# taz.de -- Momentaufnahmen zum Tag der Arbeit: Ungleichheit ohne Ende | |
> Während es in Istanbul zu Tumulten kommt, singen die schwedischen | |
> Sozialdemokraten in Kramfors Lieder. In Beirut kämpfen Frauen für ihre | |
> Rechte. | |
Achtung, zurück, sie setzen Tränengas ein!„Hustend und nach Luft ringend | |
kommt eine Gruppe junger Leute auf den Rathausplatz zugerannt. | |
Jürgen Gottschlich aus der eurasischen Metropole Istanbul: | |
„Die Polizei greift an“, schreit ein anderer. „Statt der Maifeiern haben | |
wir dieses Jahr Polizeifestspiele in Istanbul.“ Wenige hundert Meter vom | |
Istanbuler Rathaus im Stadtteil Saraçhane entfernt hatte die Polizei sich | |
schwer bewaffnet aufgebaut und in mehreren Reihen die Straße gesperrt. | |
Hinter den Polizeiketten warteten etliche Wasserwerfer auf ihren Einsatz. | |
Nach der Kundgebung versuchten einige linke Gruppen, diesen Polizeiriegel | |
zu durchbrechen. Anschließend rückte die Polizei wie eine römische Legion | |
Schritt um Schritt gegen das Rathaus vor. | |
Mehr als 42.000 Polizisten verhinderten, dass Gewerkschaften und Opposition | |
eine Maikundgebung auf dem zentralen Istanbuler Taksim-Platz abhalten | |
konnten. Ersatzweise fand die Kundgebung deshalb in der Nähe des Rathauses | |
statt. Dafür wurde die halbe Stadt abgesperrt: Teile des Fährverkehrs, | |
mehrere Metrolinien sowie 30 Hauptstraßen wurden unterbrochen. | |
Anders als in den Jahren zuvor solidarisierte sich in diesem Jahr die | |
Parteispitze der CHP mit den Gewerkschaften und forderte die Regierung auf, | |
den Weg zum Taksim-Platz freizugeben. Doch es nutzte nichts. [1][Auch der | |
Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu (CHP)] durfte nicht ins Zentrum | |
seiner Stadt. | |
Auf der Kundgebung vor dem Rathaus verurteilten Imamoğlu und der | |
Parteivorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Özgür Özel, das | |
undemokratische und auch rechtlich unzulässige Demonstrationsverbot auf dem | |
Taksim-Platz. Gemeinsam mit den beiden Gewerkschaftsdachverbänden Disk und | |
Kesk hatten der gerade wiedergewählte Oberbürgermeister und der | |
Parteivorsitzende der CHP dazu aufgerufen, sich auf dem Rathausplatz zu | |
sammeln und von dort zum Taksim-Platz zu marschieren. | |
Auf Anordnung der Regierung in Ankara hatte jedoch der Gouverneur von | |
Istanbul schon zwei Tage zuvor eine Kundgebung auf dem Taksim-Platz | |
verboten. Das war keine Überraschung, denn seit den Gezi-Protesten 2013, | |
die vor allem auf dem Taksim-Platz stattgefunden hatten, lässt die | |
Regierung Erdoğans keine Kundgebungen auf dem Platz mehr zu und hat auch | |
Demonstrationen in den umliegenden Straßen verboten. | |
So war auch die ansonsten immer überfüllte Istiklal Caddesi, | |
Haupteinkaufsstraße von Istanbul, am Mittwoch gähnend leer. Nur einige mit | |
Rollkoffern bewaffnete Touristen waren noch an den harten Polizeisperren | |
durchgelassen worden. Andere Bilder kamen aus der Hauptstadt Ankara und der | |
Ägäismetropole Izmir. Während in Ankara die Demonstrierenden hauptsächlich | |
mit strömendem Regen zu kämpfen hatten, feierten die Bewohner von Izmir ein | |
großes Maifest direkt an der Uferpromenade, ohne groß von der Polizei | |
belästigt zu werden. | |
[2][Die jährlichen Maikundgebungen] und die seit Jahren immer | |
wiederkehrenden Auseinandersetzungen um den Zugang zum Taksim-Platz | |
täuschen allerdings darüber hinweg, dass die Gewerkschaften in der Türkei | |
insgesamt schwach sind und der Organisationsgrad sehr niedrig ist. | |
Das liegt daran, dass seit dem Militärputsch am 12. September 1980 | |
Gewerkschaftsarbeit stark eingeschränkt wurde und gewerkschaftsfeindliche | |
Gesetzgebung bis heute in Kraft ist. | |
## Beschaulicher 1. Mai in Schweden | |
Anne Diekhoff aus der nordschwedischen Kleinstadt Kramfors: | |
Für Ida sind Feminismus und Umweltschutz die wichtigsten Themen. Sie ist | |
elf Jahre alt, eine der Jüngsten beim 1.-Mai-Umzug der Sozialdemokraten. | |
Es ist Idas Premiere. Anne-Marie Sollén hingegen ist eine 1.-Mai-Veteranin. | |
„Ich bin als Sozialdemokratin geboren“, sagt sie, das war 1936. Viele | |
Jahrzehnte sei sie kommunalpolitisch und gewerkschaftlich aktiv gewesen. | |
„Ich liebe die Sozialdemokraten“, sagt sie auch noch. Warum? Ihre | |
Zusammenfassung: „Frieden und Freiheit, Sorge für die Kleinen, Arbeit für | |
alle.“ | |
Sie versammeln sich seit 12.30 Uhr auf dem Parkplatz beim Blumenhändler. | |
Wenn über 100 Menschen kommen, sei man zufrieden, sagt Maria Persson von | |
der Gewerkschaft der Kommunalen Angestellten. Um 13 Uhr wird sich der Zug | |
mit rund 80 Leuten in Bewegung setzen, immerhin. | |
Maria Persson ist 65, arbeitet in einem Kindergarten. Für sie das | |
wichtigste Anliegen heute: Mehr Personal in der Altenpflege. „Als Corona | |
war, wurde für sie geklatscht, und jetzt sind sie nichts mehr wert“, | |
beklagt sie. Das Personal sei überlastet. Und ihr täten auch die alten | |
Leute leid, sie könnten nicht mal mehr ein Eis essen gehen, weil niemand | |
mehr Zeit habe, sie zu begleiten. Die Kommune sei ökonomisch schwach und | |
müsse sparen, ja – aber doch nicht so. | |
Auf dem Sportplatz nebenan ist ein Spiel zu Ende, als der Zug startet – ein | |
paar fußballmüde Jugendliche als erstes Publikum. Sie leben hier ziemlich | |
weit weg von der großen Politik. Die guten Zeiten der Holzindustrie sind | |
seit Jahrzehnten vorbei, die der Sozialdemokratie inzwischen auch. Als der | |
Zug der Unverdrossenen an einem Mehrfamilienhaus vorbeikommt, winken Leute | |
von Balkonen, die mitmarschierende Kapelle spielt die Internationale und | |
Anna-Belle Strömberg winkt zurück. Sie ist der Stargast aus Stockholm, | |
Reichstagsabgeordnete für die Region. | |
Pelle Anderzon läuft neben ihr – als Vorsitzender des Ortsverbands der | |
Sozialdemokraten ist er Gastgeber. Warum findet er diesen Marsch auch 2024 | |
noch wichtig? „Das ist unsere Geschichte, und ohne unsere Geschichte können | |
wir nicht die Zukunft gestalten“, sagt er. Sie stünden dafür, dass alle | |
Menschen gleich viel wert seien. Anderzon erinnert daran, dass letzte Woche | |
eine Pride-Flagge angezündet wurde, die vor einer Wohnung in Kramfors hing. | |
„Wir gehen heute für unsere Werte auf die Straße.“ | |
Auf dem Marktplatz wird der Zug von gut 100 Menschen erwartet, am Stand der | |
Partei gibt’s Kaffee. Ein Mann mit Gitarre betritt die Bühne. Sein Lied: | |
„Wir haben keine Fabriken, wir haben kein Kapital, aber wir haben unsere | |
Solidarität.“ Die Rede der Reichstagsabgeordneten verspricht Solidarität | |
mit der Ukraine, aber auch mit denen, die in Schweden unter den | |
wirtschaftlichen Kriegsfolgen leiden. Die Sozialdemokratische Partei wolle | |
mehr Geld für den Gesundheitsbereich, höheres Kindergeld, den Banken- und | |
Strommarkt kontrollieren. Und jetzt käme die EU-Wahl – die EU sei Schwedens | |
sicherer Hafen, die Wahl wichtig im Kampf gegen rechts. Freundlicher | |
Applaus von den Menschen auf den Bierbänken. | |
## Mutige Hausangestellte ohne Arbeitsrecht | |
Julia Neumann aus Beirut: | |
Für ausländische Haushaltsangestellte im Libanon gibt es am Tag der Arbeit | |
wenig zu feiern. Sie sind vom Arbeitsrecht ausgeschlossen. Das | |
Arbeitsgesetz verbietet es ihnen sogar, eine Gewerkschaft zu gründen. | |
Im Libanon leben rund 250.000 ausländische Hausangestellte. Männer reinigen | |
meist Fenster, arbeiten bei der Müllabfuhr oder an Tankstellen. Frauen | |
arbeiten als Putzkräfte und Haushaltshilfen. Sie pflegen auch ältere | |
Menschen, denn Altenpflege ist im Libanon Privatsache. Die Familie sollte | |
den Angestellten im Gegenzug Essen, Kleidung, Lohn zahlen und ein Zimmer | |
stellen. | |
Die Realität sieht anders aus: „Oft haben die Arbeiterinnen nicht mal ein | |
Zimmer, sie schlafen im Wohnzimmer, im Flur, im Bad oder auf dem Balkon“, | |
beschreibt Messi Mandefru von der NGO Egna Legna die Situation für | |
äthiopische Hausangestellte im Libanon. „Sie müssen warten, bis alle ins | |
Bett gehen, damit sie schlafen können. Sie arbeiten jeden Tag, oft | |
durchgehend, sie schlafen nicht mal vier Stunden. Es ist ihnen verboten, | |
mit ihrer Familie zu kommunizieren oder mit den Nachbarn zu reden.“ | |
Die Ausbeutung fange bei den Agenturen an. Sie rekrutieren die | |
Arbeitskräfte in Äthiopien, den Philippinen oder Pakistan und verlangen | |
dafür oft hohe Gebühren. Im Gegenzug versprechen sie ein gutes Gehalt in | |
US-Dollar, das Arbeiter*innen an ihre Familien schicken können. | |
Dahinter verbirgt sich ein ausbeuterisches System: Ihr Arbeitsvisum ist mit | |
dem Arbeitgebernamen, dem Kafil – übersetzt Sponsor –, verbunden. Wer seine | |
Arbeitsstelle verlässt, weil etwa die Bezahlung ausbleibt, ist ab dann | |
illegal im Land, weil die Aufenthaltsgenehmigung an den Sponsor gekoppelt | |
ist. | |
Die Behörden unterstützen die Ausbeutung. Am Flughafen warten Frauen | |
teilweise tagelang in einem kleinen Zimmer unter Aufsicht der Behörden ohne | |
Essen darauf, dass sie von ihren Sponsoren abgeholt werden. „Wenn sie dann | |
in den Haushalt kommen, sollen sie gleich arbeiten, ohne Pause. | |
Arbeitgeber*innen werfen persönliche Gegenstände weg, weil sie | |
angeblich nicht sauber seien, und zwingen uns zum Duschen“, erzählt | |
Mandefru. „Sie konfiszieren persönliche Gegenstände wie Telefone und auch | |
den Pass.“ Auch Besuch sei nicht gestattet. Die durchgehende Sorge, etwas | |
falsch zu machen oder bestraft zu werden, sowie die Gefahr, misshandelt zu | |
werden, habe einen starken Einfluss auf die Psyche: Depression, | |
Angststörung, suizidale Gedanken. | |
Wegen der sozialen Isolation und Furcht vor Konsequenzen ist es sehr | |
schwer, überhaupt aus dem Haus zu kommen, geschweige denn, am 1. Mai aus | |
Protest auf die Straße zu gehen. Trotzdem organisieren sich mutige | |
Migrant*innen im Libanon in dieser zutiefst ungerechten Situation und | |
bilden Gemeinschaften. Vor allem Frauen kämpfen an vorderster Front für | |
gerechtere Arbeitsbedingungen für alle. NGOs wie Egna Legna organisieren | |
Wohnungen, Essen, Rückflüge aber auch Zusammenkünfte und Weiterbildung oder | |
psychologische Unterstützung. Sie kämpfen dafür, Pässe zurückzubekommen, | |
und möchten das Kafala-System abschaffen, das sie als moderne Sklaverei | |
bezeichnen. Der Libanon [3][solle die Arbeiter*innen in das | |
Arbeitsgesetz] aufnehmen, „was uns vor all diesen Schrecken schützen | |
würde“. | |
Solch einen Vorstoß gab es 2020 von der damaligen Arbeitsministerin. Doch | |
die Gewerkschaft der Personalvermittlungsagenturen hatte Beschwerde | |
eingelegt und das Oberste Verwaltungsgericht hat die Umsetzung eines | |
Standardvertrags mit Mindestlohn und Schutzmaßnahmen gegen Zwangsarbeit | |
geblockt. „Libanon ist ein demokratisches Land. Warum sind wir als | |
Haushaltsangestellte davon ausgeschlossen?“, fragt Amira Gidey von Egna | |
Legna. | |
1 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Oberbuergermeister-mamolu/!5998879 | |
[2] /1-Mai-in-der-Tuerkei/!5851755 | |
[3] /Ausbeutung-im-Libanon/!5689519 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
Julia Neumann | |
Anne Diekhoff | |
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