ein dreibeiniges Pferd und trug seinen
Kopf unter dem Arm.
Walther hatte das Klappern der Hufe oft gehört, meist mitten in der Nacht:
klopp-klopp! Wenn er nachgeschaut hatte, war die Straße leer gewesen.
Trotzdem glaubte er fest an den Hassjäger. Wer er auch sein mochte, ob
Wotan oder der Leibhaftige, er ritt nicht nur durch Hügel, Dörfer und
Städte, nein, er trieb überall sein Unwesen. Draußen wurde das alte Jahr
zerbombt. Raketen heulten in den Winterhimmel, explodierten zu
bonbonfarbenen Sternen. Böller krachten, Knallfrösche knatterten, Fontänen
sprühten. Walthers blaues Auge tat weh. Er leerte den Wodka auf ex,
rekapitulierte, was sich zugetragen hatte.
Die Kirchenglocken riefen zur Silvestermesse. Walther löste sich vom PC, an
dem er nach Buchbestellungen geschaut hatte, und trat an das Küchenfenster.
Er sah nichts. Also putzte er die Brille, setzte sie wieder auf die Nase,
das einzig Prominente an seiner hageren Gestalt. Weil er immer noch nichts
sah, rubbelte er mit einem Pulloverärmel auf der Scheibe. Dann begriff er,
dass es schneite - so viel Schnee hatte es seit den Wintern seiner Jugend
nicht mehr gegeben, und diese hatte sich in den Sechzigern eines abgehakten
Jahrhunderts ereignet.
Feiertagsfromme pilgerten zur Kirche, hinterließen Spuren im Schnee wie
eine Yeti-Horde. Niemand grüßte ihn, obwohl er gut sichtbar am Fenster
stand. Konfirmanden, alle mit Handy bewaffnet, das sicher keine Bachkantate
spielte, grinsten bei seinem Anblick. Pummelige Teenagerinnen johlten und
stachen mit Fingern nach ihm, deren Naildesign durch den Schnee zu ihm
herüberblitzte, eine spuckte aus. O nein, er war hier nicht wohlgelitten.
Für diese Leute waren Bücher so etwas wie schmutzige Bomben; sie fühlten
sich gefährdet; und weil sie sich gefährdet fühlten, höhnten sie.
"Warum lässt du dir diese dumme Arroganz bieten?"
Antiquariate zogen Sonderlinge bekanntlich magisch an, und obwohl Walther
keinen Laden mehr besaß, waren ihm einige schräge Freunde geblieben. So
auch Deutschland-Girl, die in Wahrheit Luise hieß und schwarz-rot-gold
geringelte Leggins unter dem knielangen knallgrünen Pullover trug. Walther
zuckte mit den Schultern. "Was soll ich tun?"
"Sag ihnen", erwiderte Luise alias Deutschland-Girl, "dass sie ihre Schafe
ficken sollen."
"Schafe?", fragte Walther verständnislos.
"Du bist viel zu gutmütig."
"Jede Entgegnung wird umgelogen und gegen mich benutzt", sagte Walther. "Es
ist eine Lose-lose-Situation."
"Ja, diese Spießer lieben Lügen. Sie genießen es, andere in den Dreck zu
reden", sinnierte Deutschland-Girl und ließ die Bernsteinkette durch ihre
Finger gleiten.
"Sie gehen trotzdem in die Kirche", murmelte Walther.
"Aber sie sind keine Christen!"
"Nein", bestätigte Walther.
"Das sind sie nicht." "Sie sind Kryptofaschisten", zürnte Deutschland-Girl.
"Minidiktatoren, die alles attackieren, was ihren biederen Normen
widerspricht."
"Na, na", brummte Walther. "Noch ein Schluck?"
"Natürlich!"
Die Glocken waren verstummt.
Walther zapfte Glühwein aus dem Samowar.
"Warum wohnst du überhaupt in diesem Kaff?", fragte Deutschland-Girl.
"Schicksal." Walther gab ihr den Becher. "Außerdem lerne ich hier viel
dazu. Menschlich gesehen."
"Unmenschlich gesehen", widersprach sie.
Da wurde an die Tür gepocht. Klopp-klopp!
Deutschland-Girl erschrak. "Wer ist das?", hauchte sie.
"Entweder meine Traumfrau", sagte Walther, der seit Jahren Single war,
"oder die Dame von den Stadtwerken." Er stand auf und verließ die Küche.
"Ich bin deine Traumfrau!", rief Deutschland-Girl ihm nach. "Und wenn es
die Kriegsgräberfürsorge ist, gib nichts. Wir spenden nicht für militante
Tote!"
Im Flur standen Skulpturen, die Walther aus Eierkartons und Draht bastelte.
Eine Nachbarin, die unter dem Vorwand in seine vier Wände vorgedrungen war,
sich eine Flasche Korn für eine Geburtstagstorte borgen zu wollen, war
angesichts der anthropomorphen Kunstwerke sofort umgekehrt und hatte ihn
mit dem Eierlikör im Flur stehen lassen. (Der Likör hatte sowieso nicht
genug Prozente gehabt.)
Klopp-klopp! Als sich die Tür zum verschneiten Abend öffnete, stand da der
Hassjäger im schwarzen Mantel und mit seinem Kopf unter dem Arm. Er
fuchtelte mit den Armen und rief: "Huh! Huh!" Sein Atem stank nach Schnaps.
Walther zuckte zurück.
Draußen ertönte Gelächter. "Ey, Alter!", schrie jemand. "Der hat die Hose
voll!"
Der Hassjäger riss die Kapuze vom Kopf, warf den falschen Kopf weg und
grölte ein Lachen. Walther kannte ihn. Er war einer der Kerle, die im
Frühherbst vor seinem Haus gepöbelt hatten. Damals waren sie besoffen
gewesen. Jetzt auch.
"Ooh-ey ?", würgte einer und kotzte in den Schnee, was die anderen
hochgradig amüsierte. Sie kicherten wie Teenager, die ihre Eltern beim
Oralsex überrascht hatten.
"Hast du ein paar Bücher für meinen Ofen?", rief ein anderer. Walther
wollte ihnen die Tür vor der Nase zuschlagen. Dann besann er sich anders.
"Na klar", sagte er. "Kommt rein." Die Kerle tauschten stirnrunzelnde
Blicke.
"Wer? Ist? Da?", schrie Deutschland-Girl aus der Küche.
"Ey, da sind Weiber!", rief einer. Die anderen hoh-hohten und heh-hehten.
Walther kehrte in die Küche zurück. Er hörte, wie die Kerle ihre Schuhe
abtraten, dann fiel die Tür zu. "Alter! Seht euch den Scheiß an!", rief
einer beim Anblick der Plastiken.
Deutschland-Girl erstarrte. "Was wollen die hier?", fragte sie entsetzt.
"Sie brauchen Bücher für ihren Ofen", sagte Walther.
"Sie sind Kryptofaschisten! Einer wie der andere", kreischte
Deutschland-Girl, sprang auf und rannte vorsichtshalber zum Messerblock.
"Häh? Ich bin Mechatroniker, du Schlampe", erwiderte einer der Jünglinge.
Er nahm den Glühwein von Walther entgegen und sah sich neugierig in der
Küche um.
"Fickt eure Schafe!", schrie Deutschland-Girl.
Die Antwort war Gelächter.
"Ich würde lieber dich ficken!", rief ein Kerl. "Wieso hast n so viele
Bücher?", lallte ein anderer und wies auf die Regale, die auch hier an
jeder Wand standen.
"Wärmedämmung", erklärte Walther knapp.
Deutschland-Girl stand bebend am Küchentresen. Ihr Blick zuckte über die
Kerle. "Ihr wohnt bestimmt noch zu Hause", zischte sie.
"Immerhin wohnen wir nicht in der Klapse", rotzte ihr ein Kerl mit
steinhart hochgegelten Haaren entgegen.
"Eure Mami hat euch verhätschelt, und euer Papi hat euch verprügelt. So war
es bei Hitler, so war es bei Stalin", knurrte sie. "Ihr seid die zukünftige
Diktatur des Pöbels."
"Ey, Leydenfrost - wenn diese Tusse nicht endlich die Fresse hält, krieg
sie eine verpasst, kapiert?", sagte ein Kerl.
"Was machst n du überhaupt?", fragte ein anderer.
"Ich bin auf Jobsuche", antwortete Deutschland-Girl trotzig.
"Hartzvier? Alter!", grölte ein dritter und klatschte sich auf die
Schenkel. "Wir arbeiten wenigstens."
"Ja. An der Abschaffung der Demokratie", erwiderte sie.
Walther wurde unruhig. Deutschland-Girl war auf Krawall gebürstet, aber er
musste mit diesen Leuten leben. Also holte er einen Stapel Krimis und
Thriller aus der Speisekammer und packte ihn auf den Tisch. "Bitte schön",
sagte er.
"Hast du keine E-Books?", wollte einer wissen.
"Die brennen nicht so gut", erwiderte Walther.
"Ey, Leydenfrost", lallte ein anderer. "Die Leute erzählen, dass du dir
keine Glotze leisten kannst, aber auf Sadomaso stehst. Stimmt das?"
Walther stutzte. Das erzählten die Leute? "Aber sicher", sagte er
schließlich. "Nur hängt dieses nicht ursächlich mit jenem zusammen."
"Hör auf, so geschwollen zu quatschen", rief einer. "Hältst du dich für was
Besseres?"
"Geh lieber mal in die Kneipe", grollte ein anderer.
"Oder in einen Verein", fügte ein weiterer hinzu.
"Geht mal zu eurer Muschi-Mami", blaffte Deutschland-Girl.
"Mu? - was?", fragte einer der Kerle entgeistert.
"Noch ein Wort, und ich mach dich alle, du Opfer!", brüllte sein Nebenmann
und knallte den Glühwein auf den Tisch. "Ihr seid doch schwul!", schrie
sie.
Die Kerle glotzten sie an.
"Ja, schwul!", wiederholte Deutschland-Girl. "Warum steht ihr denn sonst so
auf kuschelige Männerrunden? Wenn euer Obersturmbannführer gerade mal nicht
hinsieht, holt ihr euch gegenseitig einen runter!"
"Alt-Herr!", stieß einer hervor.
Fäuste wurden geballt. In der Küche herrschte ein so frostiges Schweigen,
dass sogar Absinth gefroren wäre. Und da erklang er wieder - der Hufschlag
des Hassjägers: Klopp-klopp! Walther schien ihn als Einziger zu hören. Er
trat ans Fenster, sah aber weder Ross noch Reiter oder Hufspuren; sie waren
wohl zugeweht worden. Er drehte sich nach Luise um, die den Messerblock
umarmte, als wäre dieser ein Fels in der Brandung der Feindseligkeit. Ihre
Nasenflügel und schwarz-rot-gold geringelten Beine bebten, dunkelblonde
Locken fielen in ihr Gesicht.
Die Kirchenglocken bimmelten im heulenden Wind, und kurz darauf stapften
jene durch das Schneetreiben, die sich für gläubig hielten. Irgendetwas
flog gegen das Küchenfenster, dann explodierte ein Böller. Draußen lachten
Jugendliche. "Leydenfrost frisst Biokost!", grölten sie. Es krachte noch
einmal.
Deutschland-Girl zog erschrocken ein Brotmesser aus dem Block. "Das ist der
Mob!", kreischte sie.
"Steck das Messer weg, Schlampe!", ranzte einer der Kerle.
"Ey, Leydenfrost, diese Tusse ist ja noch verrückter als du", sagte ein
anderer.
"Scheiße, Mann! Bei so viel Papier im Haus muss man ja irre werden",
grunzte ein dritter.
"Wieso gibts hier weder Weihnachtsschmuck noch Baum?", brummte ein vierter.
"Nicht mal ne Lichterkette draußen …" Er schwankte zum Samowar und schenkte
sich selbst nach. "Ihr wisst genau, was sich gehört, wie?", fragte
Deutschland-Girl. "Ihr seid das Maß aller Menschen und Dinge, Sitten und
Bräuche, was? Dass ich nicht lache!" Sie ließ das Brotmesser in den Block
klacken.
Ein bulliger Kerl mit einer Frisur wie eine frisch gemähte Wiese wankte
drohend auf sie zu.
Sie angelte mit zwei Fingern nach dem Fleischmesser.
"Luise!", wiederholte Walther. "Bitte lass das! Du machst es nur noch
schlimmer."
"Diese Spastis sollen Ruhe geben!", schrie sie.
Walther sah, wie es in den jungen Männern brodelte. Dann sprang der als
Hassjäger verkleidete Typ so ruckartig vom Tisch auf, dass Glühweinbecher
umkippten, und stürmte zu Deutschland-Girl. Im nächsten Moment hallte das
Klatschen einer Backpfeife durch die Küche, im übernächsten lag sie
wimmernd auf dem Fußboden. Als der Kerl nach ihr treten wollte, ging
Walther dazwischen und kassierte umgehend ein blaues Auge - Klopp-klopp! Er
taumelte rückwärts gegen ein Regal. Bücher regneten auf ihn herab, fielen
auf den Boden wie tote Schmetterlinge. "Aua", stöhnte er.
"Gebt ihr doch Ruhe, ihr Arschlöcher!", schrie der Kerl und schüttelte die
Fäuste vor Walthers Gesicht.
Seine Freunde hielten ihn zurück.
"Ey, lass das, Alter. Die sind hier nicht normal", murmelte einer.
"Ja, lasst uns abhauen", sagte ein anderer.
Sie wichen zurück.
"Wenn ich dich noch einmal sehe, du Schlampe", brüllte der als Hassjäger
verkleidete Jüngling, "schlage ich dir die große Klappe ein!" Er trat in
Richtung Deutschland-Girl, die ihren Kopf schützend mit beiden Armen
bedeckte.
Dann gingen die Kerle. Im Flur krachte etwas auf die Dielen, die Tür
knallte zu. Walther kniete sich neben Luise, die am ganzen Körper zitterte.
"Sie sind weg", flüsterte er. "Ist alles okay?"
"Nein. Nichts ist okay", heulte sie. "Warum hast du diese Idioten
reingelassen?"
"Ich dachte, das würde die Lage entschärfen", antwortete er. "Aber du hast
sie ganz schön provoziert."
Sie schubste ihn weg, blieb schluchzend auf dem Fußboden liegen.
Walther sah sich in der Küche um. Glühwein war über den Tisch gelaufen,
hatte Thriller und Krimis durchtränkt, tropfte auf den Fußboden. Er tat
Eiswürfel in eine Gefriertüte, drückte sie auf sein blaues Auge und las die
aus dem Regal gefallenen Bücher auf. Sinnlos, dachte er. Sinnlos, sinnlos.
Luise hatte vergeblich für ihn gestritten. Für diese Leute blieb er ein
Fremdkörper. Er musste Abstand halten; das war die einzige Lösung. "Na,
komm", sagte er. "Wir machen es uns bis zum neuen Jahr im Wohnzimmer
gemütlich."
"Ich fahre nach Hause", erwiderte Deutschland-Girl trotzig. "Bei dem
Schnee?", fragte Walther. "Mit dem Fahrrad?" Sie rappelte sich auf und
verschwand ohne ein weiteres Wort.
Also stand er am Fenster, beschwipst und mit blauem Auge, und beobachtete
das Feuerwerk. Schließlich ging er in die Küche, und als er sich
nachschenken wollte, hörte er es von Neuem: Klopp-klopp! Er verzog das
Gesicht, schüttelte den Kopf. Und trottete zur Haustür, vorbei an
umgeworfenen Eierkartonplastiken. Draußen wehte Schnee durchs Dunkel. Ein
Krach wie der einer Panzerschlacht erfüllte die Nacht, und als über ihm
eine Rakete zerplatzte, erblickte er ihn - den Hassjäger. Er saß auf einem
grauen dreibeinigen Ross, aus dessen Nüstern feuchter Atem dampfte, und
hielt seinen bärtigen Kopf unter dem Arm.
"Leydenfrost!", sprach der Kopf. "Schlag zurück!"
Walther meinte, ein Augenzwinkern zu sehen. "Das ist nicht mein Ding",
murmelte er zerknirscht.
Der unter dem Arm klemmende Kopf lachte. "Wer sich nicht wehrt, wird nicht
respektiert!", rief er. "Schlage zurück, tritt zurück, spucke zurück,
spotte zurück!"
Walther schüttelte den Kopf. "Nein", sagte er. "Nein, danke." Er wandte
sich ab, und als wieder eine Rakete zu Grün und Rot zerplatzte, war der
Hassjäger weg; er hatte nicht einmal Hufspuren hinterlassen.
"Frohes neues Jahr!", schrie ein Nachbar über die verschneite Hecke.
Walther Leydenfrost schloss behutsam die Tür.
31 Dec 2010
## AUTOREN
Henning Ahrens
## TAGS
Familie
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