# taz.de -- Misshandlungen in der Kinderverschickung: Viel zu späte Aufarbeitu… | |
> Unzählige Kinder haben Gewalt in Kurheimen erlebt. Die Bundespolitik | |
> entzieht sich der Aufarbeitung. Nun konstituierte sich in NRW ein Runder | |
> Tisch. | |
Bild: Quer durchs Land wurden Kinder verschickt, etwa in die Kinderheilanstalt … | |
BERLIN taz | Millionen Kinder im Vorschul- oder Grundschulalter wurden in | |
den 1950ern bis Anfang der 1990er Jahre auf Empfehlung von Ärzten oder | |
Gesundheitsämtern in Kur geschickt. Sie trafen auf Gesundheits- und | |
Erziehungsmaßnahmen, die mit dem Begriff Schwarze Pädagogik [1][nur | |
annähernd beschrieben sind]. | |
Obwohl ein Massenphänomen, kommt die Aufarbeitung der Schicksale dieser | |
Verschickungskinder nur langsam in Gang. Sei es, weil sie anders als | |
Heimkinder nur zeitweise aus ihren Familien genommen wurden und [2][sie | |
ihre Erfahrungen kaum haben skandalisieren können]; sei es, weil Jahrzehnte | |
später kaum noch Unterlagen in Familien oder Archiven vorhanden sind. | |
Doch seit 2019 erfährt das Thema Kinderverschickung mehr und mehr | |
öffentliche Aufmerksamkeit. Damals begannen lokale Betroffeneninitiativen | |
bundesweit, sich unter dem Dach von [3][www.verschickungsheime.de] | |
zusammenzuschließen. In Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen gab es | |
Anhörungen im Landtag, auf Landesebene entstanden eigenständige Vereine. Im | |
Landesarchiv Baden-Württemberg gibt es seit dem 1. Mai 2022 zwei | |
Projektstellen mit je 80 Prozent Stellenumfang, das Projekt läuft bis zum | |
31.10.2024. In NRW gibt es ein auf vier Jahre gefördertes | |
Citizen-Science-Projekt mit eigenem Büro. | |
Am 23. März nun trat in Nordrhein-Westfalen ein Runder Tisch zusammen, | |
unter der Obhut des Gesundheits- und Familienministeriums und geleitet von | |
Elisabeth Auchter-Mainz, der ehemaligen Opferbeauftragten von NRW. | |
## „Von den Alpen bis zur Nordsee“ | |
Zu der konstituierenden ersten Sitzung eingeladen und gekommen: | |
Vertreter.innen der Trägerorganisationen in rechtlicher Nachfolge wie etwa | |
Diakonie, Deutsches Rotes Kreuz, Caritas, Arbeiterwohlfahrt, | |
Landschaftsverband Rheinland oder Deutsche Rentenversicherung, die GKV | |
(Allgemeine Krankenversicherung) als Spitzenverband aller Kranken- und | |
Pflegekassen. Mit dabei: Detlef Lichtrauter vom Verein Aufarbeitung | |
Kinderverschickungen-NRW und der Jurist Joachim Desens als Vertreter der | |
Verschickungskinder. | |
Rund 1,8 Millionen Kinder aus dem bevölkerungsreichen NRW waren im Laufe | |
von vier Jahrzehnten quer durch die Republik auf Kur geschickt worden. „Von | |
den Alpen bis zur Nordsee gab es Kinderkurheime“, sagt Desens der taz am | |
Telefon eine Woche später. „Wie war es möglich, dass Kinder so großflächi… | |
so lange und in so großer Zahl verschickt worden sind?“ | |
Desens arbeitet heute im Land Brandenburg als Staatsanwalt, stammt aber aus | |
dem Rheinland. Als Vierjähriger kam er in eine Kinderheilstätte, aus sechs | |
Wochen wurde ein ganzes Jahr. „Was für ein Selbstverständnis hatten die | |
Betreiber der Heime, die Ärzte, die Betreuer?“, fragt er. „Kinder sollten | |
nicht nur gesund gemacht werden, man wollte sie auch erziehen.“ | |
Desens befürwortet eine wissenschaftliche Aufarbeitung der ganzen Thematik. | |
Als Vertreter der Verschickungskinder fordert er die Einrichtung eines | |
Therapiefonds, über dessen Höhe in den nächsten Runden zu verhandeln sein | |
wird. | |
## Schlechte Aktenlage | |
„So machen wir klar, was mit den Geldern projektgebunden geschehen soll“, | |
sagt Detlef Lichtrauter vom Verein Kinderverschickungen-NRW am Telefon. | |
Eine Entschädigung in Form von Schmerzensgeldzahlungen zögen sie nicht in | |
Betracht: „Nachweise für das erlittene Unrecht zu erbringen, ist aufgrund | |
der schlechten Aktenlage unfassbar kompliziert.“ | |
Immerhin: Alle teilnehmenden Träger verpflichteten sich selbst, die | |
Aktenlage zu sichern und keine relevanten Dokumente zu vernichten. „Wir | |
sind auf den Goodwill der Teilnehmer angewiesen“, sagt Lichtrauter. „Der | |
Runde Tisch hat keine Beschlussfähigkeit.“ Er fürchtet, dass die Verbände | |
die Verantwortung auf die bundespolitische Ebene abschieben könnten. | |
Alle Teilnehmenden hätten sich bemüht zu dokumentieren, wie eifrig sie die | |
eigenen Archive durchforscht haben. „Die innerbetrieblichen Nachforschungen | |
haben aber bisher wenig Erkenntnisse gebracht“, stellt er enttäuscht fest. | |
„Wir fordern eine unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung.“ | |
Wenn die beauftragten Forscher aus dem eigenen Haus kämen oder von einer | |
nahen Einrichtung entsandt werden, sei die Befangenheit größer. „Das haben | |
wir ja bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle der katholischen Kirche | |
gesehen, wo so ein Bericht schnell mal durch einen Bischof Woelki | |
einkassiert wurde“, sagt Lichtrauter. | |
## „Läppisch, schlaffe Muskulatur“ | |
Er erwartet von den Trägerorganisationen – allen voran der evangelischen | |
Diakonie und der katholischen Caritas, aber auch den Landschaftsverbänden | |
Rheinland und Westfalen-Lippe –, dass sie externe Historiker in die Archive | |
schicken. „Wichtig ist: Wen schickt man und wonach lässt man suchen? Dafür | |
müsste man auch bereit sein, Protokolle von Vorstandssitzungen zu | |
durchforsten, Verantwortlichkeiten zu benennen.“ | |
Dass Archivrecherche lohnt, aber auch individuelle Initiative erfordert, | |
zeigt ein Aktenfund im Kreisarchiv Geldern, den eine Archivarin | |
digitalisiert und zugänglich gemacht hat. Die Akten gewährten genauen | |
Einblick in den Ablauf des Verschickungswesens, sagt Lichtrauter: Eltern | |
mussten Verdienstbescheinigungen vorlegen und je nach Einkommen sogar | |
Zuzahlungen leisten. | |
In den Akten finden sich so genannte Kurüberwachungsscheine, in denen die | |
Eingangsdiagnostik dokumentiert ist. „Läppisch“, sagt Lichtrauer, „schla… | |
Muskulatur, schlechte Körperhaltung und Blässe werden als Gründe für die | |
Verschickung benannt.“ | |
Für die Sozialverbände und anderen Träger ist der Runde Tisch „ein | |
bekanntes Format“, sagt der Historiker Marc von Miquel. Er ist als Experte | |
dabei, weil er 2022 [4][für die Dokumentations- und Forschungsstelle der | |
Sozialversicherungsträger (sv:dok) eine Studie zu NRW erstellt hat]. Aber | |
wie bei den Heimkinder- und Missbrauchsskandalen kämen die Erkenntnisse nur | |
„scheibchenweise“ ans Licht, da unbekannte historische Zusammenhänge zu | |
erforschen seien. | |
## Initiativen einbeziehen | |
Auch von Miquel kritisiert, dass unzureichende Studien entstanden seien, | |
„Mikropublikationen unterbezahlter Historiker:innen“, um zu zeigen, dass | |
man seine Pflicht getan habe. „Das kann’s nicht gewesen sein“, sagt er. | |
„Die Kommunen, Krankenkassen und Sozialverbände stehen in der Pflicht, | |
zusammenzuarbeiten und aufzuklären.“ | |
Dass einige der bisher entstandenen Studien unzureichend seien, könnte laut | |
von Miquel daran liegen, dass „die Verbände nicht mit der Initiative der | |
Verschickungskinder zusammenarbeiten“. Das Konzept der Citizen Science, | |
also dem Zusammenwirken zivilgesellschaftlicher Initiativen, | |
Biografieforschung und wissenschaftlichen Projekten, sei ihnen fremd. | |
Es geht auch anders. Derzeit läuft ein [5][Aufruf zur Beteiligung an einer | |
Studie zum Medikamentenmissbrauch an Kindern in stationären Einrichtungen | |
von 1949 bis 1980, die vom Land NRW in Auftrag gegeben wurde]. | |
Dass Kindern in Kinderkurheimen Mittel zur Ruhigstellung oder womöglich | |
testweise als Versuchskaninchen der Pharmaindustrie oder der mit ihr | |
kooperierenden Ärzt:innen verabreicht wurden, ist ein bisher nur | |
punktuell untersuchter Verdacht. Für das Kindersolbad Bad Dürrheim in | |
Baden-Württemberg [6][gibt es im Fall eines Arztes klare Erkenntnisse und | |
eindeutige Belege]. | |
## Valium und Neuroleptika | |
„Ein Zwischenbericht zur NRW-Studie soll im Oktober erscheinen, sie läuft | |
noch bis Ende 2024“, erklärt Sylvia Wagner von der Uni Düsseldorf, | |
Pharmazeutin und Teil eines interdisziplinären Forschungsteams unter | |
Leitung des Medizinhistorikers Heiner Fangerau. „Vor allem personenbezogene | |
Daten sind sehr schwer zu kriegen“, sagt Wagner am Telefon. „Dass wir jetzt | |
einen offiziellen Forschungsauftrag vom Land haben, erleichtert die Sache.“ | |
Dennoch sei die Quellenlage schwierig, weil viele Akten verschwunden oder | |
an unbekannte Orte verlagert wurden. 1978 trat in der Bundesrepublik ein | |
strengeres Arzneimittelgesetz in Kraft, die Studie erstreckt sich darum auf | |
die Jahre 1948 bis 1980. Wagner hofft auf das Zeitzeugenportal des | |
Instituts zur Heimerziehungsforschung sowie das des Vereins | |
Verschickungskinder-NRW, das den Aufruf unterstützt. | |
Dass Kindern in stationären Einrichtungen „häufig Präparate zur | |
Ruhigstellung gegeben wurden“, so viel kann Wagner jetzt schon bestätigen. | |
Mittel wie Baldrian, „in einigen Fällen auch stärkere Mittel wie Valium | |
oder Neuroleptika, die Kinder eigentlich nicht kriegen sollten“. | |
Es diente, vermutet Wagner, der Arbeitserleichterung des | |
Betreuungspersonals. Und möglicherweise den Interessen mancher Ärzt:innen, | |
die mit der Pharmaindustrie kooperierten. An an Tuberkulose erkrankten | |
Kindern wurden Medikamententests durchgeführt, darauf hat Fangeraus Team | |
bereits Hinweise. | |
## Der Bund sitzt es aus | |
„Wir gehen hoffnungsvoll aus der ersten Runde“, sagt Joachim Desens als | |
Vertreter der Verschickungskinder eine Woche nach dem Treffen des Runden | |
Tischs. Einige Teilnehmer hätten sich „aufgeschlossen gezeigt, andere eher | |
zurückhaltend reagiert“. Es wurden Arbeitsgruppen eingerichtet, bevor der | |
nächste Runde Tisch am 26. September wieder zusammenkommt. | |
NRW-Gesundheits- und Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) forderte in | |
seiner Eröffnungsrede ein bundesweit koordiniertes Vorgehen zur | |
Aufarbeitung der Kinderverschickung und zeigte sich offen für eine | |
Bund-Länder-Gruppe. „Das Bundesfamilienministerium stellt sich leider tot“, | |
sagt Detlef Lichtrauter. | |
Bei einem langen erbetenen Besuch der Bundesinitiative der | |
Verschickungskinder bei Lisa Paus (Grüne) im vergangenen Herbst hatte der | |
Bund die Verantwortung an die Länder verwiesen. Die Bundesinitiative ruft | |
deswegen [7][am 19. April zu einer „Aktion Kinderkoffer“] vor dem Reichstag | |
auf, um ihrer [8][Petition zur Einrichtung einer unabhängigen „Kommission | |
Kinderverschickung“] Nachdruck zu verleihen. | |
## „Warst Du etwa nicht artig?“ | |
Joachim Desens, Jahrgang 1958, musste als Vierjähriger ein ganzes Jahr in | |
einer Kinderheilstätte verbringen. Es sind keine guten Erinnerungen. Der | |
Ablauf im Heim sei geprägt gewesen durch Essenszwang und Züchtigung bei | |
nicht steuerbaren Vorgängen wie beispielsweise Erbrechen, wiederum oft | |
gefolgt von dem Zwang, das Erbrochene aufzuessen. | |
„Ich habe immer gedacht, es wäre nur in meinem Heim so gewesen“, sagt der | |
heutige Staatsanwalt. „Die Generation unserer Eltern war autoritätsgläubig. | |
Bei Konflikten mit Autoritätspersonen erfolgte meist die Frage: Warst du | |
etwa nicht artig?“ | |
Erst in späteren Jahren konnte Desens mit seinen Eltern über das Erlebte | |
sprechen. Vor zwei Jahren wurde er durch einen Artikel auf die | |
NRW-Initiative aufmerksam. Nun bringt er seinen juristischen Sachverstand | |
beim Runden Tisch ein. „Wie war es möglich, dass überall in Deutschland | |
rechtsfreie Räume entstanden sind?“, fragt er. Dies steht nicht nur für ihn | |
als große Frage im Raum. | |
16 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Kuraufenthalte-von-Kindern/!5818643 | |
[2] /Kinderkuren-in-der-DDR/!5866907 | |
[3] https://verschickungsheime.de/ | |
[4] https://www.land.nrw/pressemitteilung/sozialministerium-veroeffentlicht-stu… | |
[5] https://kinderverschickungen-nrw.de/land-nrw-bittet-um-hilfe-bei-studie-med… | |
[6] https://verschickungsheime.de/dr-sylvia-wagner-zu-medikamentenversuchen-im-… | |
[7] https://verschickungsheime.de/aktion-kinderkoffer/ | |
[8] https://epetitionen.bundestag.de/content/petitionen/_2023/_02/_21/Petition_… | |
## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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