# taz.de -- Nach den Massenprotesten in Hongkong: Schirme gegen Ostwind | |
> Fast eine Million Menschen gingen vergangene Woche in Hongkong gegen das | |
> sogenannte Auslieferungsgesetz auf die Straße. Aber worum geht es genau? | |
Bild: Mit Schirmen wappnen sich Demonstrierende in Hongkong gegen Pfefferspray … | |
1. In Hongkong gehen gerade massenhaft Menschen auf die Straße und | |
protestieren. Was treibt sie an? | |
Auslöser für die [1][jüngsten Proteste in Hongkong] ist ein Gesetz, das im | |
Legislativrat der chinesischen Sonderverwaltungszone kurz vor der | |
Verabschiedung steht. [2][Das sogenannte Auslieferungsgesetz] sieht vor, | |
die Auslieferung von Gefangenen aus Hongkong nach Taiwan, Macao und aufs | |
chinesische Festland zu legalisieren. Hongkongs Regierung argumentiert, das | |
Gesetz würde nur eine Lücke schließen, weil die autonome Stadt sonst zum | |
Zufluchtsort für Straftäter würde. Es würde zudem nur die Auslieferung von | |
Kriminellen erlauben, nicht aber von politischen Dissidenten. | |
Die Demonstrierenden sehen in dem Gesetz eine Gefahr, denn grundlegende | |
politische Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit sind in China, anders als in | |
Hongkong, nicht gewährleistet. Gleichzeitig geht es bei den aktuellen | |
Protesten um deutlich mehr als das Auslieferungsgesetz: Für viele steht das | |
Gesetz symptomatisch für die Aufweichung von Hongkongs Autonomie und | |
bezeugt den wachsenden Einfluss der chinesischen Führung in der bislang zu | |
großen Teilen unabhängigen und freien Stadt. | |
2. Aber Hongkong ist doch ein Teil Chinas, oder nicht? | |
Die frühere britische Kronkolonie Hongkong ist seit der Rückgabe an China | |
am 1. Juli 1997 eine Sonderverwaltungszone der Volksrepublik. Nach dem | |
Grundsatz „ein Land, zwei Systeme“ hat China der Stadt für 50 Jahre | |
weitreichende Autonomierechte zugesichert. So hat Hongkong eine eigene | |
Währung, eine eigene Justiz und ein eigenes politisches System, das viele | |
Grundrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit gewährleistet, die auf dem | |
Festland nicht gelten. Auch gibt es zwischen Hongkong und China weiterhin | |
eine überwachte Grenze, die aber täglich von Hunderttausenden mit den | |
entsprechenden Dokumenten passiert werden kann. | |
3. Wie funktioniert das Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ in der Praxis? | |
Als Chinas Machthaber Deng Xiaoping in den frühen 1980er Jahren das Prinzip | |
den Briten und Hongkongern schmackhaft machte, kam das Land gerade aus der | |
maoistischen Kulturrevolution – in Hongkong hingegen dominierte der | |
Kapitalismus. Es galt, den Hongkongern die Angst zu nehmen, ihnen drohe | |
durch das Abkommen eine sozialistische Plan- und Mangelwirtschaft. | |
Die 50-jährige Autonomiephase Hongkongs verläuft aber nicht statisch, | |
sondern bewirkt auch eine politische und gesellschaftliche Annäherung | |
zwischen Chinas Festland und Hongkong mit sich. Viele Menschen in der Stadt | |
hofften darauf, dass China mehr und mehr bewährte Politiken des liberalen | |
Hongkong übernehmen würde. Für Chinas autoritäre Kommunistische Partei | |
stellt das liberal-demokratische System aus Hongkong jedoch eine Bedrohung | |
dar. Deshalb versucht die KP, die Autonomie der Sonderverwaltungszone immer | |
mehr einzuschränken. Manche Hongkonger sprechen deshalb heute nur noch von | |
„ein Land, eineinhalb Systeme“. | |
4. Bei den Protesten sieht man überall Regenschirme, obwohl es nicht | |
regnet. Wofür stehen die Schirme? | |
Oh doch, es regnet viel in Hongkong und momentan ist Regenzeit. Die meisten | |
Menschen gehen in dieser Zeit nie ohne Schirm auf die Straße. Schirme | |
helfen auch gegen die sengende Sonne zwischen den Schauern und schützen | |
Demonstrierende zumindest ein wenig vor dem [3][Pfefferspray und dem | |
Tränengas der Polizei]. Schirme wurden auch zum Symbol der Hongkonger | |
Occupy-Bewegung im Jahr 2014, die [4][auch Regenschirmbewegung genannt] | |
wurde. Deshalb drücken viele Unterstützer der Proteste jetzt auch in | |
sozialen Medien ihre Solidarität mit Regenschirm-Emojis aus. | |
5. Welche Rolle spielt die Hongkonger Regierungschefin? | |
Carrie Lam ist die erste Frau auf dem Posten und seit knapp zwei Jahren im | |
Amt. Sie war jedoch [5][die Wunschkandidatin Pekings] und nicht die der | |
Bevölkerung – denn diese hat bei der Besetzung der Regierungsposten kein | |
Mitspracherecht. Lam hat schon bei früheren Konflikten relativ | |
kompromisslos für die pekingtreue Regierung der Stadt verhandelt. | |
Inzwischen hat sie viel Vertrauen der Bevölkerung verspielt. | |
Lam erweist sich darüber hinaus auch für die pekingloyalen | |
Wirtschaftskreise der Stadt zunehmend als Belastung. Denn Hongkongs | |
Autonomie ist aus wirtschaftlicher Sicht ein wichtiger Standortvorteil der | |
Stadt. Mittlerweile befürchten auch konservative Geschäftsleute, dass wegen | |
des umstrittenen Auslieferungsgesetzes die Wirtschaftsbeziehungen Hongkongs | |
mit den USA Schaden nehmen könnten – denn die basieren darauf, dass es | |
fundamentale Unterschiede zum chinesischen Rechtssystem gibt. | |
6. Welche Rolle spielt die chinesische Staatsführung in Peking? | |
Chinas alleinherrschende Kommunistische Partei ist in Hongkong offiziell | |
nicht existent. Es gibt kein Parteibüro, keinen sichtbaren Ortsverein und | |
keine offiziellen Vertreter. Mutmaßlich existiert das alles, nur völlig | |
klandestin. China war stets darauf bedacht, über Hongkong trotz Autonomie | |
die Kontrolle zu bekommen. So gibt Chinas mächtigste Institution, die | |
Kommunistische Partei, auch in Hongkong die Richtung vor. Inzwischen mischt | |
sich Chinas Führung immer unverfrorener in Hongkong ein. | |
Zuletzt sorgte im Herbst 2015 der Fall fünf pekingkritischer Buchhändler | |
für Aufsehen. Diese verschwanden spurlos aus der Stadt und tauchten dann | |
plötzlich im chinesischen Staatsfernsehen auf dem Festland wieder auf. Dort | |
gaben sie reumütige Erklärungen über ihre Verfehlungen ab. Manche sehen in | |
dem neuen Auslieferungsgesetz eine Art Legalisierung des potenziellen | |
Kidnappings pekingkritischer Kräfte. Die chinesische Führung hat mit dem | |
Gesetz offiziell nichts zu tun, es ist eine Initiative der Hongkonger | |
Regierung. Diplomatisch, politisch und propagandistisch unterstützt Peking | |
in dem Konflikt aber Hongkongs Regierung nach Kräften. | |
7. Wer steckt hinter den Protesten, wer führt sie an? | |
Dass bei den Protesten am vergangenen Sonntag laut Schätzungen fast eine | |
Million Menschen, also etwa ein Siebtel der Hongkonger Bevölkerung, auf die | |
Straße gingen, zeigt: Die Bewegung mobilisiert die Massen – über | |
Berufsgruppen, Milieus und Alterssparten hinweg. Historisch hat Hongkong | |
seine ganz eigene Demokratiebewegung. Dazu gehören liberale Anwälte und | |
Akademiker, Christen, unabhängige Gewerkschafter, Antikommunisten, Spontis | |
und jugendliche Aktivisten. Die Bewegung ist auf mehrere Parteien und viele | |
Gruppen verteilt, die teilweise sehr unterschiedliche Vorstellungen haben. | |
Die meisten fühlen sich als demokratische Chinesen, ein Großteil der | |
Hongkonger Bevölkerung hat noch familiäre Wurzeln auf dem Festland. Aus der | |
traditionellen Demokratiebewegung wurden viele bewährte Anführer in den | |
Legislativrat gewählt. Ein kleiner und vor allem jüngerer Teil sieht sich | |
hingegen explizit als Hongkonger und will mit dem Rest Chinas nichts zu tun | |
haben. Sie alle eint aber die Ablehnung einer Bevormundung durch die KP in | |
Peking und deren Hongkonger Statthalter. | |
Bei der Blockade des Parlaments am Mittwoch fiel auch auf, dass die meisten | |
Demonstrierenden sehr jung waren. Viele von ihnen kennen China von | |
Besuchen, lehnen aber die dortigen Verhältnisse ab und sind bereit, | |
militanter für Hongkongs Autonomie zu kämpfen als ihre Eltern. Die | |
Regenschirmbewegung von 2014 hatte prominente Schüler- und Studentenführer, | |
aktuell sind noch keine Schlüsselfiguren der neuen Proteste sichtbar | |
geworden. Am Mittwoch fiel auf, dass die Blockaden gut organisiert waren, | |
meist über Chatgruppen im verschlüsselten Messengerdienst Telegram. | |
8. Regierungschefin Carrie Lam hat am Samstag die Verabschiedung des | |
Gesetzes verschoben, ohne einen neuen Termin zu nennen. War das ein Sieg | |
der Demonstranten? | |
Erst mal ja, weil es die Stärke der Demonstranten und die Schwäche des | |
Regierungslagers zeigt. Die Verschiebung der Entscheidung über das | |
Auslieferungsgesetz verschafft der Regierung Zeit, sie hofft, den | |
Demonstrationen so den Wind aus den Segeln zu nehmen. Lam begründete ihren | |
Rückzug nur mit Kommunikationsfehlern, nicht mit der Einsicht, dass das | |
Gesetz als solches ein politischer Fehler war. Die Gegner des Gesetzes | |
müssen also wachsam sein. Die Verschiebung ist deshalb noch kein | |
endgültiger Sieg der Demonstranten. | |
Die Regierung verfügt über eine satte Mehrheit im nicht demokratisch | |
gewählten Legislativrat, hat inzwischen aber auch Kritiker in den eigenen | |
Reihen und hat eingesehen, dass die politischen Kosten für ein Durchboxen | |
des Gesetzes im Parlament zu groß wären. | |
9. Wie geht es jetzt weiter? | |
Hongkongs Regierung spielt auf Zeit, versucht, die konfrontative Stimmung | |
zu reduzieren. Sie sucht nach einem neuen Weg, das Gesetz doch noch | |
durchzubringen – eventuell in leicht abgeänderter Form. Regierungschefin | |
Lam will sich dabei im Amt zu halten. Unklar ist, wie lange Peking an ihr | |
festhalten wird. Eigentlich ist sie verbrannt, aber Peking braucht sie | |
noch, um die jetzigen Scherben zu beseitigen und hat so schnell auch keine | |
Alternative parat. | |
Innerhalb Hongkongs könnten die Massenproteste die Demokratiebewegung bei | |
den nächsten semidemokratischen Wahlen stärken. Ein Gradmesser wird der | |
Massenprotest am Sonntag sein. Kommen mehr Menschen als am Sonntag zuvor, | |
war Lams Rückzug eine Ermutigung für die Demokratiebewegung und sie wird | |
sich wohl nicht mehr lange halten können. Kommen weniger, hat ihr Aussetzen | |
der Verabschiedung des Gesetzes es erstmal geschafft, den Protesten den | |
Wind aus den Segeln zu nehmen. | |
Eine andere Frage ist das künftige Verhältnis zwischen Peking und Hongkong. | |
Die KP-Führung hat eine Niederlage erlitten und gemerkt, dass sie Hongkongs | |
Bevölkerung nicht so leicht unter Kontrolle bekommt wie erhofft. Das | |
könnten zu weniger oder mehr künftiger Einmischung führen. Angesichts der | |
bisherigen Erfahrungen und der Denk- und Arbeitsweise der KP in China, ist | |
letzteres zu befürchten. Dabei ist jetzt auch klargeworden, dass wenn | |
Hongkongs Bevölkerung mehr Mitsprache gehabt hätte und z.B. die | |
Regierungschefin von der Bevölkerung und nicht einem Peking-loyalen Gremium | |
gewählt worden wäre, der jetzige Konflikt gar nicht so weit eskaliert wäre. | |
16 Jun 2019 | |
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## AUTOREN | |
Sven Hansen | |
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