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# taz.de -- Nachruf auf Helmut Schmidt: Der Deutsche
> Der politische Zustand, in dem Altkanzler Schmidt glänzte, war die Krise.
> Doch seine Rationalität hatte auch eine mitleidslose Seite.
Bild: Politik, so wie Schmidt sie verstand, konnte nur Realpolitik sein, exakt …
In Interviews wirkte er manchmal wie in sich selbst versunken, ehe er sich
doch herabließ, die Frage zu beantworten. Diese Kunstpausen sollten dem
Publikum nicht nur bedeuten, dass hier ein Nachdenklicher spricht, der
seine Worte wägt. Dieses Schweigen machte klar, wer Regie führt: Er, Helmut
Schmidt. Die Pausen waren subtile Demonstrationen der Überlegenheit.
Oberleutnant Schmidt wurde 1946 Sozialdemokrat, weil er sich dort
Kameradschaft versprach. So hat er es selbst berichtet. Der Gewaltorkan des
Zweiten Weltkriegs, den er als zupackender, allenfalls an den
Erfolgsaussichten der Wehrmacht zweifelnder Soldat erlebte, war die
Zentralperspektive seines Lebens. In der SPD suchte er nicht nur eine Art
zivile Verlängerung soldatischer Gemeinschaft – er behandelte sie, mit
wechselndem Erfolg, auch wie ein Oberleutnant seine Kompanie.
Als Politiker war er ein Manager, der wusste, was in der Not zu tun ist,
auch das ein Echo seiner Militärzeit. Der politische Zustand, in dem er zum
Leuchten kam, war die Krise – die Sturmflut in Hamburg 1962, Willy Brandts
Rücktritt 1974, der deutsche Herbst 1977.
Die Bundesdeutschen mochten ihn, das norddeutsch Knappe, auch das
Autoritäre. Als Kanzler behandelte er seine Minister, wie Newsweek 1974
bemerkte, wie „eine Bande unartiger Kinder“. Erhard Eppler, damals Minister
für Entwicklung, also Gedöns, nahm umgehend seinen Hut. Eppler verkörperte
für Schmidt das Prinzip, für das er nur verständnislose Herablassung hatte:
die Moralisierung von Politik.
Politik, so wie Schmidt sie verstand, konnte nur Realpolitik sein, exakt
analysiert, entschlossen durchgesetzt. Er selbst sah sich als
Intellektuellen im pragmatischen US-amerikanischen Sinn; als Kopf, der
Währungssysteme, RAF-Terror oder die atomaren Abschreckungspotenziale
nüchtern anschaut und handelt. Und er hielt sich für gescheiter als Henry
Kissinger.
## „Leitender Angestellter der Bundesrepublik“
Politik muss Kunst ohne Passion sein. Sie darf nur das Machbare wollen. Das
war Schmidts Schlussfolgerung aus der Katastrophe der NS-Zeit. Denn hatten
nicht die politischen Leidenschaften, die die Nazis geweckt und missbraucht
hatten, geradewegs in die Trümmerfelder der deutschen Städte geführt?
Schmidt verkörperte mit stets tadellos gezirkeltem Scheitel den
Gegenentwurf zum Volkstribun, sachlich, pragmatisch, korrekt. Als Kanzler
verstand er sich, ohne Anflug von Ironie, als „leitender Angestellter der
Bundesrepublik“. Der Staat sollte wie ein Unternehmen funktionieren, ein
Apparat, den man zu bedienen wissen musste. Das Ideal war der reibungslose,
geräuscharme Ablauf, der nur vor störenden Jusos, die Reiche besteuern oder
die Wirtschaft lenken wollten, geschützt werden musste. Helmut Schmidt
glaubte an Fakten, Daten, Statistiken, nicht an Parteitagsbeschlüsse. Wäre
er eine Figur aus einem Roman, er hätte der Held in Max Frischs „Homo
Faber“ sein können, der sagte, dass er keine Mystik brauche – Mathematik
genüge.
In den 68ern sah Frontsoldat Schmidt eine Wiederkehr der sinistren
ideologischen Kräfte, die schon 1933 ins Unheil führten. Für die
Linksintellektuellen, von Rudi Dutschke bis Jürgen Habermas, hatte er kaum
mehr als Verachtung übrig. Alles Utopische erschien ihm gefährlich zu sein,
bestenfalls überflüssiges Geschwätz, das vom Wesentlichen, den steinernen
Notwendigkeiten der Realpolitik, ablenkte. Er war ein Anhänger von Karl
Poppers antitotalitärem kritischem Rationalismus.
Hatte Schmidt mit Popper Recht? In manchem durchaus. Die Wiederbelebung von
Marx war nur ein Umweg, der die 68er ungefähr dorthin führte, wo Schmidt
schon war: in die offene, liberale Gesellschaft. Schmidt allerdings konnte
auf eine Art Recht haben, die alles, was nicht effektiv auf geradem Weg zum
Ziel führte, mit arroganter Verachtung strafte. Peter Glotz, der
sozialdemokratische Parteiintellektuelle, attestierte ihm mal eine
„protestantische Angst vor der Unterwelt der Gefühle“. Mag sein, dass das
Knöcherne, Barsche aus dieser Abwehr rührte.
1977, in der Entweder-Oder-Situation, blieb er hart gegen die RAF und
weigerte sich, Hanns Martin Schleyer einzutauschen. Im Großen Krisenstab
paradierte er mit dem CSU-Mann und Wehrmachtsleutnant Friedrich Zimmermann
in einer Pause mit einem Gehstock als Gewehrsatz. Die Unnachgiebigkeit
hatte einen zackigen, soldatischen Ton. Das ändert nichts daran, dass es
Gründe gab, sich nicht erpressen zu lassen. Die Befürchtung, dass die RAF,
wenn Baader und Ensslin freigekommen wären, noch mehr Terror verbreitet
hätte, war nicht abwegig. Als die Meldung kam, dass die Befreiung der
Geiseln in Mogadischu geglückt war, hat Helmut Schmidt geweint.
## Sätze, stählern und unerbittlich
Schmidts Rationalität hatte indes auch eine hässliche, mitleidslose Seite.
1975 erklärte er auf einer SPD-Parteiveranstaltung unter tosendem Applaus,
dass die Linksterroristen nicht erwarten können „in einem Erholungsheim
untergebracht zu werden, und die Unbequemlichkeit eines Gefängnisses auf
sich nehmen müssen“. Erholungsheim? Ein paar Tage zuvor war Holger Meins im
Gefängnis im Hungerstreik gestorben. Solche Sätze, stählern und
unerbittlich, waren der Stoff, mit dem die RAF ihren Nachwuchs rekrutierte.
Dass „68“ ein Projektionsspiel der Generationen war, blieb für Schmidt, der
sich so viel auf seinen scharfen Verstand einbildete, ein blinder Fleck. Er
hielt die Linksextremen für Widergänger der Nazis – die Linksmilitanten
sahen in ihm den Oberleutnant von Hitlers Armee, der an der Blockade von
Leningrad und dem Vernichtungskrieg im Osten beteiligt war. Diese tragische
Pointe hat er nie verstanden, so wenig wie die Wachstumsskepsis der Grünen.
Ökologie hielt er lange für eine Marotte gelangweilter Mittelstandsdamen.
Der starre Blick auf das Machbare war manchmal ein Tunnelblick.
War er ein großer Kanzler? Nein, und er konnte es nicht sein. Der kühne,
weitblickende Plan, wie ihn Egon Bahr und Willy Brandt mit der Ostpolitik
entworfen hatten, war nicht sein Spielfeld. Sein nachhaltigster Erfolg als
Kanzler war die Etablierung des Europäischen Währungssystems EWS 1979, das
später Grundstein für den Euro wurde. Sein größter Fehler war die
Aufrüstung mit Pershing-Raketen, die er US-Präsident Jimmy Carter (den er
als Moralisten verachtete) aufschwatzte. Gegen die Nachrüstung gingen in
der Bundesrepublik Hunderttausende auf die Straße, die SPD rebellierte.
Effektiver als Schmidt hat kein Politiker den Aufstieg der Grünen
beflügelt. Auch die Gründung der taz als Medium der Gegenöffentlichkeit war
eine Antwort auf Schmidts autoritäres Krisenmanagement im Deutschen Herbst.
Dass die Pershings den Zusammenbruch der Sowjetunion beschleunigt oder gar
verursacht hätten, ist Legende. Dafür war die KSZE-Schlussakte, die 1975
den Anspruch auf Menschen- und Bürgerrechte auch im Osten verbriefte, viel
wichtiger. Und die entsprang dem Geist von Willy Brandts
Entspannungspolitik, nicht Helmut Schmidts Raketenzählerei. Auf dem Kölner
Parteitag 1983 stimmten neben Schmidt 14 Genossen für die Nato-Nachrüstung,
400 dagegen. Das war die Antwort der SPD auf Schmidts, später von Schröder
imitierter Art, die Partei mit Machtworten zu erpressen. So rabiat wie
Schmidt wurde kein anderer führender Sozialdemokrat je vom Hof gejagt.
## Mit knorriger Lakonie die Welt erklären
Die Deutschen fassten zu ihm als altem Mann und Kanzler a.D. eine fast
obsessive Zuneigung. Es gab kaum ein Jahr ohne ein Buch von ihm oder über
ihn auf den Bestsellerlisten. In Talkshows wurde er andächtig zu
anstehenden Weltproblemen befragt. Er rauchte unverdrossen – alle fanden es
cool, dass ein hustender Altbundeskanzler in knappen Sätzen und mit
knorriger Lakonie die Welt erklärte.
Der mitunter bizarre Schmidt-Kult der letzten zehn, fünfzehn Jahre füllte
eine Leerstelle – eine Sehnsucht nach Führung, Erfahrung, Autorität.
Schmidt war die geeignete Projektionsfläche. Das allzu Brüske war im Alter
ins Milde abgeschliffen. Aber nie so milde, dass nicht doch scharfe Urteile
folgten. Schmidt verdammte, scheinbar links, den Finanzkapitalismus und den
Kosovokrieg, und, scheinbar rechts, zu viel Staat, den Ausstieg aus der
Atomenergie und zu viel Sozialstaat.
Er wechselte wie ein Schauspieler die Rollen, gab mal den global denkenden
Chefanalytiker, mal den Mann von der Straße, der seine Steuererklärung
nicht versteht. Das hellsichtige Urteil und der dünkelhafte Kurzschluss,
wie die Verdammung von Multikulti als linke Spinnerei, siedelten bei ihm
nahe beieinander. Das Geheimnis seines Erfolges als Publizist war, dass er
postideologisch dachte, aber nie langweilte. Und er schien bundesdeutsche
Geschichte und Vorgeschichte, von 1945 bis zur RAF, von Pershing bis zu
1989, in angenehm distanzierter, abgelagerter Weise zu verkörpern. Dass er,
wie viele Deutsche, recht vergesslich war, was seine Rolle in der NS-Zeit
anging, wurde milde übersehen.
Auf SPD-Parteitagen wurde er als Greis bejubelt, wie ein lebendes Denkmal.
Das war vielleicht ein letztes Missverständnis in der komplizierten,
kurvenreichen Beziehung zwischen Helmut Schmidt und der SPD.
Ein Sozialdemokrat war er so wenig, wie Angela Merkel Christdemokratin ist.
10 Nov 2015
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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