| # taz.de -- Zum Internationalen Arbeiterkampftag: Von Arbeit und Moral | |
| > Am 1. Mai wird ein uraltes Arbeitspathos beschworen. So laufen | |
| > Progressive, Sozialdemokraten und Gewerkschaftlerinnen in die Falle der | |
| > Rechten. | |
| Bild: Industriearbeiter in einer Werkshalle bei der Pause in den 1950er-Jahren | |
| Der 1. Mai ist „Kampftag der Arbeiterklasse“, seit er 1890 als | |
| internationaler Tag der Sozialisten ausgerufen wurde. Schnell war der | |
| Maifeiertag auch eine Art Hochamt. Parole: „Die Arbeit hoch!“ Arbeitsleid | |
| und Schinderei wurden zwar angeprangert, zugleich aber auch das Pathos der | |
| Arbeit beschworen. Der Stolz auf die Arbeit war keine Erfindung der | |
| Arbeiterführer, der stammt aus den Handwerker- und frühen | |
| Facharbeitermilieus: Stolz auf die eigenen Fertigkeiten und dass man mit | |
| der eigenen Anstrengung die Familie durchbringt. | |
| Maskulin geprägt war das, in den Bilderfundus ging eher der männliche | |
| Arbeiter ein. Das eigene „Können“ gab Respekt und Selbstrespekt, genauso | |
| wie die Tatsache, dass die Arbeit mit Anstrengung verbunden war. Das waren | |
| gewissermaßen die Werte der arbeitenden Klassen: dass man „anpackt“, keine | |
| „Spleens“ hatte. | |
| Harte Arbeit war für die arbeitenden Klassen der einzige Weg zu Einkommen, | |
| aber auch das, wofür man Respekt einfordern konnte – und ein Anrecht auf | |
| einen größeren Teil des Kuchens. Das „Pathos der Arbeit“ fundierte | |
| Ansprüche im Verteilungskampf. Nicht die Prahlhänse produzieren Güter, | |
| Maschinen, Paläste, sondern die Arbeiter mit Hand- und Muskelkraft. | |
| Dieser Gedankengang unterstrich den Anspruch auf einen „fairen Lohn“, aber | |
| auch auf Anerkennung. Arbeit befreit aus Knappheit, Arbeit verwandelt die | |
| Welt. Nur die Arbeit schaffe Wert. Manchmal verwandelte der Arbeitsbegriff | |
| sich in eine Art halbreligiösen Kult, gelegentlich auch in Kitsch. Walter | |
| Benjamin verspottete die alte „protestantische Werkmoral“, die bei den | |
| Sozialisten ihre Auferstehung feiere. | |
| All das weht bis ins Heute hinüber. Die eigene Leistung begründet Ansprüche | |
| auf einen gerechten Anteil, ist aber auch ein Einfallstor für Spaltungen. | |
| „Der Begriff der Arbeit wird gerade rechts besetzt“, formulierte Linus | |
| Westheuser unlängst, Soziologe und Co-Autor der so gefeierten Studie | |
| „Triggerpunkte“. | |
| Die Arbeitsethik kann leicht missbraucht werden, um die Unterprivilegierten | |
| gegeneinander aufzubringen, etwa Angestellte und Arbeiter gegen | |
| Bürgergeldempfänger. [1][„Der Arbeitende darf nicht der Dumme sein“], | |
| lautet eine Jargonformel, mit der Beschäftigte [2][nicht gegen die | |
| Superreichen], sondern gegen jene aufgebracht werden sollen, [3][die sich | |
| angeblich ein „Freispiel“ gönnen]. | |
| ## Wo immer von Arbeit die Rede ist, ist die Moral nicht fern | |
| In der „Bürgergeld“-Debatte der vergangenen Monate hat man das schön | |
| beobachten können. Mit einigen krassen Einzelfällen wurde angeprangert, | |
| dass sich manche ein schönes Leben „auf Kosten anderer“ machen. „Die | |
| Fleißigen“ werden gegen „die Faulen“ gestellt, und häufig werden Arme | |
| verdächtigt, „nur arm zu sein, weil es ihnen an Motivation mangelt“ | |
| (Westheuser). | |
| [4][Konservative und Unternehmensverbände trommeln das an, um den | |
| Wohlfahrtsstaat zu delegitimieren], und Rechtsextremisten erklären sich zur | |
| „sozialen Heimatpartei“, indem sie die Bevölkerung in jene sortieren, denen | |
| Leistungen „zustehen“, und jene, denen sie „nicht zustehen“. | |
| Das ist pure Propaganda, aber sie wäre weniger wirksam, könnte sie eben | |
| nicht an vorhandene Gerechtigkeitsnormen andocken. Mit ihrem Arbeitsethos | |
| und ihrer Rhetorik laufen Progressive, Sozialdemokraten, auch | |
| Gewerkschaftlerinnen in die Falle. Eine Ambiguität, aus der es keinen ganz | |
| einfachen Ausweg gibt. | |
| In den meisten heutigen Wohlfahrtsstaaten liegen unterschiedliche | |
| Gerechtigkeitsnormen in einem Spannungsverhältnis, etwa: Solidarität haben | |
| jene verdient, die zur Solidargemeinschaft dazugehören (etwa, wer lange | |
| genug da ist), Unterstützung hat jeder verdient, der sie braucht, oder aber | |
| auch: Ansprüche resultieren aus Leistungen, die man vorher erbracht hat. | |
| Soziologen durchleuchten den Strukturwandel der Arbeit, Ökonominnen | |
| vermessen sie, Organisationsentwickler zerlegen sie in Teilschritte und | |
| Handgriffe, aber es gibt keine nüchtern-technische Betrachtung von Arbeit, | |
| die den moralisch-ethischen Überdeterminierungen von Arbeit entkommt. | |
| Alleine „der plötzliche glänzende Aufstieg der Arbeit von der untersten und | |
| verachtetsten Stufe zum Rang der höchstgeschätzten aller Tätigkeiten“ | |
| (Hannah Arendt) war so etwas wie eine fulminante, aber allmähliche | |
| Werterevolution. | |
| ## Depressiver Individualismus macht sich breit | |
| Seit dem 1. Mai 1890 hat sich viel verändert. Die verlausten, | |
| analphabetischen und mit Brotkrümeln abgespeisten Arbeiter und | |
| Arbeiterinnen des 19. Jahrhunderts haben einen Aufstieg gemacht – sie sind | |
| mit Rechten ausgestattet, die Löhne sind gestiegen, erst kam der kleine | |
| Wohlstand, dann der Aufstieg in die Mittelschicht. | |
| Mit mehr ökonomischer Gerechtigkeit ging auch Anerkennung einher, der | |
| Aufstieg zu Respektabilität und auch ein Gefühl der Sicherheit. Die | |
| arbeitenden Klassen haben, als sogenannte „Mittelschichten“, an Zentralität | |
| in ihren Nationen gewonnen. „Die Arbeiterklasse verwandelte sich von den | |
| Armen in das Volk“, formuliert die Oxford-Historikerin Selina Todd in „The | |
| People. The Rise and Fall of the Working Class“. | |
| Gewiss war Arbeit immer vielfältig und die arbeitenden Klassen | |
| vielgesichtig. Das war früher schon der Fall, als selbst die | |
| ausbeuterischsten Fabrikanten die Kernbelegschaft an unverzichtbaren | |
| Facharbeitern privilegieren mussten, während für die anderen das Prinzip | |
| Hire and Fire galt. Die Vorarbeiter waren Sirs. In den Druckereien und | |
| Setzereien herrschten anderen Gesetze als beim Malochen in den | |
| Ziegelfabriken. Und heute hat sich das alles natürlich noch viel weiter | |
| ausdifferenziert. | |
| Mit dem ökonomischen Strukturwandel der vergangenen Jahrzehnte erlebten | |
| sich mehr und mehr Arbeitnehmergruppen wieder als austauschbar, als | |
| ersetzbar. Nach und nach fraß sich Unsicherheit ein und mit dieser auch das | |
| Gefühl, dass man sich alles gefallen lassen müsse. Dass es abwärtsgeht. Und | |
| dass das oft gar niemanden interessiert. | |
| Dass man auch noch runtergemacht wird. „Sie wissen nicht, wie es ist, wenn | |
| man die Heizung nicht aufdrehen kann, wenn man kein Geld für die Kinder | |
| hat“, sagen Befragte in Studien, und immer wieder hört man – von Detroit | |
| bis Gelsenkirchen – den Satz: „Ich kümmere mich nur mehr um mich selbst.“ | |
| Während oben selbstbewusster Individualismus vorherrscht, macht sich unten | |
| depressiver Individualismus breit. | |
| „Respekt“ und „Respekt für Dich“ plakatierte Olaf Scholz im vergangenen | |
| Wahlkampf und katapultierte auch damit seine Partei von 14 Prozent in den | |
| Umfragen auf knapp 26 Prozent bei den Bundestagswahlen. Die Wahlkampflinie | |
| und die Kurskorrektur der SPD waren explizit der Einsicht geschuldet, dass | |
| die neuen Verwundungserfahrungen und Verlassenheitsgefühle der arbeitenden | |
| Klassen – oder: der ganz normalen, einfachen Leute – nicht mehr ignoriert | |
| werden können. | |
| ## Arbeit gibt uns Identität | |
| Auch in der Europäischen Union gab es einen markanten Kurswechsel, | |
| verglichen mit der Austeritätspolitik vor zwölf, dreizehn Jahren. In den | |
| vergangenen Jahren wurde die Mindestlohnrichtlinie verabschiedet, die, | |
| wenn sie tatsächlich umgesetzt wird, in nahezu allen Mitgliedsstaaten die | |
| untersten Löhne anheben wird. | |
| Es wurde auch das Ziel in ein EU-„Gesetz“ formuliert, dass mindestens 80 | |
| Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse von Tarifverträgen geregelt sein | |
| sollen. Mitgliedstaaten, die diese Marke nicht erreichen, müssen Pläne | |
| ausarbeiten. In Deutschland haben mittlerweile nur mehr 41 Prozent der | |
| Beschäftigten eine Tarifbindung. Ein Meilenstein. | |
| Arbeit ist das, womit die meisten ihre Einkommen erzielen und ihren | |
| Lebensunterhalt bestreiten. Aber Arbeit strukturiert auch den Tag und das | |
| Leben, bettet uns in Netzwerke ein, etwa in ein Geflecht von | |
| Kollegenschaft. Sie gibt uns Identität, und heute wünschen sich viele | |
| Menschen, sich in ihrer Arbeit verwirklichen zu können. Viele leiden, wenn | |
| sie an dieser Maxime scheitern. | |
| Die „Stelle“ gibt uns Stellung in der Welt, Selbstwert, oder aber wir | |
| fühlen uns in ihr nicht anerkannt, nur kommandiert, sogar gemobbt. Gefühle | |
| spielen in der Arbeit eine große Rolle. Während die äußere Seite der | |
| Arbeit, die Tätigkeiten, die verrichtet werden, die Produkte, die | |
| entstehen, sichtbar sind, sind die Gefühle, die informellen Regeln, die | |
| Freiräume, die Hackordnungen im Betrieb oft nicht so leicht wahrnehmbar. | |
| Das Eigentliche an der Arbeit ist unsichtbar. | |
| 30 Apr 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Robert Misik | |
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