# taz.de -- Nachverdichtung in Berlin: Wohnen statt Freizeit | |
> Eine Sporthalle im Märkischen Viertel soll nach 40 Jahren abgerissen | |
> werden. Dabei erfüllt die Sporthalle auch soziale Funktionen im Viertel. | |
Bild: Michael Schlehuber und sein Lebenswerk: Squash Tennis Nord im Märkischen… | |
Berlin taz | Der Mensch lebt nicht von Brot allein. Er braucht genauso | |
geistige Nahrung. Aber auch Kleidung und Obdach. Wohnungen werden also | |
gebraucht. Und weil es in Berlin derzeit nicht genug davon gibt, hat die | |
Politik der Stadt die Losung ausgegeben: [1][Bauen, bauen, bauen]. Für die | |
praktische Umsetzung sollen landeseigenen Wohnungsbauunternehmen wie die | |
Gesobau sorgen. So weit, so gut. | |
Doch manchmal gibt es dabei [2][Zielkonflikte]. Denn der Mensch wohnt nicht | |
in einem Haus allein. Dazu gehört auch ein [3][funktionierendes städtisches | |
Wohnumfeld] mit sozialer Infrastruktur wie Kitas und Schulen, | |
Krankenhäusern, mit Verkehrsanbindung und Flächen für Freizeit, Erholung | |
und Sport. Letzteres ist im Märkischen Viertel in Reinickendorf [4][nun in | |
Gefahr]: Die Gesobau will hier eine funktionierende und gut besuchte | |
Sporthalle abreißen lassen. Ende August läuft der Mietvertrag aus. | |
Michael Schlehuber stünde dann „vor dem Nichts“, wie der 80-Jährige es | |
formuliert. Das [5][„Squash Tennis Nord“] ist Schlehubers Lebenswerk. So | |
sehen es viele der jährlich rund 100.000 Besucher der Halle in der | |
Treuenbrietzener Straße 36 am Ostrand des Märkischen Viertels. In der | |
Tennishalle sowie der Mitte der 90er Jahre von Schlehuber dazugebauten | |
Fußballhalle mit ihren vier Feldern für In-Door-Fußball spielen Alt und | |
Jung, Privatleute wie Vereine. | |
## Guter Geist des Viertels | |
Im Märkischen Viertel ist die Halle und Schlehuber als ihr guter Geist eine | |
Institution. Seit 40 Jahren kümmert sich Schlehuber hier um alles. Nach der | |
Eröffnung 1979 war er zunächst Tennislehrer und Manager, zwischenzeitlich | |
wurde er Pächter, gründete eine Betreiberfirma, und nun firmiert er noch | |
bis Ende des Monats als Mieter. | |
Die Halle sieht zwar arg in die Jahre gekommen aus, aber sie funktioniert, | |
dafür hat Schlehuber gesorgt. Vielleicht ist es sogar das konservierte | |
70er-Jahre-Flair, als Squash eine Modesportart wurde und Tennis sich vom | |
Ruch des Snobismus befreien konnte, das der Halle mit integrierter Kneipe – | |
wie es sie heute auch nur noch selten gibt – seinen Charme verleiht. | |
Warum also soll die Halle dann abgerissen werden? Die Gesobau will und soll | |
Wohnungen bauen. Nicht direkt hier, wo Kleingärten und Gewerbegebiet die | |
unmittelbare Nachbarschaft bilden. Aber das Hallengrundstück werde als | |
Ausgleichsfläche für den Wegfall von Schrebergärten an andere Stelle | |
gebraucht, meint die Gesobau. Außerdem werde geprüft, ob nicht eine neue | |
Kita hier unterkommen könnte. Alles dringend benötigt und offenbar | |
dringender als eine viel frequentierte und von vielen hoch geschätzte | |
Sportstätte in privater Trägerschaft. Sporthallen gibt es im Märkischen | |
Viertel nach Ansicht des Bezirksamts genug. Das meint auch die Gesobau. | |
Die Wohnungsbaugesellschaft hat das [6][Hochhausgebirge des Märkischen | |
Viertels] in den Jahren 1963 bis 1974 auf Geheiß des damaligen Senats | |
gebaut. Es entstand eine ganz neue Stadt für heute mehr als 40.000 | |
Menschen. Sie ersetzte einen „grünen Slum“ mit wild gewachsenen Lauben und | |
stellte Umsetzwohnungen auch für die Mieter aus den innerstädtischen | |
Kahlschlagsanierungsgebieten bereit. | |
## Ausreichend Angebote | |
Bei der Fertigstellung des Märkischen Viertels gab es dann zwar | |
vergleichsweise komfortable Wohnungen (gut 15.000 von insgesamt 17.000 | |
gehören der Gesobau), aber lange nicht genug soziale Infrastruktur. Und auf | |
eine U-Bahn-Anbindung warten die,Märker' bis heute. Die Gesobau hat zur | |
Kompensation der Mängel – etwa bei den ungenügenden Sport-, Spiel‑ und | |
Freizeitmöglichkeiten – seit Jahrzehnten Wohnumfeldverbesserungen | |
vorangetrieben. So weit, dass die Squash- und Tennis-Halle Nord sowohl vom | |
Bezirk als auch von der Gesobau als obsolet betrachtet wird. | |
Im Bereich des Märkischen Viertels unterhält der Bezirk Reinickendorf laut | |
eigenen Angaben 14 Sporthallen, zwei Fußballplätze, einen Baseballplatz, | |
ein Leichtathletikstadion sowie mehrere Tennisplätze. Mehr als zehn | |
Sportvereine, die Volkshochschule, zwei Betriebssportgruppen und ein Träger | |
der Jugendhilfe würden den Bewohnerinnen und Bewohnern des Viertels dort | |
„ein breites Angebot an Sportmöglichkeiten“ anbieten, teilt das Bezirksamt | |
auf taz-Anfrage mit. | |
Von Turnen, Fechten und Judo über Fußball bis zu Cheerleading ist so | |
ziemlich alles dabei. Und nicht nur das: „Über den organisierten Sport | |
hinaus werden auch der Mehrgenerationenspielplatz am Seggeluchbecken und | |
die BMX-Bahn sehr gut angenommen“, so ein Sprecher des Berzirksamts. Hinzu | |
komme noch ein Hallenbad. Daher könnte man auch beim Wegfall der Halle von | |
Squash Tennis Nord von „keiner Unterdeckung in der Region Märkisches | |
Viertel“ sprechen. | |
Schade wäre es trotzdem für Michael Schlehuber, der sein Lebenswerk gern | |
erhalten sehen würde. Mindestens ein Nachfolger als Betreiber stünde auch | |
schon bereit: Der im Bezirk angesiedelte Fußballverein MSV Normannia 08 ist | |
interessiert, würde den Spielbetrieb aufrechterhalten und gern sein | |
Vereinsheim und sein Büro hier einrichten. Potenzielle Sponsoren für eine | |
Übernahme hätte man auch schon an der Hand, sagt Zafer Yelen, ehemaliger | |
Fußballprofi von Hansa Rostock und erster Vorsitzender von Normannia. | |
## Zu dicht für Nachverdichtung | |
Aber bei der Gesobau scheinen die Würfel für einen Abriss der Halle bereits | |
gefallen. „Der dringend notwendige Wohnungsbau hat Vorrang“, heißt es auf | |
taz-Anfrage. Der Bezirk sieht durch den Abriss der Halle Potenzial für 190 | |
Wohneinheiten. Wo diese Wohnungen entstehen sollen, darüber hält sich die | |
Gesobau auf Nachfrage jedoch bedeckt. | |
Dabei ist das Märkische Viertel für eine [7][Nachverdichtung] eigentlich | |
bereits zu dicht bebaut. Die Bau‑ und Einwohnerdichte ist vergleichbar mit | |
den Altbauquartieren in Wedding oder Prenzlauer Berg. Und die | |
Hochhausschluchten werden eben für Spiel‑, Sport‑ und Freizeitflächen | |
gebraucht. Bleibt also die Frage: Wohnungsbau überall und immer? | |
Schließlich kann der Boden in der Stadt nur einmal verteilt werden. Und, | |
das ist ja gerade die Lehre aus der seinerzeitigen Fehlplanung des | |
Märkischen Viertels: Wohnungen allein machen noch keine funktionierende | |
Stadt. | |
Neben der nötigen Infrastruktur muss das Augenmerk bei der Stadtplanung | |
heute darauf gerichtet werden, dass die hochverdichteten Baumassen die | |
Lebensqualität ihrer Bewohner nicht abwürgen – etwa durch fehlende | |
Grünflächen und ein dadurch überhitztes Stadtklima. Ein Bündnis von | |
Initiativen und dem Berliner Mieterverein fordert daher unter dem Motto | |
„[8][Klimastadt Berlin 2030]“ eine [9][„Bauwende“]: „Der Erhalt und d… | |
Anpassung des Gebäudebestands“ sei „dem Neubau vorzuziehen“, heißt es. | |
Eine funktionierende Sporthalle abzureißen ist für viele jedoch nicht nur | |
aus klimapolitischer Perspektive unsinnig. Denn abgesehen davon übernimmt | |
Squash Tennis Nord auch soziale und integrative Funktionen. In einem | |
Viertel, in dem über 120 Nationen leben und etwa die Hälfte der Bewohner | |
Migrationshintergrund hat. | |
Auch Zafer Yelen kommt aus dem Märkischen Viertel. Der Fußballer hat im | |
Bezirk bereits eine Bolzplatz-Liga für Jugendliche gestartet und | |
afghanische Flüchtlinge trainiert. Die Sporthalle in der Treuenbrietzener | |
Straße wird er aller Voraussicht aber nicht betreiben können. Warum die | |
Gesobau nicht nach Alternativen zum Abriss eines sozial, gesundheitlich und | |
integrativ förderlichen Projekts sucht, ist für ihn und viele der Anwohner | |
unverständlich. | |
27 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Berlins-Bausenator-passt-Ziele-an/!5930146 | |
[2] /Nabu-Berlin-ueber-Neubau-und-Umweltschutz/!5903298 | |
[3] /Bebauung-von-Friedhoefen/!5923054 | |
[4] https://vimeo.com/828671681 | |
[5] http://squash-tennis-nord.de/ | |
[6] /Sanierung-des-Maerksichen-Viertels/!5159132 | |
[7] /Mieter-gegen-Nachverdichtung/!5728782 | |
[8] https://berlin-plattform.de/buendnis-klimastadt-berlin-2030/ | |
[9] /Neues-Buendnis-fuer-gruenes-Bauen/!5913408 | |
## AUTOREN | |
Ronald Berg | |
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