# taz.de -- Mittelengland nach dem Brexit: Im Land der Schuldzuweisungen | |
> In Mittelenglands armen Labour-Hochburgen wurde massiv für den Brexit | |
> gestimmt. Jetzt pflegt jeder hier seine eigene Verschwörungstheorie. | |
Bild: Bei Protesten gegen einen Moscheebau in Dudley zeigt der Mob sein wahres … | |
Dudley taz | „Black Country“ heißt Mittelenglands altes Kohle- und | |
Stahlrevier westlich von Birmingham, ein Landstrich schwerer Arbeit und | |
großer Armut. Wie Kohlegruben funktionieren, sieht man nur noch im Museum. | |
Die großen Stahlwerke stehen nicht mehr. In der Kleinstadt Dudley stehen | |
ganze Ladenzeilen leer. Und am 23. Juni stimmte die Region für den Brexit. | |
Der 36-jährige Wayne Thomas verkauft seit zwanzig Jahren Waren auf dem | |
Markt von Dudley. Aktuell gibt es bei ihm E-Zigaretten. Sie hätten zu viele | |
Einwanderer, meint Wayne. Rumänen kämen mit vier oder fünf, ja sechs | |
Kindern und nähmen den Einheimischen soziale Leistungen, Wohnungen, | |
Krankenversorgung und Schulplätze weg. „Unser Land ist unser Land!“, lautet | |
sein Motto, seine Wahl war: Brexit. „Das Referendum war das erste Mal, dass | |
ich je in meinem Leben wählen ging.“ | |
Auch der 56-jährige Doug hinter dem Tresen des Charity-Ladens des | |
St.-Giles-Hospizes klagt über „diese Ausländer“. Der schlanke Mann mit | |
Ziegenbärtchen jongliert vier Jobs, vor der Ladenschicht hat er frühmorgens | |
drei Stunden als Putzkraft gearbeitet. Was er insgesamt verdiene, reiche | |
kaum zum Leben. „Die Osteuropäer, ich meine die Rumänen, ich habe die | |
Schnauze voll von denen, sie klauen immer wieder.“ | |
An der nächsten Ecke sonnen sich auf einer Parkbank zwei dieser | |
Osteuropäer. Arrik Volli, 37, und sein Kumpel stammen aus Polen. Arrik | |
trägt ein verwaschenes braunes T-Shirt, seine Alkoholfahne ist um 11 Uhr | |
vormittags deutlich. Vor drei Monaten kam er aus Lublin, denn „ich hatte | |
Probleme mit meinem Vater“. Für 25 Pfund (30 Euro) am Tag passt er nun in | |
Dudley auf geparkte Autos auf. „Das einzige Schlimme in Dudley“, findet | |
Arrik, „sind diese Zigeuner aus Polen. Das sind einfach andere Leute als | |
wir! Es ist wirklich schrecklich, es sind zu viele!“ | |
## Sorge um steigende Preise | |
Jagjit Sandhar, 36, hat nichts gegen Osteuropäer. Sein Großvater baute hier | |
einst einen indischen Supermarkt auf, mittlerweile sind sie in dritter | |
Generation tätig. Im glänzend sauberen Laden riecht es nach Kardamom und | |
Koriander. „Wenn man Qualität bietet und seine Kunden gut behandelt, bleibt | |
alles in Ordnung“, ruft der 66-jährige Onkel Balthawar von der Kasse, ein | |
gläubiger Sikh mit Vollbart und Turban. | |
Jagjit, ohne Turban und Bart, sorgt sich um steigende Einfuhrpreise seit | |
dem Brexit-Referendum und hofft, dass Waren aus Kanada und Indien billiger | |
werden. Jagjit fühlt sich Labour verbunden. Doch von Labour-Chef Jeremy | |
Corbyn hält er nicht viel. | |
Zwei muslimische Gemeindevertreter, sie wollen „aus Sicherheitsgründen“ | |
nicht namentlich genannt werden, stehen hinter Corbyn. Sein Einsatz für die | |
Armen, für Palästina, Kaschmir, Irak und gegen die Bombardierung Syriens | |
sei ihm positiv anzurechnen. „Manche mögen ihn nicht, weil er die Wahrheit | |
sagt, und Wahrheit tut nun mal weh“, findet einer. | |
Theresa May hingegen, die neue konservative Premierministerin, müsse ihre | |
Glaubwürdigkeit erst mal beweisen. Und der Brexit? Den finden sie gut und | |
vergleichen die Religionsfreiheit in Großbritannien mit Frankreichs | |
Verboten von Schleiern und ritueller Schlachtung. „Außerdem könnte der | |
Brexit die Zusammenführung von Familienangehörigen aus Pakistan | |
erleichtern.“ | |
## Moscheestreit als Wahlkampfhilfe | |
Die Fenster des Gemeindezentrums sind mit Metallgittern gesichert. „Sie | |
zerschmetterten unsere Fenster und urinierten an unsere Türen“, erinnert | |
sich einer der Muslime an die Großaufmärsche von Ultrarechten in Dudley | |
vergangenes Jahr. Die Rechtsextremisten kippten den geplanten Bau einer | |
großen Hauptmoschee. | |
Bei den Kommunalwahlen 2015 errang die rechtspopulistische Ukip den | |
Labour-Wahlkreis Wordsley im Süden von Dudley. Tankstellenbesitzer Simon | |
Pritchard in Wordsley zögert, bevor er bestätigt, dass Ukip hier wegen des | |
Moscheestreits gewann. Der 59-Jährige stimmte nicht für den Brexit, obwohl | |
Ukip-Parteichef Nigel Farage persönlich herkam und demonstrativ vor | |
laufender Kamera Schweinefleisch verzehrte. | |
Im pakistanischen Restaurant am Bahnhof herrscht am Abend Hochbetrieb. Ein | |
Mitglied der Inhaberfamilie, etwa 30 Jahre alt, meint lapidar: „Ja, die | |
Leute schimpfen über unsere Moschee und dann kommen sie hierher zum Essen.“ | |
Dann fährt er fort: „Ich sage Ihnen, weshalb es all die Probleme gibt: Es | |
ist wegen der Zionisten. Alles wird von den Israelis gesteuert.“ Immer ist | |
in Dudley offenbar jemand anderes schuld. | |
26 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn | |
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