# taz.de -- Michaela Meise über den Anschlag vom 19. Februar: „Ausgerechnet … | |
> Die Musikerin hatte geglaubt, das Zusammenleben in ihrer Heimatstadt | |
> funktioniere gut. Zum Gedenken an die Opfer singt sie eine Version des | |
> Erkin-Koray-Songs „Cemalim“. | |
Bild: Michaela Meise interpretiert linke und antifaschistische Lieder | |
taz am wochenende: [1][Michaela Meise], zum Gedenken an die Opfer des | |
Anschlags in Hanau vom 19. Februar 2020 veröffentlichen Sie eine | |
Coverversion des Songs „Cemalim“ von Erkin Koray. Sie stammen selbst aus | |
Hanau. Wie haben Sie den Tag vor einem Jahr erlebt? | |
Michaela Meise: Ich war erschüttert – und durcheinander. Ich habe mich | |
zunächst bei Freunden mit migrantischem Hintergrund erkundigt, ob sie in | |
Ordnung sind. Dadurch, dass ich die Stadt so gut kenne, rückt ein solches | |
Ereignis sehr nahe an mich heran. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle | |
lag damals auch noch nicht so weit zurück, auch das hatte mich sehr traurig | |
gemacht. Aber es fühlt sich anders an, wenn man die Straßen, die Plätze, | |
die Tatorte selbst kennt. | |
Was haben Sie gedacht? | |
Ausgerechnet in Hanau, dachte ich. Ich hatte immer das Gefühl, dass das | |
Zusammenleben von verschiedenen Gruppen dort gut funktioniert – besser, als | |
ich es zum Beispiel in Berlin erlebe. Ich war sogar immer ein bisschen | |
stolz auf das Rhein-Main-Gebiet, weil Leute dort nicht ständig gefragt | |
wurden, woher sie kommen – es schien selbstverständlich, dass immer jemand | |
aus anderen Ländern zuzieht. Menschen mit Migrationshintergrund habe ich in | |
Hanau als selbstverständlichen Teil des Bürgertums wahrgenommen. Aber es | |
ist naiv zu glauben, dass so etwas dort nicht passieren kann, denn | |
natürlich gibt es da auch Rassismus. | |
Wie kam es zu der Veröffentlichung Ihrer Coverversion? | |
Da muss ich etwas ausholen: Ich bin 2020 öfter mit einer Liedersammlung | |
aufgetreten, wobei ich Songs interpretierte, die in der Zeit nach dem | |
Zweiten Weltkrieg entstanden sind und die eine versöhnliche politische Note | |
haben: ein Programm mit linken und antifaschistischen Liedern. Ich habe zum | |
Beispiel den Song „Göttingen“ der französischen Sängerin Barbara gecover… | |
der eine neue Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich beschwört. | |
Oder Mikis Theodorakis. In den Wochen nach dem Anschlag sollte ich in | |
Marburg spielen, da wollte ich einen Song als Widmung für die Opfer des | |
Anschlags ins Programm nehmen – das war mir gerade in Hessen mit den dort | |
in jüngerer Zeit gehäuften rechten Gewalttaten wichtig. Außerdem war eine | |
Ausstellung mit musikalischem Schwerpunkt in Nordhorn geplant. Für diese | |
beiden Anlässe habe ich das Stück eingespielt. Der Auftritt in Marburg fiel | |
dann allerdings coronabedingt aus. Die Idee, den Song zu veröffentlichen, | |
kam erst viel später. | |
„Cemalim“ ist ursprünglich ein Folksong aus der Zentraltürkei, bekannt | |
geworden ist er in der Ära des Turkish Psychedelic in der Version von | |
Erkin Koray. Warum dieser Song? | |
Von der Stimmung und Atmosphäre her fand ich „Cemalim“ passend. Ich kannte | |
das Lied schon länger, aber den Text nicht, denn ich spreche kein Türkisch. | |
Ein ebenfalls aus Hanau stammender Schulfreund, Fatih Alasalvaroglu, hat | |
mir das Lied übersetzt – ich hätte gar nicht damit gerechnet, dass die | |
Verse so gut passen. Es geht darin um den Verlust eines geliebten Menschen, | |
beginnend mit der Zeile: „Deine Schmerzen, Ürgüp, die rauchst du nicht | |
weg.“ Ich wusste, wenn ich einen türkischen Song nehme, kann der natürlich | |
nicht die ganze Opfergruppe repräsentieren. Ich habe mich dann aber für | |
dieses Stück entschieden, weil die türkische Community die größte | |
Migrantengruppe in Hanau ist. | |
Ist der Song für die Angehörigen der Opfer? | |
Nein. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass er sie trösten könnte. Es wären | |
wohl eher Musiker aus der binationalen Community, die ihnen so etwas geben | |
könnten, nicht aber eine Repräsentantin der deutschen | |
Mehrheitsgesellschaft. Für mich bedeutet der Song, zu gedenken, zu mahnen | |
und zu trauern. Er soll die Betroffenheit des eigenen Milieus einfangen. | |
Ich habe zwar Kontakt zu der Angehörigeninitiative in Hanau „19. Februar | |
Hanau“ aufgenommen – da ging es mir aber vor allem darum, dass ich nichts | |
machen wollte, was die Opfer anmaßend oder nicht gut fänden. | |
Es schien mir so, als hätte die Pandemie im Frühjahr 2020 das Gedenken an | |
und alle Debatten über Hanau überlagert. Wie sehen Sie das? | |
Wenn man den Bezug zu Hanau hat, empfindet man das vielleicht etwas anders. | |
Ich fand es beeindruckend, wie sichtbar die Angehörigen auf eigenen Wunsch | |
geworden sind und wie sie sich gegenseitig gestärkt haben. Wichtig fand ich | |
auch, dass die Opferinitiative am 19. jedes Monats an die Tat erinnert hat. | |
Mir ist aufgefallen, wie wenig man von den Ermittlungen erfahren hat. | |
Dadurch, dass der Täter sich selbst erschossen hat und es keinen Prozess | |
gibt, werden die Ermittlungsergebnisse meines Erachtens weniger öffentlich | |
verhandelt. Im Fall von Halle und nach dem Lübcke-Mord gab es | |
Gerichtsverfahren, das fällt hier weg. | |
Zu der Geschichte der Tat gehören eine Gesellschaft und Institutionen, die | |
bei den Auffälligkeiten des Täters geschwiegen oder weggeguckt haben. | |
Ja, der Täter soll ja schon in der Schule erhebliche Probleme und paranoide | |
Gedanken gehabt haben. Es wundert mich nicht, dass das dort niemanden | |
interessiert hat, denn ich bin zur gleichen Zeit zur Schule gegangen wie | |
er, und es gab damals keine Schulpsychologen, die sich solcher Menschen | |
angenommen hätten. Der Täter hat später Briefe mit wahnhaften Inhalten an | |
Staatsanwaltschaften geschickt, auch das wurde ignoriert. Mal abgesehen von | |
der Gefährdungslage: Die Haltung, jemanden wie ihn sich selbst zu | |
überlassen, herrscht in vielen Institutionen. Und so jemand konnte an | |
Waffen kommen! | |
Was würden Sie sich im Hinblick auf den Gedenktag am kommenden Freitag | |
wünschen? | |
Ich hoffe, dass die politische Aufarbeitung vorankommt, dass die rechten | |
Netzwerke in Hessen bekämpft werden – da würde ich von den hessischen | |
Grünen mehr Engagement erwarten. Und ich wünsche mir eine langfristige | |
Unterstützung der Angehörigen. Darüber hinaus ist es wichtig, dass es eine | |
politische Würdigung und Solidarität gibt. Zum Jahrestag will der | |
Bundespräsident ja wieder nach Hanau reisen und eine Rede halten. | |
Symbolakte wie dieser sind wichtig. | |
13 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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