# taz.de -- Neuer Film „Napoleon“: Ein Mann fällt aufwärts | |
> Ridley Scott zeichnet mit „Napoleon“ ein wenig vorteilhaftes Porträt des | |
> französischen Diktators. Joaquin Phoenix gibt den Herrscher mit | |
> Zweispitz. | |
Bild: Ein Held? Bei Ridley Scott ist Napoleon (Joaquin Phoenix) eher ein Trottel | |
Paris, 1793: Während der Henker den frisch guillotinierten Kopf von Marie | |
Antoinette in die Luft reckt und die auf dem Richtplatz versammelte | |
Menschenmenge jubelt, blickt ein junger Artillerieoffizier skeptisch drein. | |
Wenige Wochen später wird dieser Artillerieoffizier für die junge Republik | |
die britische Blockade der Hafenstadt Toulon beenden. Kurz bevor er den | |
Angriff befiehlt auf das Fort, das den Hafen überblickt, ist [1][Napoleon] | |
(Joaquin Phoenix) in Ridley Scotts neustem Film die Aufregung anzumerken. | |
Während seine Infanterie das Fort stürmt, stolpert [2][der spätere Kaiser | |
in Ridley Scotts] Spielfilm „Napoleon“ eher zum Sieg. Kaum setzt er sich | |
mit seinem Pferd in Bewegung, wird dieses frontal von einer Kanonenkugel | |
getroffen, als Napoleon keuchend vor Anstrengung die Brüstung des Forts | |
erklommen hat, sieht er sich einem deutlich stärkeren britischen Soldaten | |
gegenüber und wird erst durch das Eingreifen eines französischen Soldaten | |
gerettet. „Napoleon“ etabliert früh eine wenig heldenhafte Zeichnung des | |
Protagonisten. | |
Der Sieg in Toulon und die anschließende Beförderung zum Brigadegeneral | |
wird zum Ausgangspunkt von Napoleons Karriere. Als er wenig später bei | |
einem Ball Joséphine de Beauharnais (Vanessa Kirby) begegnet und sie quer | |
durch den Raum anstarrt, antwortet er stammelnd auf ihre Nachfragen. Die | |
beiden sehen sich wieder, heiraten kurz darauf, was den Anfangspunkt zu | |
einer Reihe von presslufthammerartigen Sexszenen setzt. Joséphine de | |
Beauharnais lässt das alles mit beeindruckender Gleichgültigkeit über sich | |
ergehen. | |
1799, zehn Jahre nach der Revolution, reißt Napoleon mit einem kleinen | |
Kreis Verschworener die Macht an sich. Auch bei diesem Coup gibt Napoleon | |
in Scotts Film kein gutes Bild ab: Er wird von den Angehörigen des | |
Parlaments überwältigt und flüchtet sich nur knapp vor die Tür zu Soldaten, | |
die ihm ergeben sind. Napoleon ernennt sich darauf nach Vorbild der antiken | |
römischen Republik zum ersten Konsul. | |
## Napoleon als unsicherer Tölpel | |
Napoleon umwirbt die europäischen Mächte. Er unterbreitet den Briten ein | |
Friedensangebot, umwirbt später Zar Alexander. Als er den britischen | |
Botschafter trifft, nachdem das Friedensangebot unbeantwortet geblieben | |
ist, zetert er diesen an: „Ihr Briten denkt, ihr seid so großartig, weil | |
ihr Boote habt.“ | |
Zwischen die Episoden vom Aufstieg Napoleons hat Scott Weißblenden gesetzt. | |
Die weiße Leinwand wirkt wie eine Erinnerung an die Projektionsfläche, die | |
Napoleon seit seinem Tod immer wieder war – als vermeintlicher | |
Kriegstreiber, als großer Reformer, als Bedrohung der feudalen Ordnung | |
Europas, als Neuerer. | |
Scotts Napoleon ist ein unsicherer Tölpel, der stets etwas zu hoch pokert, | |
letztlich aber durch glückliche Umstände unaufhaltbar aufwärts fällt, | |
vorangetrieben von seiner innig geliebten Mutter und Joséphine de | |
Beauharnais. Phoenix lässt Napoleon schnaufen und grunzen. Doch darüber | |
hinaus bleibt das Bild von Napoleon, das Scott und sein Hauptdarsteller | |
entwerfen, unklar. | |
Weil Napoleon als Figur schwer zu fassen bleibt, wirkt auch dessen | |
Entwicklung in dem Film rätselhaft. Kurz nach der Tour de Force durch die | |
Anfänge von Napoleons Karriere ist der Kaiser in der Schlacht von | |
Austerlitz plötzlich genialer Stratege, lockt die vereinigten Truppen der | |
Österreicher und Russen in eine Falle, indem er Truppen auf einer Anhöhe | |
verbirgt und Kanonen abdeckt. | |
Filmisch ist das recht mittelmäßig in Szene gesetzt: Die Zeichnung der | |
Schlacht ist holzschnittartig, die Befehle würden in ihrer Unklarheit | |
unweigerlich zu Chaos führen und besonders koordiniert wirken die | |
Bewegungen der zahllosen Komparsen auch nicht. | |
Spätestens jetzt muss man sich die Frage stellen, was Scott denn nun | |
eigentlich an der Figur gereizt hat. Die Figur Napoleon bietet Stoff für | |
jeden Regiegeschmack: sein Aufstieg und seine Feldzüge durch Europa, bei | |
denen er ganze Regionen befreit und geplündert hat, böten je nach Vorliebe | |
Stoff für eine europäische Selbstbefragung oder militärische Kostümdramen. | |
Sein politisches Taktieren und seine Reformen in Europa und die | |
gleichzeitige Wiedereinführung der Sklaverei in den Kolonien laden ein zu | |
einer Globalgeschichte. | |
Napoleon ist ein dankbarer Stoff, man muss sich nur entscheiden. Genau das | |
tut Ridley Scott aber nicht. Er interessiert sich weder für den Politiker | |
noch für den Feldherrn sonderlich, skizziert jedoch pflichtschuldig alles | |
ein bisschen. Er räumt der Beziehung zwischen dem Kaiser und Joséphine de | |
Beauharnais einigen Raum ein, ohne dass die Darstellung der Beziehung je | |
besondere Tiefe bekäme. Napoleon und Joséphine verlieben sich, streiten, | |
haben besagten Presslufthammer-Sex und trennen sich schließlich | |
widerwillig, als der gewünschte Thronfolger ausbleibt. | |
Scotts Film dauert zweieinhalb Stunden, ein Director’s Cut von über vier | |
Stunden ist geplant. Beides ist viel Zeit, aber zu wenig, um all die | |
Ereignisse, die sich in Napoleons Leben abspielten, darzustellen und | |
nebenher noch ein Beziehungsdrama einzufädeln. Nicht zufällig haben sich | |
viele der bisherigen Napoleon-Filme auf bestimmte Abschnitte des Lebens des | |
französischen Kaisers konzentriert. | |
Abel Gances monumentaler, fünfeinhalbstündiger Stummfilm von 1927 | |
beschränkt sich auf die Zeit vor Napoleons Selbsternennung zum Konsul. In | |
jenen Szenen aus Ridley Scotts Film, in denen Napoleon Joséphine | |
kennenlernt, klingt Gances Film deutlich an. | |
## Schockstarr angesichts der Fülle des Materials | |
Lupu Picks Stummfilm „Napoleon auf St. Helena“ (1929) beschränkt sich auf | |
die letzten Lebensjahre. Das ist auch der Fokus eines Theaterstücks von | |
Giovacchino Forzano, an dem Benito Mussolini als Ideengeber mitgewirkt hat | |
und das Mitte der 1930er Jahre Ausgangspunkt einer frühen filmischen | |
Kooperation zwischen italienischem und deutschem Faschismus war („Hundert | |
Tage“/“Campo di maggio“). | |
Karl Grune und Sergei Bondartschuk haben sich 1929 beziehungsweise 1970 der | |
Schlacht von Waterloo angenommen. Vor allem Bondartschuk bemühte sich um | |
eine akkurate Annäherung an den Verlauf der Schlacht, die das Ende von | |
Napoleons politischer Karriere markieren sollte. Auch aus Bondartschuks | |
Film klingen in „Napoleon“ einige Szenen während der Schlacht bei Waterloo | |
an, doch erneut bleibt Scotts Inszenierung in der Präzision weit hinter dem | |
Vorbild zurück. | |
„Napoleon“ krankt letztlich an denselben Problemen, die vor knapp zehn | |
Jahren schon [3][Scotts „Exodus: Götter und Könige“] plagten und die sich | |
als Monumentalität um der Monumentalität willen beschreiben lassen. Wie | |
„Exodus“ ist auch „Napoleon“ ein solide inszenierter Kostümschinken, d… | |
nicht wehtut, der einen als Zuschauer aber auch gleichgültig lässt. Auch | |
von den Bildern von Kameramann Dariusz Wolski bleibt wenig im Kopf, nachdem | |
man das Kino verlassen hat. | |
Am meisten wundert man sich, dass Scott nicht mehr aus den Szenen mit | |
Napoleon und Joséphine macht. Hätte er der Dekonstruktion Napoleons als | |
Übermann ein wenig mehr Interesse an der Figur Joséphine gegenübergestellt, | |
wäre ein deutlich interessanterer Film herausgekommen. | |
Stattdessen wirkt Scotts Inszenierung schockstarr angesichts der Fülle des | |
Materials. Man darf gespannt sein, ob das beim nächsten absehbaren | |
Napoleon-Projekt auch so sein wird. Steven Spielberg arbeitet seit Jahren | |
an einer Adaption von Stanley Kubricks seinerzeit nicht realisiertem | |
Napoleon-Film, als Serie für den US-Sender HBO. | |
20 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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