# taz.de -- Trauerfeier für den Altkanzler: Schmidts Abgang | |
> In Hamburg wird Abschied von Altkanzler Helmut Schmidt genommen. Auch | |
> Angela Merkel kondoliert ihrem heimlichen Vorbild. | |
Bild: In Hamburg sagt man Tschüss. | |
HAMBURG taz | Man mag sich an diesem sonnigen, eisigen Morgen gar nicht | |
vorstellen, wie sich der belgische Ausnahmezustand in Brüssel anfühlt. In | |
Hamburg ist die Innenstadt weiträumig von Polizist*innen besetzt – und doch | |
wirken sie alle, von Punkt acht Uhr früh an, eher aufgeräumt, kaum | |
alarmiert. | |
Helmut Schmidt wird zu Grabe getragen, und die deutsche Politikelite würde | |
zugegen sein im Hamburger Michel, wie die Hauptkirche St. Michaelis | |
gewöhnlich genannt wird. Ein Staatsakt. Die Leibesvisitationen an allen | |
Zugängen werden akkurat vollbracht. Die Omnibusse, die noch fahren dürfen, | |
kommen im Schneckentempo voran, was allerdings an den leicht vereisten | |
Straßen liegt. | |
Im Michel füllt sich das großbäuchige Kirchenschiff, Rita Süssmuth nimmt | |
Platz, später auch die meisten Minister und Ministerinnen aus der Großen | |
Koalition. Ob es erstaunt, dass die Linkspartei, vertreten durch Petra Pau, | |
Bundestagsvizepräsidentin, auch zeitig Platz genommen hat? Dass Dietmar | |
Bartsch zu Gast ist? Dass Katrin Göring-Eckardt allein sitzt und mit fast | |
niemandem plaudert, Anton Hofreiter dafür am meisten mit Gerda Hasselfeldt, | |
Bayer*in wie er, nur von der CSU? Winfried Kretschmann sitzt als | |
baden-württembergischer Ministerpräsident im Block jener Politiker, die | |
momentan den Ton angeben. | |
Na klar, Gerhard Schröder und Frau Doris Köpf sind zugegen. Und ganz vorn, | |
wenig nur vom mit einer schwarz-rot-goldenen Flagge verhüllten Sarg, die | |
Gäste, auf die Helmut Schmidt, besonderen Wert gelegt hat: Valéry | |
Giscardd’Estaing, französischer Präsident von 1974 bis 1981 und einer der | |
engsten Weggefährten des 96-jährig verstorbenen Kanzlers beim Aufbau der EU | |
und eines Regierungschefforums, das heute die G 20 ist. Auch Henry | |
Kissinger, der einstige US-Außenminister, kam später auf das Gremium zu | |
sprechen. | |
Nein, all das war ja zu erwarten, sie standen ja auf der Gästeliste, die | |
obersten Repräsentanten der Staatsgewalten, also auch Andreas Voßkuhle, | |
Verfassungsrichter in Karlsruhe. Aber es sah jedenfalls von oben im Michel | |
ziemlich beeindruckend aus, dass die einstigen Fundamentaloppositionellen | |
von den Grünen (so wie auch Claudia Roth) und der Linken nun einen Mann | |
ehren, der viele ihrer Parteimitglieder, vor allem der der Ökopartei, erst | |
zu wütendem Engagement im Politischen geführt, ja getrieben hat. | |
Irgendwie musste auch dies fantasiert werden: Sie alle, die Regierung und | |
Opposition im Bundestag sind, eint mehr als das, was ab 2017 auch im | |
Reichstag Quartier nehmen könnte – der rechtspopulistische Furor namens | |
AfD. | |
## Die alte Ordnung stimmt nicht mehr | |
Schmidts Tochter Susanne, seit Langem in London lebend, wird von | |
Bundespräsident Joachim Gauck in die erste Reihe der Kirchenbänke geführt. | |
Angela Merkel wird später die Gäste der Feier begrüßen – und zum Ende, se… | |
würdig, sehr persönlich, nicht nur die Tochter des Kanzlers, sondern auch | |
dessen letzte Lebensgefährtin, Ruth Loah. | |
Es ist schon so oft protokolliert worden: Aber in Hamburg musste in den | |
Sechzigern ein Bürgermeister vom Amt zurücktreten, weil er in Scheidung | |
lebte, als Königin Elizabeth II. auf Deutschlandbesuch auch an die Elbe | |
kam. Das war sittlich verfehlt. Nur ein halbes Jahrhundert später stimmt | |
von dieser Ordnung kaum noch etwas. | |
Jedenfalls: Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz hob Schmidts Rolle als | |
Sozialdemokrat in schwierigen Zeiten hervor, was bei diesem, in Hamburg | |
ziemlich populären Politiker wie Routine klang, aber aus Scholz‘Worten | |
sprang zwischen den Zeilen auch so etwas wie selige Erinnerung durch, dass | |
die SPD mal einen Regierungschef hatte, der bis weit ins bürgerliche Lager | |
hinein Respekt einsammeln konnte. | |
Henry Kissinger, eine besondere Hassfigur der Linken wegen seiner Politik | |
gegen den sozialistischen Regierungschef Salvador Allende, wegen seines | |
Einflusses zur Verlängerung des US-Krieges in Vietnam, war Helmut Schmidt | |
ein besonderer Freund: An ihm, so der als jüdischer Deutscher im | |
Fränkischen geborene Mann, habe er besonders seinen Mut und seine Visionen | |
geschätzt. Freundschaft im besten Sinne, ohne Lüge, ohne Vorbehalt – und | |
dennoch blieb es bis zum Ende bei der hanseatischen Anredeform: Henry und | |
Helmut – aber per Sie, „nicht im vertrauten Du“. | |
## Die Sache mit den Visionen | |
Die Passage, in der Kissinger an die Visionen Schmidts erinnerte und auch | |
pries, musste erstaunen, ist Helmut Schmidt doch eine Legende auch deshalb, | |
weil er auf die Frage, wie er es mit politischen Visionen halte, | |
antwortete: Wer Visionen hat, möge zum Arzt gehen. Angela Merkel griff | |
diese Sottise beherzt auf in ihrer Traueransprache, erwähnte aber | |
gleichwohl, dass viele Jahre später Schmidt gefragt wurde, wie es denn zu | |
diesem Satz gekommen sei – und dieser antwortete: Das war eine pampige | |
Antwort auf eine blödsinnige Frage. | |
Als Merkel dies erwähnte, erhob sich das einzige Mal so etwas wie ein | |
erleichterndes Gelächter im Michel. Woher die Bedrücktheit? Die Kanzlerin | |
sagte ja gleich am Anfang ihrer Zeilen, dass ein Tod in diesem Alter ja | |
nicht wirklich, so sinngemäß, vor der Zeit sei – und insofern keine | |
Überraschung. Und doch: Auch sie sagte, für ihre Verhältnisse klang das | |
fast herzlich, dass er, dieser Kanzler, dessen Regentschaft ja auch mehr | |
als eine Generation zurückliegt, von ihr vermisst werde. | |
Merkel sprach nicht über sich, doch jede Rede über andere spiegelt | |
wesentlich das, was einen selbst bewegt. Die Kanzlerin lobte an Schmidt | |
genau das, was man ihr vermutlich auch eines Tages nachsagen wird: | |
Entscheidungen getroffen zu haben gegen den Mainstream ihrer Umgebung. | |
Verantwortung zu übernehmen für das, was einem langfristig wichtig ist. | |
Schmidt habe, sie betonte dies im Hinblick auf den | |
Nato-Nachrüstungsbeschluss der frühen achtziger Jahre, ja recht gehabt: | |
Durch die Ankündigung der Nachrüstung die Sowjetunion zu | |
Abrüstungsgesprächen zwingen – was die SPD in jenen Jahren nicht wahrhaben | |
wollte. | |
## Merkel ist beeindruckt | |
Man konnte sogar interpretieren: Das politische Kompliment auf einen ihrer | |
Amtsvorgänger ließ dessen Nachfolger, Merkels Parteifreund Helmut Kohl, | |
plötzlich wie einen Erbschleicher Schmidts aussehen. Selbstverständlich: | |
Das würde Merkel bestreiten. Doch sie war schon ziemlich explizit. Man sah | |
aus dem oberen Teil des Kirchenschiffs: Sie überflog ihre Rede kursorisch | |
sehr, sehr oft, ehe sie zum Pult unter vielen Engelsfiguren schritt. Flocht | |
ein, wie sehr Helmut Schmidt sie als Kind und junge Frau beeindruckt habe, | |
erwähnte den Terror der siebziger Jahre – und wie sehr Helmut Schmidt | |
diesem trotzte. Die Kanzlerin, ihre Umgebung wird dies viel besser genießen | |
können, wirkte auch bei diesem Auftritt absolut unwillig, irgendetwas von | |
ihrem politischen Kurs in Sachen Flüchtlinge zurückzunehmen. | |
Leider, so ist das bei Trauerfeiern, sind Sympathie- oder | |
Antipathiebekundungen seismografisch nicht zu ermitteln – ob Wolfgang | |
Schäuble die Eloge Merkels auf Schmidt als Selbstbehauptung der Kanzlerin | |
und sie goutierte: Man sah es nicht, er guckte ohnehin die ganze Zeit wie | |
innehaltend zu Boden. | |
Als der Sarg von acht Soldaten des Wachbataillons nach draußen getragen | |
wurde, brandete kurz Beifall von Passanten hinter den Absperrungen auf. | |
Bundeswehrangehörige spielten zum militärischen Ehrengeleit auf, „Jesu, | |
meine Zuversicht“ und den Trauermarsch aus Händels Oratorium „Saul“. | |
Das Trauergeleit zog sich bis in den Abend hin, langsam den Sarg zum | |
Ohlsdorfer Friedhof transportierend. Tausende Menschen standen Spalier. Im | |
Rathaus, zum nicht öffentlichen Senatsempfang, kamen 1.000 Gäste zusammen. | |
## Museum mit Mentholzigaretten | |
Der Hamburger Stadtteil Langenhorn, durch Schmidt auf die weltpolitische | |
Landkarte gebracht, muss nicht bangen, zu einem Nest am Speckgürtel der | |
Stadt zu werden. Aus dem Haus von Hannelore und Helmut Schmidt wird ein | |
Museum und eine Forschungsstelle. Die Kosten wird die nach dem Paar | |
benannte Stiftung tragen. Nicht nur gut möglich, sondern | |
höchstwahrscheinlich, dass die mentholverstärkten Zigaretten – die letzten | |
von ihm gebunkerten vor dem von ihm befürchteten generellen Verbot des | |
Rauchens – zu einem sehr beliebten Ausstellungsstück werden. | |
Ob Helmut Schmidt das alles gefallen hätte? Woher soll irgendjemand das | |
wissen. Was er zu schwierigen Problemlagen im Politischen gesagt hätte, | |
spekulierte Merkel, ließe sich vielleicht erörtern, aber das wolle sie | |
nicht. Jeder müsse selbst einen Weg finden, den er für richtig hält. Und | |
Verantwortung übernehmen. Dies darf dann doch spekuliert werden: Sie ist | |
bereit, selbst auf Kosten ihrer Partei dieses Ding namens Verantwortung zu | |
übernehmen. Wessen Erbschaft sie damit anzutreten gedenkt, darüber ließ sie | |
wirklich gar keinen Zweifel. | |
****************************************************** | |
Anmerkung des Autors: Eine Nachbemerkung jetzt am 25. November, zwei Tage | |
nach den Trauerfeierlichkeiten für Helmut Schmidt in Hamburg. Leserin | |
Renate Vetter aus Hamburg weist mich darauf hin, dass es keine acht | |
Soldaten des Wachbataillons waren, die Helmut Schmidt in seinem Sarg aus | |
dem Hamburger Michel hinausgetragen haben. Ihr Brief enthält das unbedingt | |
Richtige: Tatsächlich habe ich ja gesehen, dass es nicht acht Soldaten | |
waren – und doch beim Schreiben meines Berichts dem Zeugnis meiner eigenen | |
Augen nicht getraut. Diese übernahmen erst außerhalb des Kirchenschiffs den | |
Sarg, um den früheren Verteidigungsminister und Kanzler mit einem | |
Ehrengeleit zu würdigen. | |
Schmidt, der seine Trauerfeier lange vor seinem Tod plante, wollte | |
ausdrücklich keine Vermischung der kirchlichen Sphäre mit der | |
demokratisch-militärischen. Im Übrigen hatte ich auch in meiner Reportage | |
nicht erwähnt, dass der Staatsakt zwei Teile hatte: einen traditionellen | |
christlichen und einen staatlichen. Auffällig hätte mir sein müssen, dass | |
das Religiöse, der Atmosphäre im Michel zum Trotz, bei dieser Trauerfeier | |
nicht im Vordergrund stand. In den ersten Reihen saßen Politiker*innen, | |
Freund*innen und Weggefährt*innen – dies ist für mich, im Nachhinein, ein | |
Zeichen, dass Helmut Schmidt die Trennung von Staat und Glaubenssphäre | |
wichtig war. Dem Religiösen kein Vorzug, so Schmidt, der glaubte, nach | |
seinem Tod steige er nicht in den Himmel, sondern werde zu Atomen und | |
Molekülen. | |
Ebenso zutreffend war der Brief von Bärbel Haude aus Hamburg. Sie | |
korrigierte mich wegen einer Bemerkung Angela Merkels in ihrer Ansprache. | |
Die Kanzlerin erwähnte eine Bemerkung Schmidts zu seiner Sottise, er | |
empfehle bei der Frage nach „Visionen“ den Besuch eines Arztes, nicht | |
jedoch die politische Vertiefung. Schmidt habe seine Antwort als „pampig“ | |
bezeichnet, die Frage des Journalisten als „dusselig“. Ja, so hat sie es | |
gesagt – und sprach das Wort „dusselig“ (für Nichthamburger: ein Wort f�… | |
„bescheuert“, „blöde“, „bekloppt“ o. Ä.) seltsam unhamburgisch, m… | |
weichem, nicht scharfem „S“ aus. Daraufhin: Gekicher in den Kirchenbänken | |
des Publikums. Danke für die freundliche Korrektur. | |
In diesem Zusammenhang: Es war ein klarer, sehr kalter, sonniger Tag in | |
Hamburg. In der Innenstadt viel metropoles Gewusel, sehr viele Menschen, | |
die nicht ersichtlich trauerten. Ich hätte schreiben können: Das Leben ging | |
und geht weiter. | |
23 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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