# taz.de -- Schnauze für Schmidt: Dissens zur Feierstunde | |
> Unsere Autorin war Schülerin, als Thomas Ebermann in Hamburgs Parlament | |
> Helmut Schmidt zu kritisieren wagte – in dessen Beisein. | |
Bild: Kein Leisetreter: Thomas Ebermann (GAL, mit Zigarette) bahnt sich im Deze… | |
HAMBURG taz | Als Helmut Schmidt die Ehrenbürgerschaft der Stadt Hamburg | |
erhielt, war ich noch Schülerin und damit beschäftigt, Schulstreiks für den | |
Frieden zu organisieren. Ich hatte die Weltkarte und die Position der | |
russischen und amerikanischen Raketen auf eine Matrize gezeichnet, um | |
Mitschülern zu erklären, wie groß die Gefahr eines neuen Atom-Krieges ist. | |
Ich sprühte nachts mit Freunden Parolen wie „Pershing go home“ an die | |
Turnhalle, im Ohr [1][das Lied von Nena] über „99 Luftballons“, die einen | |
Krieg auslösen. In Kasernen war der Song verboten. | |
Der von Helmut Schmidt auf den Weg gebrachte „Nachrüstungsbeschluss“ | |
beschäftigte viele Menschen. Meine Eltern zum Beispiel. Meine Mutter reiste | |
mit anderen „Friedensfrauen“ nach Moskau, um dort mit dem Komitee der | |
Sowjetfrauen über die Gefahren zu sprechen. | |
Sie wurden sich einig: Russen und Deutsche kennen den Krieg im eigenen | |
Land, Amerikaner haben das nie erlebt. „Die russischen Frauen sagten, dass | |
von ihrem Land nie wieder Krieg ausgeht, stünde in ihrer Verfassung“, | |
erinnert meine Mutter. „Das haben wir nach Hause mitgenommen und hier | |
verbreitet.“ | |
Helmut Schmidt erinnere ich als Kind auf Plakaten bei uns in der Straße. | |
Fand ihn ansehnlich, er hatte mehr Haare als Willy Brandt. Die | |
außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre und | |
der SPD-Bundeskanzler waren wohl keine Freunde. Schmidt stand für die | |
verhasste Atomkraft, für die harte Linie des Staates im Umgang mit | |
Demonstranten bei AKW-Demos, als es galt, Bauplatzbesetzungen zu vermeiden. | |
Und im Umgang mit der RAF, der die Repression gegen „Sympathisanten“ mit | |
einschloss und im „Deutschen Herbst“ 1977 die Stimmung trübte. Und doch war | |
er nur Teil des Regierungsapparats und nicht so sehr Feindbild wie später | |
Helmut Kohl. | |
Der [2][Nato-Doppelbeschluss], der dazu führte, dass amerikanische | |
Mittelstreckenraketen auf westdeutschem Boden stationiert wurden, ging gar | |
nicht, fand ich. Bis dahin galt das „Gleichgewicht des Schreckens“. Die | |
eine Macht hätte die andere nicht angreifen können, ohne sich selbst zu | |
vernichten. | |
Die neuen Waffen aber hätten nach Planspielen von Pentagon-Strategen auch | |
einen atomaren Enthauptungsschlag auf die Sowjetunion möglich gemacht. Wir | |
sahen uns Bilder des 1945 durch Atombomben vernichteten Hiroshima an. | |
Tausende gingen auf die Straße, weil sie Angst vor einem | |
„Euroshima“-Atomkrieg hatten. | |
Thomas Ebermann kannte ich aus der Ferne vom Sehen und Zuhören. Er hatte im | |
Sommer 1977 von einer Anti-Atom-Demonstration in Frankreich berichtet, wo | |
es einen toten Demonstranten gab. Er trug Trainingsjacke und Turnschuhe, | |
wirkte lässig, nuschelte etwas. Er war auch wichtiges Mitglied des | |
„Kommunistischen Bundes“ (KB) gewesen, der damals in Hamburg rund 1.500 | |
Mitglieder hatte und in Form einer Bündnispolitik bei vielen Anti-Atom- und | |
sonstigen Initiativen der sozialen Bewegung mitmachte, nachzulesen in | |
[3][Michael Steffens Buch „Geschichten vom Trüffelschwein“]. Wer damals in | |
Hamburg linke Politik machte, kam am KB eigentlich kaum vorbei. | |
Ende 1977 gab es eine Großdemonstration gegen das AKW in Kalkar. Ich | |
bestieg in Wandsbek einen Demo-Reisebus und sah erstmals Polizisten mit | |
vorgehaltener Maschinenpistole. Wir durften nicht losfahren, verbrachten | |
die halbe Nacht auf der Autobahn und kehrten um. Der Schock von Kalkar, wo | |
sich das Land als Polizeistaat zeigte, führte zur Idee, die | |
außerparlamentarische Bewegung ins Parlament zu bringen. | |
In Hamburg kam es zu einem Zerfallsprozess bei den linken Gruppen. Es | |
entstanden die Bunt-Alternative-Liste und die Grünen. Kurz vor der Wahl | |
1982 fusionierten beide Parteien zur „Grün Alternativen Liste“ (GAL). | |
Ebermann war Gründungsmitglied der Grünen und einer von neun Abgeordneten, | |
die in die Hamburger Bürgerschaft einzogen. Es sei darum gegangen, „Sand im | |
Getriebe“ zu sein, [4][sagte er später] dem Magazin Prager Frühling. Das | |
hieß „Lust am Enthüllen, Lust am Vorführen“ und „große Sorgfalt mit d… | |
imperativen Mandat“. Grüne Abgeordnete sollten durch Rotation nach kurzer | |
Zeit das „Feindesland“ Parlament wieder verlassen und nicht mehr verdienen | |
als ein Facharbeiter. | |
Als am 22. Dezember 1983 Helmut Schmidt per Abstimmung zum Ehrenbürger | |
Hamburgs ernannt wurde, war dieser seit gut einem Jahr kein Kanzler mehr. | |
Später sagte er, sein Eintreten für den NATO-Doppelbeschluss habe ihn das | |
Amt gekostet. Denn seine SPD war nicht dafür. Die FDP, die damals | |
mitregierte, sah den Nato-Beschluss in Gefahr und stieg aus. | |
Per Misstrauensvotum verlor Schmidt am 1. Oktober 1982 nach acht Jahren | |
seinen Posten, Helmut Kohl von der CDU wurde Kanzler. Am Tag danach habe | |
die Legende um Schmidt begonnen, [5][schrieb die Welt]. Hamburger SPD-Leute | |
liefen mit Fackeln zu seinem Haus in Langenhorn. Die von SPD-Bürgermeister | |
Klaus von Dohnanyi verliehene Ehrenbürgerschaft war auch so etwas wie ein | |
Trost. | |
Im Lichte der Geschichte steht Schmidt heute gut da, weil die | |
Abrüstungsverhandlungen letztlich erfolgreich waren. Am Morgen des 22. | |
Dezember 1983 konnte das aber noch keiner wissen. Als erster sprach Klaus | |
von Dohnanyi, lobte in seiner Rede, es sei Schmidt zu verdanken, dass die | |
Weltmächte seit 1981 wieder am Genfer Verhandlungstisch saßen. Er räumte | |
ein, dass auch die Hamburger SPD-Genossen gegen die Stationierung waren, | |
doch diese Meinungsverschiedenheit könne „die Hamburger SPD von ihrem | |
bedeutenden Genossen Helmut Schmidt“ nicht trennen. | |
Auf Ebermann lastete wohl schon auch ein Erwartungsdruck, als er im | |
Anschluss eine Rede hielt. Später sagte er in der Zeit über die Rede: „Das | |
war keine angenehme Sache, das können Sie mir glauben. Ich kannte mich | |
durchaus aus mit Krawall, aber da war mein Hemd am Ende nass geschwitzt. Es | |
war kein schöner Moment, aber ein wichtiger. Ich war mir und meinen Leuten | |
das schuldig, davon bin ich bis heute überzeugt.“ | |
Die Rede ist in der Datenbank der Hamburger Bürgerschaft dokumentiert. Das | |
Abendblatt schrieb später, sie sei darauf angelegt, „Schmidt zu verletzen“. | |
Doch in der Senatskanzlei muss sie jemandem imponiert haben: [6][Auf deren | |
Homepage] ist sie ausführlich zitiert. | |
Ebermann war damals noch 32 Jahre jung, hatte aber viel erlebt. Vor seiner | |
Politzeit arbeitete der Realschüler im Akkord in einer Turnschuhfabrik und | |
lernte, den Kapitalismus abzulehnen. Die Rede ist geschliffen. Ebermann | |
stellte Schmidts Glaubwürdigkeit infrage: Habe der als Oppositionspolitiker | |
vor Atombomben gewarnt, habe er als Kanzler die SPD zum „loyalen | |
Nato-Partner“ geformt und die „Nachrüstung“ eingeleitet? | |
Für meinen Geschmack hätte er noch viel mehr dazu sagen können. | |
Aber er war der erste, der sich dem Schmidt-Hype entgegen stellte. Er | |
gehörte zu den Ökosozialisten bei den Grünen, verließ 1990 die Partei aus | |
Protest gegen die realpolitische Tendenz. | |
Bald schrieb er dann Texte und Theaterstücke, manchmal zusammen mit Rainer | |
Trampert, einst Bundessprecher der Grünen, mit dem er ein Kabarettprogramm | |
entwickelt hat. Gefragt nach den Erfolgen der 68er, sagte er der Zeit, es | |
gebe zwei Lager. Das eine Lager, das den Alltag der Deutschen verändern | |
wollte, habe viel erreicht. Also kulturell. Nicht lange her, dass Gewalt | |
gegen Kinder oder Vergewaltigung in der Ehe noch erlaubt war. Das zweite | |
Lager, das den Kapitalismus abschaffen wollte, zu dem er sich zählte, habe | |
gar nichts erreicht. | |
Und nun macht Ebermann die Schmidt-Kritik zur Kunst, tritt am 19. Januar | |
mit [7][„Ebermann beleidigt Helmut Schmidt“] im Foyer des Schauspielhauses | |
auf. Der Abend ist ausverkauft: Nach dem unkritischen Hype um den 100. | |
Geburtstag des Ex-Kanzlers scheint der Titel einen Nerv zu treffen. | |
Doch auch mein Vater meint, das Helmut Schmidt seine Verdienste hat: „Er | |
hat mit der Nachrüstung die Friedensbewegung befeuert.“ | |
Den ganzen Schwerpunkt der taz nord zu Helmut Schmidt und dem | |
Post-Platzhirsch-Zeialter lesen Sie in der taz am Wochenende: am Kiosk oder | |
[8][hier]. | |
11 Jan 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://m.youtube.com/watch?v=lIvO51PwNvs | |
[2] https://de.m.wikipedia.org/wiki/NATO-Doppelbeschluss | |
[3] http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2002/0060/pdf/dsm.pdf | |
[4] https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1119.wir-dachten-damals-… | |
[5] https://www.welt.de/regionales/hamburg/article2917217/Der-Tag-an-dem-die-Le… | |
[6] https://www.hamburg.de/ehrenbuerger/expertise/4656136/verleihungen-nach-194… | |
[7] https://schauspielhaus.de/de_DE/stuecke/faq-room-25-ebermann-beleidigt-helm… | |
[8] /e-kiosk/!114771/ | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
## TAGS | |
Helmut Schmidt | |
Thomas Ebermann | |
Ehrenbürger | |
Hamburgische Bürgerschaft | |
Nato | |
Helmut Schmidt | |
Hamburg | |
Helden | |
Gedenken | |
Helmut Schmidt | |
Nachruf | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Helmut Schmidt und das Klavier: „Ein laienhafter Spieler“ | |
Bei Helmut und Loki Schmidt wurden an Heiligabend keine Weihnachtslieder | |
geschmettert. Aber wichtig war die Musik für den SPD-Überkanzler. | |
Hamburger Heldengedenken: About Schmidt | |
Vor fast genau fünf Jahren ist Altkanzler Helmut Schmidt gestorben. Wie | |
erinnern sie sich in der ach so nüchternen Hansestadt an ihren Helden? | |
Post-Platzhirsch-Zeitalter: Der Überkanzler hat ausgedient | |
An Helmut Schmidt zeigt sich, wie groß das Bedürfnis nach Heldenverehrung | |
ist. Ein kleiner Beitrag zur Dekonstruktion. | |
Contra & Contra Altkanzler-Ehrung: Eine Straße für Helmut Schmidt? | |
In Hannover streitet die SPD darüber, ob die Hindenburg-Straße in | |
Helmut-Schmidt-Straße umbenannt werden sollte. Nein, finden zwei | |
taz-Autoren. | |
Nachruf auf einen Norddeutschen: Schmidt aus Langenhorn | |
Helmut Schmidts Popularität ist nicht ohne seine Zeit vor der Kanzlerschaft | |
denkbar. Er war ein Politiker, der in Hamburg aufstieg. | |
Nachruf auf Helmut Schmidt: Der Deutsche | |
Der politische Zustand, in dem Altkanzler Schmidt glänzte, war die Krise. | |
Doch seine Rationalität hatte auch eine mitleidslose Seite. | |
Antifaschistischer Preis: „Regeln bewusst übertreten“ | |
Warum die Hamburger Stiftung Auschwitz-Komitee ihren Hans-Frankenthal-Preis | |
an den Hamburger Autor Thomas Ebermann verleiht. | |
Sturmflut 1962: "Erstaunliche Verkennung der Lage" | |
Vor 50 Jahren kostete die große Sturmflut 340 Menschen das Leben. In | |
Hamburg wäre das Ausmaß der Katastrophe vermeidbar gewesen. |