# taz.de -- Großwohnsiedlung Mümmelmannsberg: Neue Heimat auf grüner Wiese | |
> Vor 50 Jahren wurde in Hamburg-Billstedt der Grundstein für | |
> Mümmelmannsberg gelegt. Die Gebäude sind geblieben, das Viertel hat sich | |
> gewandelt. | |
Bild: Hochhaus an Hochhaus: Mümmelmannsberg während der Entstehung in den 197… | |
HAMBURG taz | Fatma-Nur Gültepe sitzt in der Elternschule. Schon als sie | |
jünger war, war sie regelmäßig hier. Ihre Mutter ist auch gerade kurz | |
vorbeigekommen und einige weitere Frauen unterhalten sich oder gehen | |
beschäftigt durch die Räume. Die Elternschule ist ein offener Treffpunkt | |
für Familien in Mümmelmannsberg. Gültepe lebt seit ihrer Geburt in der | |
Großwohnsiedlung im Osten Hamburgs, aber wie die meisten anderen | |
Bewohner*innen arbeitet sie woanders. Denn Jobs gibt es hier fast keine. | |
Gültepe arbeitet im Radisson-Blu-Hotel nahe der Messe. Das 118 Meter hohe | |
Gebäude wurde – wie auch die Siedlung Mümmelmannsberg – vor 50 Jahren vom | |
gemeinnützigen Bau- und Wohnungsunternehmen „Neue Heimat“ gebaut. „Die | |
Leute gucken mich immer komisch an, wenn ich sage, dass ich aus | |
Mümmelmannsberg komme“, sagt die 23-Jährige. Auch wenn es mit der U-Bahn | |
keine 20 Minuten von der Innenstadt braucht, ist Mümmel irgendwie weit weg. | |
Am 30. September 1970 wurde der Grundstein gelegt, Ende des Jahrzehnts | |
waren die Bauarbeiten abgeschlossen. Zumindest für die Wohnhäuser, die | |
Mümmelmannsberg ausmachen. Von ein paar Buslinien abgesehen, war die | |
Siedlung, geplant für rund 24.000 Menschen, damals vom öffentlichen | |
Nahverkehr [1][gänzlich abgeschnitten.] Erst drei Jahre später bekam | |
Mümmelmannsberg seine U-Bahn-Haltestelle. | |
Vielleicht auch wegen dieser Anlaufschwierigkeiten haben die Bewohner*innen | |
bis heute das Gefühl, von der Politik immer ein bisschen vergessen zu | |
werden und eben doch isoliert zu sein. Außerdem ist der Ruf der Siedlung | |
schon lange ramponiert: Die Schlagworte sind Problemschule, Schießereien, | |
Drogen, Arbeitslosigkeit. „All das wird immer mit uns in Verbindung | |
gebracht – und das nervt“, sagt Gültepe. | |
Wer an Mümmelmannsberg denkt, [2][hat wegen der einschlägigen | |
Hochhausriegel wohl zuerst Beton vor Augen.] Dabei gibt es in | |
Mümmelmannsberg im Vergleich zu anderen Vierteln, etwa in Ottensen oder | |
Eimsbüttel, eine Menge Platz zwischen den Häusern. Eigentlich ist es sogar | |
ziemlich grün. „Das sieht man erst auf den zweiten Blick“, sagt Gültepe. | |
Der Bauherr trug den Zweck im Namen, für den die Trabantenstadt gebaut | |
wurde: Neue Heimat. Hamburg brauchte damals dringend Wohnungen, genau dafür | |
hatte die Neue Heimat die Expertise. Das gewerkschaftseigene Unternehmen | |
hatte bereits bundesweit Trabantenstädte auf der grünen Wiese errichtet. | |
Später ging das Unternehmen zugrunde – [3][die Politik störte sich an der | |
angeblich „sozialistischen“ Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau. Das | |
Unternehmen selbst wirtschaftete schlecht und einzelne | |
Gewerkschaftsmitglieder bereicherten sich auch noch.] | |
Damals aber baute die Neue Heimat, was benötigt wurde: moderne Wohnviertel, | |
gut ausgestattete Wohnhäuser, die Wohnungen technisch auf dem aktuellem | |
Stand. Aber es dauerte nicht lange und bald wurde deren Bauweise als | |
„betonierte Brutalo-Ästhetik“ (Die Zeit im Jahr 1982) angeprangert: | |
Fatma-Nur Gültepe engagiert sich ehrenamtlich in Mümmelmannsberg in dem | |
Verein Aktives Wohnen und ist mit 23 Jahren eine der wenigen Jüngeren. | |
„Wenn kein Leben mehr hier auf dem Beton herrscht, ziehe ich bestimmt auch | |
irgendwann weg“, sagt sie. Ihre Freund*innen und früheren Mitschüler*innen | |
zum Mitmachen zu animieren, sei schwierig. | |
Gültepe wohnt trotzdem gern dort. Frauenmalgruppen gibt es, offene | |
Ateliers, einige Jugendeinrichtungen und Sportvereine. „Aber für meine | |
Generation gibt es fast nichts – kein nettes Café oder eine Anlaufstelle, | |
in der wir uns abends treffen können“, sagt Gültepe. Zum Kickboxen fährt | |
sie nach Bergedorf. | |
Wolfdietrich Thürnagel lebte schon in Mümmelmannsberg, als diese Siedlung | |
noch gar nicht existierte. Ein paar Straßen hat es hier schon vor 1970 | |
gegeben, ehe die Bagger loslegten. Thürnagel sitzt vor der Bäckerei Yama, | |
direkt an der U-Bahn-Station. Schüler*innen holen sich hier in der Pause | |
was zu essen oder trinken. | |
„Das ist ein Schlafstadtteil“, sagt er. Es wurden Wohnungen gebaut, aber | |
Jobs gab und gibt es hier kaum. „Auch räumlich wurde das hier fürchterlich | |
gebaut“, sagt Thürnagel und meint damit die autogerecht breiten Straßen, | |
den fehlenden Raum für Geschäfte oder kleine Firmen und auch fehlende | |
soziale Anlaufstellen. | |
## Kein Ort zum Streiten | |
Ein soziales Leben entwickelte sich erst, als die Bewohner*innen begannen, | |
sich selbst darum zu kümmern. Thürnagel ist seitdem aktiv geblieben. Früher | |
im Elternbeirat oder im Mieterbeirat, später in der Lokalpolitik, beim | |
Organisieren von Kinderfesten oder in der Flüchtlingshilfe. „Heute gibt es | |
fünf, sechs Gruppen, die ihren eigenen Stadtteil hier machen“, sagt | |
Thürnagel. | |
Gültepe sagt, dass hier die viel zitierten Parallelgesellschaften | |
existieren: die Türk*innen, die Afghan*innen, die Schwarzen, die Deutschen | |
und so weiter. Ein Miteinander gebe es kaum, viele seien ein bisschen | |
gereizt. „Da fehlt die Toleranz auf vielen Seiten“, sagt Gültepe. Sie ist | |
skeptisch, ob die Jüngeren im Viertel dazu bewegt werden können, sich zu | |
engagieren. | |
Thürnagel ist da optimistischer. Denn immerhin: Ein Gegeneinander gebe es | |
auch nicht, „weil es gar keinen gemeinsamen Raum gibt, in dem man streiten | |
könnte“, sagt er. Es habe da auch andere Zeiten gegeben, erinnert er sich. | |
„Migrantische Gruppen begannen irgendwann, sich gegen die Rechten zu | |
wehren.“ Das ist aber vorbei und er glaubt daran, dass der Zusammenhalt | |
wieder wachsen kann: „Die Jungen, die früher bei den Kinderfesten waren, | |
haben jetzt selbst Kinder und fragen ständig, was sie machen können.“ | |
Thürnagel erinnert sich noch an einen Prospekt, den die Neue Heimat damals | |
an die ersten Mieter*innen in Mümmelmannsberg verteilte. „Hier wird | |
Integration gelebt“, habe darauf gestanden. „Aber wissen Sie, wie hoch der | |
Anteil damals war? Vier Prozent“, sagt Thürnagel. | |
Heute haben 65 Prozent der Bewohner*innen einen migrantischen Hintergrund, | |
bei den unter 18-Jährigen sind es 80 Prozent. Kaum ein anderer Fleck in | |
Hamburg hat sich in der Struktur in den vergangenen zwei Jahrzehnten so | |
sehr gewandelt – nur die Gebäude sind noch immer dieselben. | |
2 Oct 2020 | |
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