# taz.de -- "Provinzlexikon" für Deutschland erschienen: Ach, der Feldweg! | |
> Provinz ist überall, zumal in Deutschland. Der Schriftsteller Henning | |
> Ahrens hat ein unentbehrliches Lexikon über die Provinz in uns und um uns | |
> herum veröffentlicht. | |
Bild: "Ahrens ist durchaus geneigt, dem Feldweg eine besondere Aura zuzuspreche… | |
Das war in meiner rund fünf Jahrzehnte währenden Karriere als Leser | |
wirklich eine Premiere: ein ganzes Lexikon durchgelesen, dazu mit großem | |
Vergnügen und innerhalb weniger Tage. Nicht unbedingt linear, sondern den | |
Querverweisen folgend, wie es sich gehört, aber kein Stichwort ausgelassen | |
und sehr viel Gewinn daraus gezogen. | |
Selbstverständlich wird in den Stichworten auch die Definitionsfrage | |
gestellt, soll heißen, es wird erörtert, was denn Provinz eigentlich sei. | |
Nachdem das Wort aus seinen römischen Ursprüngen hergeleitet wurde (dort | |
war die Provinz ein Verwaltungsbezirk außerhalb des Kernlands), kommt | |
Ahrens dankenswerterweise zu dem Schluss, dass "über den Provinzialismus | |
nicht der Wohnort" entscheidet. Provinz, möchte man beinahe vermuten, ist | |
zumal in Deutschland überall, und am ausgeprägtesten vielleicht im | |
verachtungsvollen Gestus des Metropolenbewohners, der seine paar Straßen in | |
Mitte oder Prenzlauer Berg für das Zentrum des Landes hält. | |
Nähern wir uns der Provinz also mit einem anderen Ansatz. "Ich höre, was | |
die Berge und die Wälder und die Bauernhöfe sagen. Ich komme dabei zu | |
meinem alten Freund, einem 75-jährigen Bauern. Er hat von dem Berliner Ruf | |
in der Zeitung gelesen. Was wird er sagen? Er schiebt langsam den sicheren | |
Blick seiner klaren Augen in den meinen, hält den Mund straff geschlossen, | |
legt mir seine treu-bedächtige Hand auf die Schulter und - schüttelt kaum | |
merklich den Kopf. Das will sagen: unerbittlich Nein!" Das war nun nicht | |
Henning Ahrens, sondern der Schluss von Martin Heideggers Schmonzette | |
"Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz?" aus dem Jahre | |
1933. Von solcher Blut-und-Boden-Prosa ist Ahrens Lichtjahre entfernt, denn | |
er möchte die Provinz, in der er selbst lebt und aus der er kommt | |
(vielleicht wird Handorf auf der deutschen Literaturlandkarte ja mal etwas | |
Ähnliches wie Nartum oder Bargfeld), weder madig machen noch in den Himmel | |
heben, sondern einfach nur erklären. Und das gelingt ganz hervorragend, und | |
zwar deshalb, weil Ahrens von vornherein zwischen der geografischen und der | |
geistigen Provinz unterscheidet. | |
Die geografische findet sich etwa in Stichwörtern wie "Kuh", "Stoppelfeld", | |
"Waldweg", "Baggersee" und vielen anderen wieder - natürlich auch unter | |
"Baumarkt", "Mehrzweckhalle" und "Nagelstudio", denn im Gegensatz zu dem | |
oben zitierten Meisterdenker aus dem Schwarzwald ist Ahrens immer auf der | |
Höhe der Zeit, wie die folgende Gegenüberstellung zeigt: "Aber der Zuspruch | |
des Feldweges spricht nur so lange, als Menschen sind, die, in seiner Luft | |
geboren, ihn hören können. Sie sind Hörige ihrer Herkunft, aber nicht | |
Knechte von Machenschaften." Das war noch einmal Heideggers raunende | |
Stimme, aus dem Traktat "Der Feldweg", in die Welt geworfen 1949. Auch | |
Ahrens ist durchaus geneigt, dem Feldweg eine besondere Aura zuzusprechen, | |
die jedoch viel handfester gründet. "Ach, der F! Er hat seine eigene | |
Ästhetik. Z. B. der F. in den neuen Bundesländern, der häufig aus quer | |
liegenden Betonplatten besteht, was beim Radfahren für eine beständige | |
Erschütterung der besten Teile sorgt. Traditionell besteht er jedoch aus | |
zwei tief ausgefahrenen Rillen mit einem Grasstreifen in der Mitte; auch | |
hier gibt es beim Radfahren Probleme, weil man nie weiß, wo man fahren | |
soll, und außerdem bei Regen immer wieder durch die Pfützen rattert." Nach | |
seinen Erlebnissen im Auto auf Feldwegen mündet der Artikel noch einmal in | |
den sehnsuchtsvollen Schlussausruf: "Ach, der F!" | |
Soll also keiner sagen, dieser Autor habe keine Antenne für den emotionalen | |
Gehalt des Ländlichen. Im Gegenteil, so überregional gültig die 274 | |
Stichwörter des Lexikons sind, die Provinz, die hier beschrieben wird, hat | |
ein explizit norddeutsches, ja nachgerade niedersächsisches Flair. Dies ist | |
spürbar das Land, in das von Zeit zu Zeit die Kommissarin Charlotte | |
Lindholm von Hannover aus aufbricht, um Mordfälle aufzuklären, wobei sie | |
von jungen Polizisten oder alternden Pfarrern angemacht wird. | |
Was nun die geistige Provinz betrifft, so empfehle ich besonders die | |
Notizen zu "Intellektueller", "Asylbewerberheim", "Außenjalousie" und | |
"NPD". Bei aller Liebe zum Land ist Henning Ahrens kein Autor, der auch nur | |
das geringste Verständnis fürs Dumpfbackentum aufbrächte. Wie schwer es der | |
Kulturschaffende auf dem Lande hat, beschreibt Ahrens offenkundig aus | |
eigener leidvoller Erfahrung: "Schaffensprozess und Arbeitsalltag geben | |
vielen Rätsel auf: Da man als Schriftsteller zu Hause arbeitet, ist man der | |
in Büros und Betrieben malochenden Mehrheit sowieso suspekt; dass man mit | |
Sicherheit mehr Stunden herunterreißt als der normale Arbeitnehmer, um als | |
Freiberufler zu überleben, ist nicht ersichtlich." Natürlich ist das der | |
Boden fürs "Gerücht", einen integralen Bestandteil des provinziellen | |
Lebens, weil es "der Bestätigung der eigenen Lebensweise, Biederkeit und | |
Überlegenheit als auch der Stabilisierung der sozialen Ordnung" dient, "da | |
man sich durch Ausgrenzung anderer seiner gemeinsamen Werte versichert". | |
Diese Methode ist nicht auf die Provinz im engeren Sinne beschränkt, | |
sondern wird auch im Haus (oder der Festung) Europa fleißig angewandt. Das | |
zeigt schon, wie unerlässlich es ist, Ahrens Provinzlexikon im Hause zu | |
haben, wenn man die eigene Zeit verstehen will. | |
Im Übrigen gibt es auch viel zu lernen: was eine Grepe oder eine Kruke ist | |
etwa, warum die Zuckerrübe eine aussterbende Spezies ist und - das | |
anrührendste Stück -, was ein Knecht war. Ein Vademekum für jeden | |
Provinzbewohner und Provinzbesucher, also für uns alle. | |
Henning Ahrens: "Provinzlexikon". Knaus Verlag, München 2009, 300 Seiten, | |
19,95 € | |
23 May 2009 | |
## AUTOREN | |
Jochen Schimmang | |
## TAGS | |
Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neuer Roman von Henning Ahrens: Schuld und Milchdunst | |
In „Mitgift“ erzählt Henning Ahrens die Geschichte seiner bäuerlichen | |
Familie, die einen Nazihintergrund hat. Im Zentrum: ein | |
Vater-Sohn-Konflikt. |