# taz.de -- NSU-Prozess in München: Schmerz der Erinnerung | |
> Im NSU-Verfahren vor dem Oberlandesgericht München schildern erstmals | |
> zwei Betroffene den Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße. | |
Bild: Mitglieder der Initiative „Keupstraße ist überall“ in München. | |
MÜNCHEN taz | Im Saal A 101 herrscht zwischen Fragen und Antworten | |
betroffenes Schweigen. Im NSU-Verfahren vor dem Oberlandesgericht München | |
schildern Sandro A. und Melih K. die Verletzungen, die sie durch einen mit | |
Nägeln gefüllten Sprengsatz in der Kölner Keupstraße erlitten: Sie sprechen | |
von über 100 Glassplittern im Gesicht, von Verbrennungen, von den Nägeln, | |
die sich in ihre Knochen bohrten. | |
Die Erschütterung und das Entsetzen unten den Zuschauern und Journalisten | |
entlädt sich kurz, als Melih K. sagt: Eine Nagelbombe in einer Straße, in | |
der Migranten leben – dass das Nazis gewesen sein müssen, sei doch | |
offensichtlich: „Da brauch man kein Ermittler zu sein“. Von der Empore | |
kommt Applaus. „Das ist keine Kundgebung“, ermahnt der Vorsitzende Richter | |
Manfred Götzl das Publikum. | |
In dem fensterlosen Saal berichtet Melih K. über den verhängnisvollen | |
Nachmittag jenes 9. Juni 2004. Damals wurden 22 Menschen teilweise schwer | |
verletzt. Heute, am 175. Verhandlungstag des NSU-Prozesses, sind alle | |
vorgesehen Plätze für Zuschauer und Journalisten belegt. Die Initiative | |
„Keupstraße ist überall“ hat ihr Versprechen gehalten und ist zur | |
Unterstützung nach München gereist: Keiner der Betroffen des Anschlage der | |
Bomben soll hier allein vor der Hauptbeschuldigten – Beate Zschäpe und den | |
Mitangeklagten Ralf Wohlleben, André Eminger, Holger Gerlach und Carsten S. | |
– aussagen. | |
Ganz still wird es im Raum A 101, als Melih K. mit ruhiger Stimme sagte: | |
„Wir wollten nur was zu essen holen, dann ist uns das passiert“. „Wir“,… | |
sind Sandro D. und er. Mit dem Auto haben sie in der zweiten Reihe geparkt, | |
um schnell einen Döner zu holen. Auf dem kurzen Weg zurück, so gegen 16 | |
Uhr, gehen sie an dem Friseur-Laden vorbei, wo laut Anklage Mitglieder des | |
„Nationalsozialistischen Untergrunds“ NSU die Nagelbombe auf einen Fahrrad | |
in einem Plastikkoffer abgestellt hatte. Da explodiert die Bombe. „Ich | |
wollte gerade in den Döner beißen, dann Knall, Licht an, Licht aus“ sagt | |
der 31-Jährige. | |
Im blauen Pullover und blauen Tuch sitzt er mit seiner Rechtsanwältin auf | |
den Zeugenplatzgegen, über den Angeklagten. Die tun unbeteiligt: Zschäpe | |
schaut auf ihren Computer, Wohlleben und Eminger sitzen meist mit | |
verschränkten Armen da. Nur Carsten S, der bisher am weitesten geständig | |
ist, schaut berührt. Von der Empore, wo die Presse ihre festen Plätze hat, | |
können die Gesichter der Zeugen nur gesehen werden, wenn sie sich zu den | |
Nebenklägernumdrehen. | |
## Schutt und Asche | |
Ein kurzer Seitenblick vom Melih K. der eine modischen Frisur und Bart | |
trägt, zeigt, wie schwer ihm diese Aussage fällt. Neun Zimmermannsnägel aus | |
der Bombe trafen ihn in Beine und Rücken. Fremdkörper schossen in sein | |
Gesicht. Eine Stickflamme verbrannten teilweise das Gesicht, Haare, | |
Trommelfell und den linken Arm. „Als ich meine Augen aufmachte sah ich, | |
dass alles in Schutt und Asche lag“. | |
Seinen Freund, der auf dem Gehweg neben ihm gegangen war, hörte er „Melih“ | |
rufen. „Ich konnte nicht antworten ich stand unter Schock“, sagt er. | |
Nachbarn hatten da gerade die Flammen an seinem Körper mit Wasser gelöscht, | |
erinnert er noch. | |
„Ich wusste nicht ob Melih noch lebte, ich sah ihm am Boden liegen“, hat | |
der heute 34jährige Sandro D. zuvor ausgesagt. Von hinter erwischte auch | |
ihn „ein Druck. Ich flog durch die Luft, wusste aber gar nicht was passiert | |
war“, sagt er ebenso bemüht, sachlich nüchtern zu klingen. Von vier Nägeln | |
und Plastikteilen getroffen, flüchtete er auf die andere Straßenseite in | |
einem Hausflur. | |
Dort wird ihm das brennende Oberteil ausgezogen. Er hat Verbrennungen an | |
der linken Schulter, Arm und Hand, zwei Finger sind fast ab, sein rechter | |
Oberschenkel ist kaputt geschossen. Anwohner halten ihn fest, bis die | |
Rettung kommt, sagt Sandro D., der im blauen Hemd und blauen Pullunder | |
neben seinem Rechtsanwalt auf dem Zeugenplatz sitzt. | |
## Psychologische Therapie half nicht | |
Die an die Wand projizierten Bilder und im Kopf ablaufenden Vorstellungen | |
lassen die Zuschauer erahnen, wie schlimm es für die Betroffenen war. „Wie | |
schwer die verletzt wurden“, sagte in einer Verhandlungspause eine | |
Schülerin betroffen. Sie ist mit weiteren Schülern des Städtischen | |
Hölderlin-Gymnasium in Köln-Mühlheim, wo die Keupstraße ist, gekommen. „W… | |
das für die Betroffenen bedeuten muss, da zu sitzen, vor den Tätern | |
auszusagen“, fragt sich eine andere Schülerin. Sie bewegt auch, „dass die | |
Zeugen aus Angst ihre Adresse nicht angeben“. | |
Im Krankenhaus müssen sich Melih K. und Sandro D. mehreren schweren | |
Operationen unterziehen. Die vielen Narben erinnert sie bis heute jeden Tag | |
an den Anschlag, nicht nur körperlich. Erste psychologische Therapie halfen | |
nicht, das Reden erinnerte sie nur weiter an das Geschehen, dass sie | |
einfach bloß vergessen wollten. Als der NSU am 11. November 2011 aufflog, | |
war alles wieder da. Auch, das sie im Krankenhaus nicht von einander | |
erfahren durften. „Diese Nichtwissen um Melih belastete mich schwer“, sagte | |
Sandro D., sich über die Glatze streichelnd. Die Polizei habe jegliche | |
Information im Krankenhaus verboten. | |
Der Grund: Die Ermittler hielten die beiden für die Täter, denen die Bombe | |
zu früh hoch gegangen war. „Man hat uns von Anfang an verdächtigt, das | |
Fahrrad mit der Bombe dort platziert zu haben“, sagte Sandro D., der wegen | |
den Folgen bis heute nicht arbeiten kann. „Wir mussten DNA und | |
Fingerabdrücke abgeben“, berichtete Melih K. Er, der trotz allem | |
Justizangestellter wurde, sagt aber auch, nicht die Polizei, sondern | |
Freunde hätten seine Eltern informiert, dass ihr Sohn im Krankenhaus lag – | |
erst Stunden nach dem Anschlag. | |
Unterstützt von Radio Lora München | |
20 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Andreas Speit | |
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