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# taz.de -- Post-Platzhirsch-Zeitalter: Der Überkanzler hat ausgedient
> An Helmut Schmidt zeigt sich, wie groß das Bedürfnis nach Heldenverehrung
> ist. Ein kleiner Beitrag zur Dekonstruktion.
Bild: Hoheitlicher geht es kaum: Helmut Schmidt, einst Kanzler, als Briefmarken…
Hamburg taz | Sonderbar: dass wir [1][im postheroischen Zeitalter] leben,
hat uns inzwischen fast jeder Publizist und jede Soziologin mitgeteilt,
aber entweder sind wir daraus schon wieder enteilt oder doch noch nicht
angekommen. Fasst man den Begriff Held großzügig, fällt auch die Spielart
großer alter Mann darunter, und zu dessen Inbegriff ist Helmut Schmidt
geworden. Posthume Beigaben für den großen alten Mann sind ein Museum, eine
Briefmarke und ein Gedenkgottesdienst im Hamburger Michel. Beigabe zu
Lebzeiten war der Stammplatz in den bundesdeutschen Medien.
Was tut es, könnte man fragen, es gibt viel Sendezeit im deutschen
Fernsehen, warum dort nicht Helmut Schmidt zuhören statt einem Promi-Koch,
warum nicht ihn die Welt erklären lassen, wenn die Alternative Karl
Lagerfeld ist, der sich [2][zur Flüchtlingspolitik äußert]. Warum nicht
Helmut Schmidt in Ruhe den großen alten Staatsmann sein lassen, ihm den
Überschuss an Renommee in der Öffentlichkeit geben, der Helmut Kohl über
[3][seine Familienquerelen] abhanden gekommen ist?
## „Oh, diese Anzüge, diese Frisur“
Warum nicht? Weil sein Platz in der Öffentlichkeit nicht allein einem
inhaltlichen Bedürfnis folgt, sondern einem ästhetisch-stilistischen. „Oh�…
sagte ein Kollege zu mir, als die Rede auf Schmidt kam, „diese Anzüge,
diese Frisur.“ So erstaunlich es auf den ersten Blick sein mag: Körperliche
Attraktivität öffnet dem alten Mann Türen, die der alten Frau weiter fest
verschlossen bleibt, weil deren Schönheit nach wie vor nicht gilt.
Die alte Frau ist alt, der alte Mann ist markant: dieses volle weiße Haar,
[4][das adlerartige Profil]. Wen interessiert es denn, ob Schmidts
Politikverständnis von Immanuel Kant und Karl Popper geprägt war, wenn er
sich gut macht im Studio. Da ist der große alte Mann dann Coffeetable-Book
in der Auslage der Öffentlich-Rechtlichen, er macht sich gut im
Zeit-Magazin, dessen Anzeigen für Nobel-Uhren an den Handgelenken segelnder
Männer die gleiche weltläufige Anmutung atmen.
Was sind das für große alte Männer, deren prominentester Charakterzug in
der öffentlichen Inszenierung das Beharren darauf ist, überall rauchen zu
können? „Ein dröger Norddeutscher“, sagt meine Mutter, als ich sie nach d…
Ausstrahlung Schmidts zu Zeiten seiner Kanzlerschaft frage. „Immer im
Schatten Willy Brandts, der ungleich mehr Charisma hatte.“ Willy Brandt
starb zu früh, um noch Stammgast in Talkshows werden zu können.
## Einer kommt zur rechten Zeit
Helmut Schmidt kam rechtzeitig. Er hat davon profitiert, hat etwa die
Darstellung seiner Rolle bei der Bewältigung der Sturmflut in Hamburg
nachträglich an einigen Stellen geschärft: der Mann, der in der Stunde der
Not zur Stelle ist, wo die Kleinmütigen wie Hühner umherflattern. Er hat
sich inszeniert und er wurde inszeniert: als unbestechlicher, vom Zeitgeist
unkorrumpierbarer Tatmensch.
Dabei war die Zustimmung für ihn nicht in den Zeiten am größten, in denen
er sich schwierige Entscheidungen abrang: im Deutschen Herbst 1977, als er
sich nicht darauf einließ, die von der RAF Entführten gegen inhaftierte
Terroristen auszutauschen, weil er den Staat nicht erpressbar machen
wollte. Die Zustimmung zu Schmidt wuchs beträchtlich, als Franz-Josef
Strauß als für viele abschreckende Alternative auf die Bühne trat. Sie
wuchs erneut in der Ära Merkel. Angela Merkel ist beliebig weit entfernt
von der testosterongeschwängerten Luft starker Führer, schwer vorstellbar,
dass sie ihr Gegenüber fragt, ob es gedient habe.
Die Soziologen blättern in ihren Aufsätzen eine kleine Auswahl von
Heldentypen auf, es gibt neben dem Kriegsheld auch noch den zivilen Helden,
aber in der medialen Öffentlichkeit scheint eine gewisse Zackigkeit, eine
gewisse Aggressivität, eine gewisse Zweifelsfreiheit vorteilhaft. Es ist
nicht die Schuld Helmut Schmidts, dass die bundesdeutsche
Heldenöffentlichkeit so monoton ist.
Auf einen Tee mit Thomas de Mazière statt auf eine Zigarre mit Karl-Theodor
zu Guttenberg? Unwahrscheinlich, aber nicht so abwegig, wie es eine
Zigarette mit [5][Hildegard Hamm-Brücher] gewesen wäre. Ohne
[6][Platzhirschgehabe] kein Stammplatz im deutschen Fernsehstudio. Karin
Beier und Amelie Deuflhard statt Claus Peymann und Frank Castorf? Angela
Merkel, die einem staunenden Giovanni di Lorenzo durchdekliniert, was ihre
Nachfolgerin eigentlich zu tun hat? Beliebig unwahrscheinlich. Noch.
## Breitbeinige Männer, entzaubert
Wir leben in verwirrenden Zeiten. [7][Breitbeinige Männer] erklären in
Talkshows die Welt, während schmale Frauen sie auf Parteitagen entzaubern.
Ein Mann wie [8][Stéphane Hessel], in seiner entschiedenen Zartheit der
Gegenentwurf der raumgreifenden Alpha-Männer, wird europaweit zum Idol.
Während die Furcht umgeht, eine Mehrheit könne sich [9][nach starken
Führerfiguren sehnen], organisieren zahlreiche Namenlose eine
Bürgergesellschaft, die sich nicht überwältigen lassen will, nicht auf
starke Männer – oder Frauen – wartet, sondern das zu tun versucht, was sie
für richtig hält.
Wer weiß, vielleicht ist das die Zukunft: mündige BürgerInnen, deren
Sehnsucht nach Helden eher überschaubar ist, mehr Sidekick als
Dauerprogramm. Nicht auszudenken, wenn die Medien dem folgten, wenn sie
neue Stimmen entdeckten: alte Frauen mit unvorteilhaften Frisuren, die ihr
Gegenüber aussprechen lassen.
13 Jan 2019
## LINKS
[1] https://www.deutschlandfunkkultur.de/postheroismus-wenn-helden-nicht-mehr-n…
[2] /!5501957/
[3] /!5424161/
[4] https://www.youtube.com/watch?v=wEqqwnlaPpE
[5] /!5364523/
[6] https://www.youtube.com/watch?v=OMfCZZevMtE
[7] /!5555440
[8] /!5072392/
[9] /!5555842/
## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
Helden
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