Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Leben im Märkischen Viertel: Stolz und Vorurteil
> Hochhaussiedlungen könnten die Wohnungskrise lösen, haben aber keinen
> guten Ruf. Was sagen Menschen, die hier leben oder aufgewachsen sind?
Wenn ich früher aus der Schule nach Hause kam, beeilte ich mich mit den
Hausaufgaben, um ready zu sein, wenn die Stimme meines Kumpels Tobi durch
die Gegensprechanlage schallte: „Kann Bianca zum Spielen runter kommen?“
Zwang der Regen uns dazu, drinnen zu bleiben, ließ Tobi zum Trost einen mit
Süßigkeiten gefüllten Korb an einer Schnur von seinem Balkon im 12. Stock
zu unserem, ein Stockwerk tiefer, herunter. Ich nahm die Ware entgegen und
legte eine Dankeschönnachricht in den Korb.
Tobi und ich wuchsen im selben Plattenbau des Märkischen Viertels auf,
einer sogenannten Großwohnsiedlung in Berlin-Reinickendorf. Wir
Anwohner*innen sprechen für gewöhnlich vom MV, andere nennen es
Sozialghetto, Betonwüste, Problemfamilienkiez, Arbeiterquartier,
Trabantenstadt.
Es ist ein Zuhause mit vielen Namen. Welcher aber trifft es wirklich?
Christa Reicher, die als Professorin für Städtebau und Entwerfen an der
RWTH Aachen auch zu Großwohnsiedlungen geforscht hat, spricht von einer
„großen Diskrepanz zwischen der Innen- und Außenwahrnehmung von
Großwohnsiedlungen“. Sie sagt: „Der Ruf ist meist schlechter als die
Wertschätzung der Bewohnerschaft.“
Vor 60 Jahren zogen die ersten Bewohner*innen ins Märkische Viertel.
Damals galten solche Siedlungen als Wohnform der Zukunft. Städte wollten
die engen Gründerzeitsiedlungen mit Hinterhöfen, Seitenflügeln und
Toilette auf halber Treppe hinter sich lassen. Und es wurde viel Wohnraum
in kurzer Zeit benötigt. Wie heute. Zeit, nachzufragen: Was ist denn nun zu
halten von der Idee, massenhaft in die Höhe zu bauen? War es eine gute oder
eine schlechte? Und wie leben die Menschen dort heute?
Errichtet wurde das Märkische Viertel, wie viele Großwohnsiedlungen, als
Antwort auf die Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg. Ganze Städte waren
zerbombt, es musste schnell, günstig, ressourcenschonend gebaut werden. Die
serielle Bauweise entsprach diesen Kriterien: In Fabriken vorgefertigte
Betonteile werden auf der Baustelle zusammengefügt. Ein bisschen wie
Legosteine im Kinderzimmer.
Überall in Deutschland – Ost wie West – entstanden solche Siedlungen. Ihre
Namen sind zumeist regional bekannt als Synonym für „die Hochhaussiedlung“,
oft am Rande der Stadt: München-Hasenbergl, Stuttgart-Asemwald – auch
„Hannibal“ genannt –, Bremen-Tenever, [1][Hamburg-Mümmelmannsberg],
Göttingen-Holtenser Berg, Dresden-Gorbitz, Rostock-Lütten Klein,
Berlin-Marzahn, Jena-Lobeda, Halle-Neustadt oder Leipzig-Grünau.
Heute bieten Großwohnsiedlungen Wohnraum für über 8 Millionen Menschen
deutschlandweit und haben einen Anteil von 20 Prozent am gesamten
Mietwohnungsbestand. Das MV besteht aus 18.000 Wohnungen für 45.000
Menschen, darunter überdurchschnittlich viele ältere. Auch der Anteil der
Kinder und Jugendlichen liegt nach Angaben des Bezirksamts Reinickendorf
weit über dem Berliner Durchschnitt. Auffällig hoch ist der Anteil der
unter 15-Jährigen, die in Familien leben, die finanziell vom Staat
unterstützt werden. Wegen der günstigeren Mieten ziehen Großwohnsiedlungen
häufig Menschen an, die nicht viel Geld haben.
Beata Chomątowska ist eine polnische Journalistin und Schriftstellerin, die
in ihrem Buch „Betonia“ die Idee von Häusern aus Beton in architektonischen
und soziologischen Kontext setzt und dafür Großwohnsiedlungen in
verschiedenen Städten Europas besucht hat. Chomątowska erklärt, dass im
kapitalistischen Westen und damit nicht nur in Deutschland, sondern auch in
Frankreich, Großbritannien, Schweden große Wohnsiedlungen im Rahmen von
Programmen entstanden, die von der zentralen oder kommunalen Verwaltung
gefördert wurden: „Diese Wohnungen waren vor allem für Menschen mit
niedrigerem Einkommen bestimmt. Im Osten wohnten alle in Plattenbauten, da
es keine solcher Einschränkungen gab.“
In Ost und West waren mit den neuen Großwohnsiedlungen Hoffnungen
verbunden. Die Leute [2][freuten sich über den höheren Lebensstandard] etwa
durch die Zentralheizung, die Räume waren heller, oft gehörten Balkone
standardmäßig dazu, ebenso ein eigenes Badezimmer. Für viele boten die
Wohnungen in der neuen Siedlung zum ersten Mal die Möglichkeit, überhaupt
eine bezahlbare eigene Wohnung zu bekommen.
Das gilt auch für meine Eltern. Sie sind 1989 aus dem damals noch
kommunistisch regierten sozialistischen Staat Polen nach Deutschland
gezogen, um ihren Kindern bessere Chancen für die Zukunft zu verschaffen.
Der erste Stopp war ein Übersiedlerheim im Berliner Villenviertel Wannsee.
Der Umzug in die Wohnung im Plattenbau im MV kam meinen Eltern wie ein
riesiger Fortschritt vor. Plötzlich hatten sie 85 Quadratmeter statt 30 mit
zwei Kindern zur Verfügung und mussten weder Küche noch Bad mit anderen
Familien teilen.
Die direkte Nachbarschaft bestand zwar nicht länger aus Wäldern, Seen und
schicken Einfamilienhäusern, aber dafür konnte man von unserem Balkon aus
den ehemaligen Mauerstreifen sehen, den Fernsehturm, der in der Ferne am
Horizont winzig wirkte und manchmal auch einen Heißluftballon, wie einen
kleinen Punkt am Himmel, der als Touristenattraktion über Berlin-Mitte
flog. Am meisten liebte ich den Ausblick an Weihnachten, wenn die
unzählbaren Fenster in den vielen hohen Gebäuden um mich herum von
Lichterketten warm erleuchtet waren.
Viele Menschen neigen dazu, die Vergangenheit zu verklären. Die Erinnerung
an eine Blockgemeinschaft, ähnlich wie in einer Kleinstadt oder einem Dorf,
lädt zu nostalgischen Gefühlen ein. Der „Plattenbauromantik“ wurde nicht
umsonst ein eigenes Wort gewidmet.
Ihr gegenüber stehen abfällige Stereotype über Großwohnsiedlungen.
Stichwort: sozialer Brennpunkt. Ein Ort der Kriminalität, der Drogen und
des Schmutzes. Dabei befindet sich der Norden des Viertels, laut
polizeilichem Kriminalitätsatlas der Bezirksregionen Berlins, im unteren
Mittelfeld, was die Anzahl krimineller Straftaten angeht. Der Süden des
Viertels fällt im stadtweiten Vergleich sogar in die Kategorie mit den
wenigsten Strafvorkommen.
Das ändert nichts am Vorurteil. Spätestens nachdem ich auf ein Gymnasium
außerhalb des Viertels gewechselt war, wurde mir als Jugendliche bewusst,
dass meine Nachbarschaft keinen guten Ruf genießt. Statt zu widersprechen
und klarzumachen, dass mich meine Kindheit im MV weniger an „4 Blocks“ und
mehr an die Kinder von Bullerbü erinnerte, schwieg ich. Ich erzählte weder
von dem Jugendzentrum, in dem ich Holz hacken lernte sowie an Kunstkursen
und Kochnachmittagen teilnahm, noch von den Spielplätzen, auf denen ich
Piratin, Hexe und Prinzessin war. Ich erzählte nichts von dem Baldachin,
den meine Eltern auf meinen Wunsch hin in mein gemütliches Kinderzimmer
gehängt hatten oder von meiner Nachbarin Oma Anna, die maximal mit
Yoguretten dealte.
Erst nachdem wir aus dem Märkischen Viertel rausgezogen waren, fing ich an,
gern zu erzählen, wo ich aufgewachsen war. Plötzlich war ich stolz auf
etwas, für das ich mich früher geschämt hatte. Ich integrierte meine
Vergangenheit in eine Selbsterzählung irgendwo zwischen
Aufsteigergeschichte und Lederjackenimage. Etwas, das mir früher
mitleidsvolle Blicke beschert hatte, verschaffte mir plötzlich Anerkennung.
Dabei habe ich es nicht mal selbst rausgeschafft, sondern durch meine
Eltern. Sie haben mit ungesundem Fleiß, Glück und den Privilegien weißer,
christlicher Ausländer einen Weg gefunden, das MV hinter sich zu lassen.
Und mich haben sie mitgenommen. Unsere Scham war und ist ein großer
Treiber, aber sie hat uns nichts geschenkt, nur gekostet.
Heute wird Wohnraum wieder dringend benötigt, serielles Bauen ist erneut
Thema. Auch deshalb lohnt ein genauer Blick auf Großwohnsiedlungen wie das
Märkische Viertel – obgleich die neuen Gebäude anders aussehen werden als
die von damals. Christa Reicher, die Architekturprofessorin aus Aachen,
sieht eine neue Chance für das Konzept des seriellen Bauens.„Mit Hilfe von
digitaler Vernetzung, Software und Automatisierung ermöglicht diese
Bauweise eine drastische Verkürzung der Bauzeit vor Ort“, sagt sie. „Eine
mögliche Beeinträchtigung der Lebensqualität von Anwohnern der Baustelle
durch Lärm und Schmutz wird reduziert, weil die fertigen Bauteile hier nur
noch zusammengesetzt werden.“
Außerdem macht die Vorfertigung es einfacher, Bauzeiten realistisch
einzuschätzen und Prozesse zu optimieren. Reicher sagt aber auch, dass es
bei dem hohen Druck, der auf dem Wohnungsmarkt lastet, „nicht nur um Masse
gehen kann, sondern auch um Wohn-, Lebens- und Gestaltqualität“.
Politisch scheint die Frage, wie wir neuen Wohnraum schaffen, Vorrang vor
der Frage zu haben, wie wir die Lebensqualität in bestehenden Wohnräumen
verbessern. „Wir brauchen wahrscheinlich 20 neue Stadtteile in den
meistgefragten Städten und Regionen – so wie in den 70er Jahren“, sagte
Kanzler Olaf Scholz 2023 bei einer Veranstaltung der Heilbronner Stimme.
In den 70ern wurde die Nachhaltigkeit der seriellen Bauten in den
Kategorien Zeit- und Materialeinsparung gemessen. Lebens- und
Gestaltqualität hingegen bedeutet für die meisten Menschen, in Naturnähe zu
wohnen oder in einem belebten Stadtteil mit guter Infrastruktur, hübschen
Cafés, Kinos, Ausgehmöglichkeiten. Auch meine Familie ist aus dem MV
rausgezogen, als sie es sich leisten konnte.
Heute wohne ich in einer Genossenschaftswohnung mit sieben Mietparteien,
ich habe 50 Quadratmeter für mich ganz allein. Meine Nachbarschaft besteht
aus einer Apotheke, einem Lidl und einem Tchibo. Der Bär steppt hier auch
nicht gerade, aber ich habe zwei U-Bahnhöfe sowie einen Park direkt vor der
Nase und einen wunderschönen Innenhof – gerade mal 15 Fahrradminuten vom
Märkischen Viertel entfernt, im selben Bezirk.
Ich fahre immer noch regelmäßig dort hin, etwa wenn ich Freund*innen
besuche. Spätestens an Weihnachten ist es wieder soweit, wenn sie im
Gartencenter Holland gegenüber meiner alten Grundschule die Miniaturwelten
ausstellen. Dann statte ich meiner alten Hood einen Besuch ab und ich weiß
jetzt schon, dass ich dabei viel Wärme im Bauch haben werde.
Wie geht es den Menschen, die heute im Märkischen Viertel leben? Unsere
Autorin hat drei von ihnen getroffen.
## „Der Himmel hier ist nie frei. Das macht schon was mit einem“
Daunenjacken machen sich gut in zugigen Plattenbauunterführungen.
Vielleicht [3][widmete Selim ihnen deshalb einen Song]: „In meiner
North-Face-Daunenjacke 2003, wir haben Hosen in den Socken so wie 2002.“
Rein optisch würde er sich gut als harter Straßenrapper machen: breite
Schultern, Glatze, schwarzer Vollbart. Aber wenn Selim rappt, werden weder
Frauen verachtet, noch Homosexuelle beleidigt oder Gewalttaten
verherrlicht. Selim hat selbst zu viel Rassismus erlebt, als dass er auf
billige Pointen setzen würde. Im MV bietet er wöchentlich Rap-Coachings für
Jugendliche in Jugendzentren an.
Wie ein Leuchtturm sticht das knallrote Gebäude vor dem grauen Himmel und
den zahlreichen Plattenbauten hervor. Das Jugendzentrum comX grenzt ans
Jugendamt Reinickendorf und befindet sich in unmittelbarer Nähe zur
Kleingartenkolonie Frohsinn, der Jugendkunstschule Atrium und der
Familienfarm in Lübars. Als Selim die Tür zum Jugendzentrum öffnet, hält
ihm ein Junge zur Begrüßung die Faust hin. „Wir machen gleich
Nudelauflauf!“ Einmal in der Woche ist Kochtag. Selim verspricht, zum Essen
zu kommen.
Selims Kollege Burak sitzt bereits am Rechner und mastert einen Song.
„Meine Herkunft: Ausland. Gehasst vom Amt. Meine Herkunft: Ausland. Wir
sind Immigrant“, hohe Stimmen tönen aus den Boxen. Es sind die Stimmen von
geflüchteten Kids, die in den Wohnungen der Gemeinschaftsunterkunft
Senftenberger Ring im MV leben und dort zur Schule gehen. Sie sind durchs
Musikmachen ins comX gekommen, Selim hat sie eingeladen. Um ihn herum
stehen Mikrofone, ein Schlagzeug, Gitarren, sogar eine Radiostation, von
der aus eine queere Sendung produziert wird. Die Tonkabinen sind
professionell mit schallisolierendem Schaumstoff verkleidet. „Es ist
wichtig, dass die Kinder spüren, dass wir sie ernst nehmen. Sie sollen
nicht mit einem Handymikro abgespeist werden. Wenn ich als Jugendlicher
einen Ort wie dieses Studio gekannt hätte, ich hätte hier gewohnt.“
Selim ist in einer kleinen Wohnung im Wedding aufgewachsen. Keine Platte,
aber auch kein Luxus. Seine Vorliebe für Musik entdeckte er schon als Kind:
„Mein Stiefvater hat Tote Hosen gehört, also habe ich mit Deutschrock
angefangen.“ In der Grundschule kam Rap dazu. „Irgendwer hat mir dann Samy
Deluxe gezeigt und der hat genau über die Dinge gerappt, die mein Leben
bestimmt haben. Er wusste, wie es ist, mit einem anderen Vater
aufzuwachsen, wenn der eigentliche Vater eine andere Hautfarbe hat, was
dich zum einzigen Schwarzen Kind in einer weißen Familie macht.“ Mit Rap
hat Selim ein Ventil für seine Gefühle gefunden. Schon im Kinderzimmer,
zwischen Hochbett und 50-Cent-Poster, schrieb er erste Songs und nahm sie
mit einem Kassettenrekorder auf.
Dennoch schlug er zunächst einen Werdegang als Übersetzer für Deutsch,
Englisch und Französisch ein. Klingt vernünftig, machte ihn nur leider
nicht glücklich. „Während der Pandemie hatte ich Zeit zum Nachdenken. Ich
dachte oft an meinen Opa, der immer gesagt hat: Mach, was dir Spaß macht!“.
Selims Opa wurde 1956 in Ungarn während Widerständen gegen die Sowjetunion
verletzt und flüchtete nach Deutschland. „Er hat eine neue Sprache gelernt,
studiert und mit meiner Oma eine Familie durchgebracht. Am Ende war er
Professor und Doktor.“
Mit seinem Opa als Vorbild, das sich nicht unterkriegen lässt, wagte Selim
den Neustart. Gemeinsam mit dem befreundeten K’Sino nahm er ein Album auf
und gründete das Label „Global Origins“. Zeitgleich fing er im
Jugendzentrum an, mit dem Nachwuchs Songtexte zu schreiben. Freunde waren
Selims erster Bezugspunkt zum MV. Seine Oberschule befand sich an der
Grenze zwischen Wedding und Reinickendorf. So knüpfte er schon als Teenager
erste Kontakte mit Menschen aus der Siedlung und entwickelte Sympathie für
das MV. „Die Probleme, die die Leute in meinem Kiez haben, dem Wedding,
sind die gleichen wie hier im MV. Die Höhe der Häuser ist der einzige
Unterschied. Der Himmel im MV ist nie frei. Ich glaube, das macht schon was
mit einem.“
Trotzdem ist das MV für Selim zu einem Ort der Perspektive geworden. Er
bewundert, dass hier „viele Menschen aus verschiedenen Ländern mit
unterschiedlichen Problemen zusammenleben und das größtenteils ohne
Konflikte“. Der Gedanke, seine Bühnencoachings in einem reicheren Stadtteil
zu unterrichten, kam Selim nie. „Rap ist für mich eine Ausdrucksform für
Leute mit Struggles, die Diskriminierung und Marginalisierung erfahren. In
einem Kiez wie dem MV, in dem sich viele ungesehen fühlen, kann Rap helfen,
Wut auf gesunde Weise auszudrücken.“
Plattenbauten haben eine lange Karriere als Kulisse in Musikvideos von
Rappern wie Sido. Dessen Song „Mein Block“ machte das MV berühmt. Raue
Klänge treffen auf raue Architektur. Einerseits kann Rap ein politisches
Sprachrohr für marginalisierte Gruppen sein, andererseits kommt es in den
Texten nicht selten zur Gewaltverherrlichung. „Mit dem Wunsch, Rapper*in
zu werden, kann man die Kids allein lassen oder man holt sie ab, wo sie auf
einen warten“, findet Selim. „In unseren Kursen gibt es Regeln:
Diskriminierung ist tabu. Wer sich nicht daran hält, muss gehen. Aber
meistens entstehen Gespräche – und wer sich überlegt, was man außer
‚Hurensohn‘ sagen kann, wird kreativ.“
Die Kinder sind froh über Selims Angebot, zumal sie in einem Kiez leben, in
dem „die Bordsteine um 18 Uhr hochgeklappt werden“, wie Kollege Burak es
formuliert. Was Selim und sein Team in erster Linie an ihre Schützlinge
weitergeben wollen, ist ein Gefühl von Zugehörigkeit. „Viele Jugendliche
bringen Probleme mit: finanzieller Druck, keine oder nicht präsente
Eltern. Da ist niemand, der ihnen sagt: Hey, du machst das gut! In einer
Gegend, in der man immer lernt, hart zu sein, ist es wichtig, eine
Möglichkeit zu finden, Gefühle auszudrücken.“ Rap kann diese Möglichkeit
sein, ohne an Coolness einzubüßen.
„Bruder, was geht!“ Iboza betritt das Studio, alle nennen ihn Ibo. Ein
18-Jähriger in orangefarbenem Rollkragenpullover, mit Silberkettchen und
Brille. Ibo ist fast jeden Tag im Studio, um Musik zu machen. „Früher war
Ibo mal richtig schüchtern, heute tritt er auf Bühnen auf, rappt zu eigenen
Beats“, erzählt Selim. Ibo guckt auf seine Schuhe, aber er lächelt.
Gemeinsam nehmen die beiden ein Insta-Reel auf, in dem sie die finanziellen
Kürzungen im Jugendbereich durch den Senat kritisieren. Iboza spricht
direkt in die Handykamera: „Bruder, das ist auf jeden Fall ein ganz großer
Fehler. Ich habe da gelernt, erwachsen zu werden.“ Es warten noch einige
Kinder im MV aufs Erwachsenwerden. Menschen wie Selim sind es, die ihnen
jetzt schon eine Stimme geben.
## „Die Wohnung ermöglicht es mir, mobiler zu sein als früher“
Die Frau mit den lilafarbenen Locken gleitet mit einem Rollstuhl in den
Fahrstuhl ihres Wohnhauses im Märkischen Viertel. Als Heike vor zehn Jahren
auf der Intensivstation lag und sich ihr Gesundheitszustand schlagartig
verschlechterte, besorgte ihr Bruder die Wohnung in dem
behindertenfreundlichen Plattenbau.
Der volle Basteltisch in der Küche zeugt von Heikes großer Leidenschaft.
Pailletten und Perlen, säuberlich in Boxen sortiert, die sie zu
dreidimensionalen Grußkarten verklebt. An den sonnengelben Wänden im
Wohnzimmer hängt ein Porträt, das sie mit Ende 20 zeigt: erhobenes Kinn,
schnittiges Barett. Darunter steht Heikes Bett mit Haltegriff und
rutschfester Matratze. Eine Porzellankatze bewacht den Fernseher, auf dem
die ehemalige Krankenschwester Florian Silbereisens Shows guckt. Früher hat
sich Heike um Patient*innen gekümmert, heute ist sie selbst die
Patientin. Wer sich mit der mittlerweile 60-Jährigen unterhält, erlebt eine
fröhliche Frau. Doch wer genauer hinhört, dem wird auch ihre Einsamkeit
nicht entgehen.
Heike leidet am Anti-Hu-Syndrom, einer Autoimmunerkrankung, die zu
Gleichgewichtsstörungen, Schmerzen, ständiger Müdigkeit und Kraftlosigkeit
führt. „Halbjährlich mache ich eine Chemo. Danach ist mein Immunsystem
völlig unten.“ Heike musste nicht nur ihren Job aufgeben, sondern auch ihre
alte Wohnung im Stadtteil Wedding. Die sechs Stufen bis zum Fahrstuhl waren
jedes Mal eine Herausforderung. Und ihr Rollstuhl blieb stets angekettet im
Eingangsbereich zurück, wurde einmal sogar geklaut.
Im MV kommt Heikes Rolli mit in die Wohnung. Aufgrund der standardisierten
Bauweise sind Türen und Flure breiter als in Altbauten, Türschwellen gibt
es kaum, die meisten Eingänge sind ebenerdig oder mit Rampen versehen. „Die
Wohnung ermöglicht es mir, mobiler zu sein als früher, zum Beispiel kann
ich alleine einkaufen, selbst bestimmen, was auf meinem Teller landet.
Außer meiner Putzfee unterstützen mich nur meine Eltern.“ Einmal in der
Woche kommt Heikes 82-jährige Mutter vorbei und frisiert ihre Haare. „Mein
87-jähriger Vater geht mit mir spazieren, weil ich sonst niemanden finde,
der das macht.“
Selbst die einfachsten Tätigkeiten kosten Heike viel Kraft. „Bis ich mich
angezogen, gefrühstückt und meine Medikamente genommen habe, ist es 12 Uhr.
Spätestens um zwei werde ich müde und brauche einen Mittagsschlaf. Manchmal
schlafe ich bis 18 Uhr.“ Die freien Stunden, die Heike bleiben, nutzt sie
zum Basteln und Lesen. Einer ihrer Lieblingsorte im MV war deshalb für
lange Zeit die Weltbild-Filiale im Märkischen Zentrum, der einzigen
Shopping-Meile der Siedlung.
„Leider hat Weltbild zugemacht …“ Heike zieht einen Aschenbecher zu sich
heran, daneben liegt ein Lippenstift, Farbton: Rosewood. Sie zündet sich
eine Zigarette an und schiebt sie zwischen die geschminkten Lippen. Nicht
nur die Schließung der Weltbild-Filiale hat dazu geführt, dass sich das
Bummeln im Märkischen Zentrum kaum noch für Heike lohnt. Seit Jahren wird
dort gebaut, ein weiteres Wohnhaus soll entstehen und neue Geschäfte.
Bereits 2022 sollten erste Bereiche fertig sein, stattdessen versperren
Bauzäune Wege und Blickachsen. Wo sich heute eine riesige Baugrube
befindet, war früher ein Brunnenplatz, an dem Heike gerne Menschen
beobachtet hat – eine Möglichkeit, sich weniger allein zu fühlen.
„Obwohl ich schon zehn Jahre im MV wohne, ist es noch sehr anonym. Ich
hätte gern jemanden, wo ich klingeln kann und sagen: Kannst du mir ein Loch
in die Wand bohren?“ An einem Ort wie dem MV, an dem viel Raum zum Wohnen
auf wenig Raum zum Leben trifft, merkt man das umso mehr. Um etwas gegen
die Einsamkeit zu tun, hat sich Heike einen Seniorentreff im MV gesucht. Er
wird vom Bezirksamt Reinickendorf organisiert. „Wir spielen
Gesellschaftsspiele, basteln, quatschen. Außerdem finden Tanznachmittage
und Tagesausflüge statt, zum Beispiel zum Eisbeinessen ins Restaurant.“
Heike erreicht den Seniorentreff im Senftenberger Ring eigenständig mit
ihrem Rollstuhl. Besucht sie ihre Psychotherapeutin, bucht sie hingegen
vorab den Sonderfahrdienst.
Für Menschen wie Heike, die durch ihr Alter oder ihre Behinderung
bewegungseingeschränkt sind, ist das Rauskommen aus der Siedlung nicht
leicht. „Außerdem kostet ein Café-Besuch mit Wasser, Kaffee, Kuchen und
Trinkgeld schnell mal 15 Euro.“ Vor dem Fernseher sitzen zu bleiben wie
manch anderer, sei aber keine Option, findet Heike. „Bei mir klingelt auch
keiner und fragt: Möchtest du was unternehmen?“ Da müsse man schon selbst
aktiv werden.
## „Wenn ich es wirklich schaffen will, muss ich raus“
Mit einem Campingstuhl und einer Chipstüte unter dem Arm klettert Nils auf
eines der Plattenbaudächer im Märkischen Viertel. Doch viel Zeit, um die
Ankunft auf dem Olymp zu genießen, bleibt dem 15-Jährigen nicht, die
Straßen unter ihm werden schon kurz darauf in Blaulicht getaucht. Die
Polizisten holen Nils vom Dach, ohne zu ahnen, dass sie einem zukünftigen
Kollegen gegenüberstehen.
Heute ist Nils 27 Jahre alt. Er hat einen in sich ruhenden Blick, Tattoos
am Arm und ist breit gebaut. Man sieht ihm das regelmäßige Training an, das
zu seinem Polizeistudium gehört. Trotzdem kann man sich noch vorstellen,
wie Nils als kleiner Junge ausgesehen hat, vor allem wenn er lacht: „Ja,
ich gebe zu, ich habe damals viel Mist gebaut. Typisch Teenager eben.“ Für
Nils steckt das MV voller Erinnerungen, seine Familie lebt in dritter
Generation in der Siedlung. Seine Oma und sein Opa zogen im Jahr der
Gründung des Viertels in eine der Wohnungen. „Damals war ihre Straße noch
ein Sandweg.“
Nils Großeltern wohnen immer noch im MV, genau wie er selbst. Nils lebt in
der alten Wohnung seiner Eltern. Sechster Stock, 85 Quadratmeter, 750 Euro
warm. Die Einrichtung ist schlicht: helle Holzmöbel, weiße Raufaser, eine
Eckcouch und ein klobiger Kühlschrank voller Magnete. In Nils’ Schlafzimmer
hängt eine Collage, auf der ein Paar zu sehen ist. Mal mit Lockenmähne in
den Neunzigern, dann im Faschingskostüm. „Die Collage haben Mama und Papa
zum Hochzeitstag bekommen“, sagt Nils. Er erzählt viel von seinen Eltern,
sein Vater ist vor zwei Jahren an einem Herzinfarkt gestorben, seine Mutter
vor anderthalb Jahren an Krebs. „Es ist meine Aufgabe, mich an sie zu
erinnern.“
Nils’ Vater war als Installateur tätig. Als das Leben mit zwei Söhnen
teurer wurde, ist er zu BMW ans Fließband gewechselt. Nils’ Mutter
arbeitete 25 Jahre lang für den Mann, der sie zur
Rechtsanwaltsfachangestellten ausgebildet hat. „Meine Eltern waren
superfleißig. Als Teenager entwickelte ich deshalb Angst, ihre Erwartungen
nicht zu erfüllen.“ Nils’ Vater spürte das. „Papa hat gesagt: Nils, du …
nicht schuld, dass du auf der Welt bist. Das war eine Entscheidung deiner
Mama und mir. Solange du glücklich bist, sind wir das auch.“ Nils
beschreibt seine Eltern als „Sechser im Lotto“. Es fiel ihm schwer, die
Wohnung, die früher ihre war, neu einzurichten.
Mittlerweile hat Nils nicht nur die Wohnung aufgeräumt, sondern auch sein
Leben. Zum Zeitpunkt des Todes seiner Eltern steckte er in einem Beruf
fest, den er aus Planlosigkeit gewählt hatte. Ein Berufseignungstest hatte
Nils vorgeschlagen, Lehrer, Handwerker oder Polizist zu werden. Letzteres
sprach ihn am meisten an, doch er scheiterte schon am Onlinetest – und
wurde Handwerker. Mit der Zeit merkte er, dass ihm menschliches Miteinander
fehlt, dass sein Kopf unterfordert ist. Er machte eine Ausbildung zur
Fachkraft für Schutz und Sicherheit – in der Hoffnung, dass der Beruf näher
an dem eines Polizisten dran ist. „Letztendlich habe ich in der Mall of
Berlin arme Schlucker aus den Läden gezogen. Nicht das, was ich mein Leben
lang tun wollte.“ Aber einen erneuten Berufswechsel wagen?
„Ich dachte an meine Eltern und daran, dass sie mich darin bestärkt haben,
das zu tun, was ich liebe“, also wiederholte er den Einstellungstest bei
der Polizei, diesmal mit Erfolg. Lediglich die Augen sollte er sich noch
lasern lassen, um das Studium für den gehobenen Dienst antreten zu dürfen.
Seitdem nimmt er jeden Tag den einstündigen Bahnweg zur Polizeischule auf
sich. Mit dem Studium verknüpft Nils viele Hoffnungen. Auf einen
Berufsalltag, der ihn erfüllt, auf die Möglichkeit, anderen Menschen zu
helfen, auf ein Leben mit stabilem Einkommen.
Als Nils mit seiner Dachdeckerausbildung begann, erzählte er niemandem,
dass er im MV wohnt, denn fast immer habe sich etwas verändert, an der Art,
wie er angeguckt wurde. Heute aber steht Nils mit Stolz dazu. „Weil ich in
der Siedlung gelernt habe, mich in unterschiedliche Menschen
reinzuversetzen. Und was ich dabei gemerkt habe, ist, dass man mit jedem,
wirklich jedem, etwas gemeinsam hat. Das kann mir als Polizist helfen.“
Nach langen Tagen in der Polizeischule hat Nils gerne Zeit für sich allein.
Oft zieht es ihn dann nach oben, in die 14. Etage seines Hauses. Meistens
nimmt Nils die Stufen. Zu einem Plattenbau gehört neben dem Fahrstuhl ein
Treppenhaus mit Balkon in jedem Stockwerk. „Es hilft mir, weit gucken zu
können, um den Kopf freizubekommen“, Nils lehnt sich an das Geländer aus
Beton und blickt in die Ferne. Hinter den Hochhäusern zeichnen sich
vereinzelt Windräder ab, unter ihm breitet sich ein Parkplatz aus und die
Straßen, auf denen er seine Kindheit verbracht hat.
Am liebsten hat Nils im Bolzplatzkäfig gekickt oder am Seggeluchbecken
Enten gefüttert. „Da gibt es eine Bank, die habe ich immer meine Bank
genannt. Ich mag den Ausblick aufs Wasser.“ Das Seggeluchbecken ist ein
kleines künstlich angelegtes Gewässer im MV, unterbrochen durch die
Finsterwalder Straße, umgeben von schmalen Grünanlagen und in Nachbarschaft
zu einem Kleingartenverein, einer Kirchengemeinde und Sidos alter Schule.
„Hier komme ich mit Leuten her, die zum ersten Mal die Siedlung besuchen,
danach geht es zum Müllberg in Lübars.“
Als Kind ist Nils im Winter auf dem Müllberg gerodelt, im Herbst hat er
Drachen steigen lassen und im Frühling die angrenzende Familienfarm mit
Kühen, Pferden, Hühnern und einem Café besucht. Schon Nils’ Großeltern si…
zum Müllberg gefahren, als sie noch jung waren, auch wenn der Berg damals
noch buchstäblich aus Müll bestand und sie vor Ort waren, um alte Möbel
loszuwerden. „Ich will Leuten, die mich besuchen, immer zeigen, dass sich
hier einiges verändert hat. Spätestens seitdem die meisten Häuser saniert
wurden, ist hier nicht alles nur grau.“
Trotzdem will Nils auf lange Sicht raus aus dem MV. „Ich habe hier alles
und muss mich nie rausbewegen. Aber genau das ist mein Problem“, sagt Nils.
„Wenn ich es wirklich schaffen will, dann muss ich eben doch raus. Ich will
niemanden schlechtreden. Hier leben viele Leute mit tollen Familien,
funktionierendem Berufsleben.“ Aber man könnte sich eben auch leicht hängen
lassen im Märkischen Viertel.
18 Jan 2025
## LINKS
[1] /Grosswohnsiedlung-Muemmelmannsberg/!5717821
[2] /Soziologe-ueber-ostdeutschen-Plattenbau/!6029828
[3] https://www.youtube.com/watch?v=bonjYQzcMzg
## AUTOREN
Bianca Nawrath
## TAGS
wochentaz
Stadtplanung
Sozialer Brennpunkt
Städtebau
Sozialer Wohnungsbau
GNS
Lesestück Recherche und Reportage
Wohnungsbau
Sozialer Wohnungsbau
Plattenbau
## ARTIKEL ZUM THEMA
Nachverdichtung in Berlin: Wohnen statt Freizeit
Eine Sporthalle im Märkischen Viertel soll nach 40 Jahren abgerissen
werden. Dabei erfüllt die Sporthalle auch soziale Funktionen im Viertel.
Großwohnsiedlung Mümmelmannsberg: Neue Heimat auf grüner Wiese
Vor 50 Jahren wurde in Hamburg-Billstedt der Grundstein für Mümmelmannsberg
gelegt. Die Gebäude sind geblieben, das Viertel hat sich gewandelt.
Diskussion zu Folgen des Mauerfalls: Platte Vorurteile
Plötzlich war eine Wohnung in der Platte nicht mehr prestigeträchtig,
sondern Getto: Wie gingen und gehen die BewohnerInnen damit um?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.