| # taz.de -- Auszug aus Helmut-Schmidt-Biografie: „Und dann war ja Krieg“ | |
| > Helmut Schmidts Rückblick auf seinen jüdischen Großvater und sein Disput | |
| > mit Richard von Weizsäcker. Ein Auszug aus „Soldat, Kanzler, Ikone“. | |
| Bild: Gedenkfeier für Altkanzler Helmut Schmidt im St. Michaelis in Hamburg. | |
| Auch wenn Helmut Schmidt die Nazis ablehnte, wie er unzählige Male | |
| wiederholte, viele ihrer Lügen leuchteten ihm dennoch zunächst ein. | |
| Ausdrücklich wollte er sich dazu nach 1945 bekennen. Nein, blind war er wie | |
| andere auch. Wenige wagten das einzugestehen. | |
| Und gleichwohl, eine empfindliche Stelle blieb das in seinem Leben, oft | |
| kreisten seine Gedanken darum: Sich selbst illuminierte er nicht, aber | |
| allergisch, ja geradezu zornig reagierte er stets, so weit man auch | |
| zurückblickt, wenn Jüngere, die nie unter einer Diktatur gelebt hatten, „an | |
| Menschen meines Jahrgangs vorwurfsvolle Fragen stellen“. Was gab ihnen bloß | |
| das Recht, sich zu Moralaposteln, zu Helden im Nachhinein aufzuspielen? | |
| Auffallend spröde fielen die Auskünfte aus über den Vater. Vor allem die | |
| Energie, mit welcher der Vater sein Ziel verfolgte, nach oben zu kommen, | |
| beeindruckte den Sohn, wie er sich erinnerte. Nach dem Krieg, 1945, verließ | |
| ihn die Kraft, mit sechzig Jahren. „Die jahrelange Angst, seine Stellung zu | |
| verlieren, hatte den Mann zerstört.“ Aber er lebte noch 32 Jahre, bis ins | |
| Alter von 92 Jahren. | |
| Blieben schon die Anmerkungen zum Vater sparsam, so erwiderte er vollends | |
| wortkarg auf Fragen zum jüdischen Großvater. | |
| Macht ihm das Angst? | |
| Schmidt: „Weiß ich nicht. Ich bin im Grunde kein ängstlicher Mensch. Und | |
| dann war ja Krieg. Da wog die Angst vor Gefangenschaft oder die Angst vor | |
| schwerer Verwundung schwerer als alles andere.“ | |
| Welches Verhältnis hatte er zu seinem Großvater, Gumpel, den sein Vater | |
| brieflich davon unterrichtete, er habe zwei Enkel, einer von ihnen war | |
| Helmut? | |
| Schmidt: „Gar keins.“ | |
| Hat er sich nicht dafür interessiert? | |
| Schmidt: Viel habe die Hamburger Forschungsstelle, die sich mit dem | |
| Schicksal der Juden in der Stadt beschäftigte, nicht herausgefunden über | |
| den Großvater. Inzwischen wisse er mehr über die Familie, die aus Bernburg | |
| an der Saale stammte, „aber es interessiert mich eigentlich überhaupt | |
| nicht“. | |
| Interessierte ihn auch nicht, ob er Ähnlichkeiten mit ihm hat? | |
| Schmidt: „So etwas interessiert bloß Freiherrn, Grafen, Fürsten und | |
| ähnliche Leute. Die sind interessiert an der Dynastie, der sie zugehören. | |
| Die Vorfahren waren alle ganz große Leute, und jetzt bilden sie sich ein, | |
| dass sie auch groß sind.“ Aus Rücksicht auf seinen Vater, fügte er nur noch | |
| hinzu, habe er nicht darüber geredet. Erst als dieser gestorben war, | |
| erzählte er die Familiengeschichte „einem Freund – das war Giscard | |
| d’Estaing“. | |
| Hatte er Angst vor negativen Reaktionen, wenn Details über die Herkunft zur | |
| Zeit seiner Kanzlerschaft bekannt geworden wären? | |
| Schmidt, weiter betont lakonisch: „Nein, gewiss nicht.“ | |
| Der jüdische Tupfer in der Familiengeschichte änderte grundsätzlich nichts | |
| für ihn, daran ließ Schmidt keinen Zweifel, er zählte sich stets offen zu | |
| jener Mehrheit, die „verstrickt“ gewesen ist ins Verhängnis, „und nur die | |
| wenigsten haben das Verhängnis durchschaut, ehe es zu spät war“. | |
| Durchschaut hat auch er es nicht. Aufzuarbeiten allerdings, fand er, war | |
| danach nicht mehr viel. Selbst diejenigen, die noch bei Kriegsende an die | |
| Naziideologie glaubten, sind weitgehend geheilt worden, „als alle | |
| grauenhaften Tatsachen bekannt geworden sind“. Überraschend knapp und | |
| verallgemeinernd klang das. | |
| An einen kleinen Disput zwischen Richard von Weizsäcker und Helmut Schmidt | |
| erinnert man sich beim Wiederlesen. Niemandem habe entgehen können, dass | |
| Deportationszüge rollten, wenn er es wissen wollte – so hatte der damalige | |
| Bundespräsident in seiner Rede vom 8. Mai 1985 formuliert. Lebhaft | |
| applaudierte Helmut Schmidt zwar seinerzeit der historischen Darstellung, | |
| mit der Weizsäcker an diesem Tag aufwartete und – davon war er überzeugt – | |
| einen dauerhaften Beitrag zum Konsens der Republik über ihre Wurzeln und | |
| das Versagen der großen Mehrheit der Deutschen leistete. | |
| Aber dieser Satz speziell ließ ihm seinerzeit schon keine Ruhe, zu sehr | |
| verstieß der Präsident damit offenbar gegen seine eigene Sichtweise auf | |
| das, was Deutsche wirklich wussten und wissen konnten. Weizsäcker hatte | |
| damit an den heikelsten Punkt auch bei Schmidt gerührt, an eine | |
| Lebenswunde. | |
| Vierzig Jahre später, 1994, anlässlich des 50. Jahrestages des Attentats | |
| auf Hitler, dachten Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker und Marion | |
| Gräfin Dönhoff in einem Gespräch für die Zeit laut über den Widerstand und | |
| ihre unterschiedlichen Erinnerungen nach. Schon 1985, gleich nach der Rede, | |
| habe er dem Präsidenten geschrieben, berichtete Schmidt. Herzlich bedankte | |
| er sich in dem Brief für seine große Rede, holte dann jedoch zu seinem | |
| „Aber“ aus, um das es in Wahrheit ging: Dieser Satz Weizsäckers von den | |
| Deportationszügen, von denen jeder habe wissen können, war schlicht ein | |
| Satz zu viel, das wollte er nicht verschweigen. | |
| Schmidt: „Jemand, der der gesellschaftlichen Oberschicht angehörte, konnte | |
| sehr viel mehr wissen als jemand, der ein einfacher kleiner Muschkote war | |
| wie ich.“ In seiner Rekrutenstube jedenfalls hätten sie keine Ahnung von | |
| den Deportationen gehabt, nicht einmal die „Reichskristallnacht“ hätten sie | |
| mitgekriegt. „Na ja“, warf Weizsäcker ein. | |
| Schmidt: „Das glauben Sie nicht, aber es war so.“ | |
| Weizsäcker: „Natürlich glaube ich Ihnen, da Sie es so schildern. Das Zitat | |
| aus meiner Rede vom 8. Mai 1945 ist natürlich nur eine kurz gefasste | |
| Zuspitzung. Aber wahr ist, was Sie sagen, Herr Schmidt, dass man | |
| unterschiedliche Informationen auch von Hause aus kriegte. Ich bin bis zum | |
| Jahr 1937 im Ausland auf der Schule gewesen und habe natürlich vollkommen | |
| andere Zeitungen gelesen als meine Altersgenossen hier in Berlin. | |
| Trotzdem, der Judenstern wurde ja sichtbar getragen, auf Befehl, und den 9. | |
| November 1938 habe ich nun wirklich grundsätzlich rings um die | |
| Gedächtniskirche in Berlin erlebt, in voller Öffentlichkeit. Und es war ein | |
| unauslöschlicher Eindruck, den ganz genau dieser 9. November 1938 hier in | |
| Berlin gemacht hat, all die zerstörten Scheiben und das, was sich dann | |
| immer anschließt, der Ladendiebstahl und natürlich auch das Kleinlaute der | |
| Bevölkerung. Richtig ist, dass man selbst beim Stichwort ‚Deportationszug‘ | |
| noch bis ins Jahr 1942 hinein im Allgemeinen nicht wissen konnte, was sich | |
| damit verband.“ | |
| Schmidt: „Ich insistiere hier noch einen Augenblick, weil ich besorgt bin, | |
| dass das Bild entsteht, als ob alle anständigen Deutschen hätten wissen | |
| können, was passierte. Mein Vater war nach den Nürnberger Gesetzen ein | |
| Halbjude. Er hat das durch Manipulation seiner Abstammung verheimlichen | |
| können. Er war Lehrer. Seine Angst war nur, dass er aus dem Dienst entfernt | |
| würde. Seine Angst ging nicht irgendwie weiter. Er wusste auch nichts von | |
| der Vernichtung der Juden, bis zum Kriegsende nicht.» | |
| Als Weizsäcker dann aber die Attentatspläne seines engen Freundes Axel von | |
| dem Bussche auf Hitler schilderte, revanchierte Schmidt sich seinerseits | |
| mit einem genervten „Na ja!“. Viele derjenigen, die Hitler beseitigen | |
| wollten, hätten zuvor „an der Befestigung seiner Macht mitgewirkt“. Sie | |
| seien „in sehr jugendlichem Alter“ Oberste im Generalstab geworden, legte | |
| er noch nach, und hätten dafür Hitler in Kauf genommen. Noch mehr: „Sie | |
| haben sich auch am Aufbau der damaligen Wehrmacht beteiligt.“ | |
| Weizsäcker: „Ja, sicher.“ | |
| Schmidt: „Und haben schnell Karriere gemacht.“ | |
| Weizsäcker: „Ja, sicher.“ | |
| Schmidt: „Wurden in sehr jugendlichem Alter Oberste im Generalstab.“ | |
| Weizsäcker: „Ja, gut. Aber sie haben es nicht mit dem Ziel gemacht, Hitlers | |
| Macht zu stärken. Sondern sie haben sich daran beteiligt, zu sagen: Na ja, | |
| wenn es mit Deutschland wieder aufwärts geht, dann sind wir dabei.“ | |
| Zeit: „Und dafür haben sie Hitler in Kauf genommen?“ | |
| Weizsäcker: „Ja.“ | |
| Für ein paar Minuten prallten da zwei Lebenssichten zusammen, zweierlei | |
| Lebensläufe, obgleich alle das hatten verhindern wollen. Aber existenzielle | |
| Fragen aus ihren sehr deutschen Familiengeschichten holten sie mit einer | |
| gewissen Zwangsläufigkeit ein, den Adligen und den „Muschkoten“. | |
| Keinesfalls wollte Schmidt an seiner Version rütteln lassen, von dem | |
| Geschehen in Deutschland, besonders dem Mord an den Juden nicht wirklich | |
| gewusst zu haben. | |
| Wie oft sollte er das denn noch sagen? Die Nerven lagen bloß – unter | |
| Freunden. Bei allem Respekt für den Widerstand – es ging Schmidt zu weit, | |
| wenn den Offizieren, die sich daran beteiligten, pauschal eine konsequente, | |
| frühe Opposition gegen Hitler nachgerühmt worden wäre. Zwar war Weizsäcker | |
| davon weit entfernt. | |
| Aber Schmidt wollte etwas anderes betonen: Sogar sie, diese Lichtgestalten | |
| für uns, der Kreis der Widerständler, waren verführbar! Und umgekehrt: | |
| Unbedingt wollte er – gerade in diesem Kreis von Freunden – vor der | |
| Geschichte zu Protokoll geben, dass die „normalen“ Deutschen wie du und ich | |
| sich nicht derart kompromittiert haben, wie man es feststellen müsste, wenn | |
| sie über das wirkliche Geschehen und die ganze Dimension der Verbrechen in | |
| Deutschland voll Bescheid gewusst hätten. Selbst jetzt noch, fünfzig Jahre | |
| nach Stauffenbergs Attentatsversuch, wollte er unbedingt seine „Wahrheit“ | |
| verteidigen. Immer wollte er festhalten daran. | |
| Gemeinsam hatte die Mehrheit seiner Generation, die noch Kinder waren am | |
| Tage von Hitlers Machtübernahme, dass sie nicht zur Demokratie erzogen | |
| worden waren. Er wurde nicht müde zu schildern, dass den „normalen“ | |
| Deutschen während des Hitler-Regimes die wesentlichen Tatsachen über die | |
| deutschen Verbrechen vorenthalten wurden. Anders verhielt es sich für | |
| diejenigen, die eine Spitzenstellung einnahmen im Dritten Reich oder die im | |
| Ausland lebten, in den vornehmen Regimentern mit den vielen Adligen oder | |
| die fünf Jahre älter waren wie Willy Brandt und in der Emigration lebten. | |
| Seine Frage, allgemein formuliert, aber auch an sich selbst gerichtet: „Wie | |
| kam es eigentlich, dass wir, die wir schon längst keine Nazianhänger mehr | |
| waren oder nie Nazis gewesen waren, gleichwohl bis zum Ende – als Soldaten, | |
| als Beamte, als Lehrer oder als Arbeiter – die Pflichten erfüllt haben, | |
| welche der NS-Staat uns auferlegte? Haben wir dafür eine sittliche | |
| Rechtfertigung?“ | |
| Auf diese Formel verständigte er sich – mit sich. Auch diese Frage, die | |
| dennoch blieb, schleppte er ein Leben lang mit sich herum: Von einer | |
| „gespaltenen Bewusstseinslage“ sprach er erstmals in seinen Erinnerungen, | |
| das Wort sollte später häufig in Interviews, Aufsätzen, Büchern auftauchen. | |
| 25 Nov 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Gunter Hofmann | |
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