# taz.de -- Mehr als zehn Jahre Haft für Islamisten: Der Scheich hinter Gittern | |
> Er soll Statthalter des IS in Deutschland gewesen sein: Abu Walaa | |
> organisierte Ausreisen zur Terrormiliz. Nun muss er für lange Jahre ins | |
> Gefängnis. | |
Bild: Er bleibt auch an diesem Tag undurchsichtig: Für die Sicherheitsbehörde… | |
CELLE taz | Ahmad Abdulaziz Abdullah A. starrt nur in den Saal, als Frank | |
Rosenow sein Urteil verkündet. Dem Richter schenkt der 37-jährige Iraker | |
keinen Blick. Zehn Jahre und sechs Monate Haft verkündet Rosenow für ihn. | |
Wegen Mitgliedschaft in einer Terrorvereinigung, Terrorismusfinanzierung | |
und Beihilfe zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat. | |
Der bullige, glatzköpfige Bartträger, der einst als Abu Walaa firmerte oder | |
auch als „Prediger ohne Gesicht“, weil er in Propagandavideos nur von | |
hinten zu sehen war, sitzt mit verschränkten Armen hinter dem | |
Sicherheitsglas. Den gesamten Prozess hatte er geschwiegen, sich am | |
Mittwoch zu Verhandlungsbeginn erneut eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. | |
Er bleibt auch an diesem Tag undurchsichtig. | |
Für die Sicherheitsbehörden aber ist das Bild klar: Ihnen galt Abu Walaa | |
lange Zeit als einer der gefährlichsten Islamisten in diesem Land, als | |
Scharfmacher, als Statthalter des „Islamischen Staates“ (IS) in | |
Deutschland. Als „führende Autorität mit hoher Strahlkraft“, bezeichnet i… | |
nun auch Rosenow. Als Prediger, der Anhängern ein dschihadistisches | |
Weltbild vermittelte und sich zum IS bekannte. Und der ab 2015 Ausreisen | |
von jungen deutschen Islamisten zur Terrormiliz „tatkräftig“ unterstützte. | |
Das Urteil des Oberlandesgerichts Celle gegen Abu Walaa markiert das Ende | |
eines Mammutprozesses, der bereits im September 2017 startete und 245 | |
Verhandlungstage andauerte – bundesweit derzeit der wichtigste gegen | |
Islamisten. Und es ist ein Signal: Auch wenn die islamistische Terrorgefahr | |
zuletzt weniger im Fokus stand und der Rechtsstaat Zeit braucht, [1][er | |
bleibt am Ende wehrhaft]. | |
## IS-Predigten in Hildesheim | |
Neben Abu Walaa werden am Mittwoch auch drei Mitangeklagte verurteilt, zu | |
Haftstrafen von vier bis acht Jahren. Rosenow spricht von einem | |
„ausgesprochen komplexen“ Prozess, in dem es 115 ZeugInnen und rund 500 | |
Beweisanträge gab, schwer ergründbare Behördenzeugnisse und einen | |
Polizeispitzel als zentralen Zeugen, der nicht aussagen durfte. | |
Abu Walaa war 2001 nach Deutschland gekommen, wurde in der Moschee des | |
Deutschen Islamkreises in Hildesheim Prediger. Er gab auch bundesweit | |
Islamseminare, inszenierte sich als „Scheich“ in Propagandavideos. Abu | |
Walaa habe dabei direkten Kontakt zu IS-Führern in Syrien und dem Irak | |
gehalten, sei als deren Vertrauter in Deutschland eingesetzt worden, sagt | |
Rosenow. Der Verurteilte schüttelt erstmals langsam den Kopf. | |
Abu Walaa und die Mitangeklagten, 32 bis 55 Jahre alt und aus dem | |
Ruhrgebiet, hätten „quasi institutionalisiert“ Ausreisen zum IS | |
organisiert. Sie hätten die jungen Rekruten in Arabisch unterrichtet, ihnen | |
das ideologische Rüstzeug für den Terrorkampf vermittelt und IS-Videos | |
gezeigt. Kontaktleute seien ihnen benannt worden, bis zu 2.000 Euro bekamen | |
sie. Alles sei konspirativ erfolgt, am Rande von Veranstaltungen. | |
Rosenow zählt sieben Fälle von Ausreisen auf, für welche die Gruppe | |
verantwortlich sei. Darunter zwei konvertierte Zwillingsbrüder aus | |
Castrop-Rauxel, die sich im Irak schließlich mit Selbstmordanschlägen in | |
die Luft sprengten und Dutzende Menschen töteten. Oder der Leipziger Martin | |
Lemke, der beim IS bis in den Geheimdienst aufstieg – auch durch den | |
„Zuspruch“ Abu Walaas, wie Rosenow betont. Lemke sitzt heute in einem | |
kurdischen Haftlager. Einen weitereren Ausgereisten, der vom IS als | |
Verräter verdächtigt wurde, habe Abu Walaa aus dem Gefängnis der Miliz | |
verhandelt. | |
## Privataudienz für Anis Amri | |
Das Gericht stützt sich vor allem auf drei Zeugen. Einer ist der | |
ursprünglich Mitangeklagte Ahmed F., ein 30-jähriger Kameruner, der im | |
Prozess ein umfassendes Geständnis ablegte. Er räumte ein, zwei Männern | |
Kontaktnummern zur Ausreise übermittelt zu haben. Auch habe Abu Walaa | |
direkten Kontakt zum IS gehabt. Das Verfahren von Ahmed F. wurde darauf | |
abgekoppelt, er erhielt im April 2020 eine Bewährungsstrafe von gut drei | |
Jahren. | |
Kronzeuge war zudem Anil O., der 2015 laut Gericht ebenso mithilfe der | |
Abu-Walaa-Gruppe samt Frau und Kind zum IS nach Syrien ausreiste. Der | |
Deutschtürke kehrte im Sommer 2016 aber desillusioniert zurück und packte | |
bei Ermittlern über den IS und Abu Walaa aus. Er erhielt dafür letztlich | |
eine nur zweijährige Bewährungsstrafe und ist nun in einem | |
Zeugenschutzprogramm. Wenige Monate nach O.s Aussagen wurden Abu Walaa und | |
die vier Mitbeschuldigten verhaftet. | |
Beschattet wurde die Gruppe damals zudem von einem Polizeispitzel aus NRW: | |
ein Deutschtürke mit dem [2][Alias „Murat Cem“ oder VP01]. Auch er | |
beschuldigte die Truppe um Abu Walaa schwer. „Murat Cem“ stand auch in | |
Kontakt mit [3][Anis Amri, dem späteren Attentäter auf dem Berliner | |
Breitscheidplatz], warnte die Sicherheitsbehörden vergeblich vor dem | |
Tunesier. Amri selbst hatte ebenso Kontakt zu Abu Walaa, bekam bei diesem | |
Ende 2015 sogar eine „Privataudienz“, was Ermittler als Beleg für „eine | |
exklusive Beziehung“ werteten. | |
Spitzel „Murat Cem“ konnte im Prozess indes nicht aussagen – das LKA | |
erteilte eine Sperrerklärung. Befragt wurden nur für ihn zuständige Beamte. | |
Für die Verteidiger ein Unding. Belastungszeuge Anil O. wurde dagegen ganze | |
20 Prozesstage befragt. Ihm wiederum warfen die Anwälte „Märchen“ vor: Er | |
sage das, was die Ermittler hören wollten, um selbst gut davonzukommen. Sie | |
forderten Freisprüche oder milde Strafen für die Angeklagten. | |
## Die Angeklagten beteuern ihre Unschuld | |
Und auch diese attackierten die Zeugen. Hasan C., ein 55-Jähriger, der am | |
Mittwoch mit Anzug und Krawatte im Saal sitzt, nennt die Vorwürfe in seinem | |
Schlusswort „Fantasie“ und Anil O. einen Lügner, der „bis zum Hals in | |
Straftaten stecke“. Er und die anderen bestritten die Vorwürfe in teils | |
länglichen Erklärungen, bei Boban S. waren es 500 handgeschriebene Seiten. | |
Vielleicht seien sie Sympathisanten des IS gewesen, aber niemals | |
Mitglieder. Sie hätten niemanden radikalisiert oder gar zur Ausreise | |
motiviert. Auch Abu Walaa hätten sie höchstens flüchtig gekannt, der | |
Mitangeklagte Boban S. will ihn am Ende gar für ungläubig erklärt haben. | |
Hasan C. beteuert, er habe in seinen 20 Jahren in Deutschland keine | |
Straftat begangen, auch keinen Gedanken gedacht, der diesem Land schaden | |
könnte. Fragen des Gerichts beantworteten indes keiner der Männer. | |
Richter Rosenow verteidigt dagegen die Aussagen der Belastungszeugen. Ihre | |
Aussagen wiesen „frappierende Übereinstimmungen“ auf, obwohl sie | |
miteinander nichts zu tun hatten. Auch belasteten weitere Zeugen, | |
Chatnachrichten und aufgefundene Notizen die Angeklagten. Deren | |
Unschuldsbeteuerungen nennt Rosenow unglaubwürdig. Dass aufgefundene | |
Notizen etwa als „reines Gedankenspiel“ bezeichnet wurde, sei „grotesk“. | |
Und Rosenow verwehrt sich scharf gegen Vorwürfe eines Verteidigers, der von | |
einem „Schauprozess“ und „Feindstrafrecht“ sprach. Dies überschreite e… | |
Grenze und sei eine „unerträgliche Diffamierung“. Man spreche nicht, wie | |
vorgeworfen, ein Urteil gegen Muslime, sondern im Gegenteil eines, „um das | |
friedliche Miteinander aller zu schützen“. Die Verteidiger von Abu Walaa | |
kündigten dagegen umgehend an, Revision einlegen zu wollen. Das Urteil sei | |
falsch, es gebe keine tragfähigen Beweise dafür. | |
## 28.000 Islamisten in Deutschland | |
Die islamistische Szene hat sich indessen längst gewandelt. Die | |
Sicherheitsbehörden beschäftigen nicht mehr Ausreisende, sondern die | |
Rückkehrer. Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang aber warnte zuletzt, | |
dass es immer noch gut 28.000 Islamisten in Deutschland gebe und | |
florierende Internetpropaganda. | |
Zumindest Abu Walaa wird nun weitere Jahre in Haft verbleiben. Im Gericht | |
verfolgen eine handvoll Sympathisanten das Urteil. Ihre Hoffnung auf einen | |
Freispruch erfüllt sich nicht. Sie blicken konsterniert, eine Frau hat | |
Tränen in den Augen. | |
24 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Urteile-gegen-IS-AnhaengerInnen/!5682111 | |
[2] /Mutmasslicher-IS-Repraesentant/!5751895 | |
[3] /Untersuchung-im-Fall-Anis-Amri/!5745165 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Islamistischer Terror | |
IS-Terror | |
IS-Miliz | |
Islamismus | |
Schwerpunkt Islamistischer Terror | |
Schwerpunkt Islamistischer Terror | |
Islamismus | |
Irak | |
Shamima Begum | |
Salafisten | |
Schwerpunkt Islamistischer Terror | |
Kolumne Habibitus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Islamist:innen in Berlin: Zurückgekehrt und teils eingesperrt | |
Die Rückkehrkoordinierung des Berliner Senats kümmert sich um | |
IS-Unterstützer:innen. Das Land findet das wichtig – doch die | |
Bundesförderung läuft aus. | |
Urteil gegen Frau aus Leverkusen: IS-Terroristin muss ins Gefängnis | |
Ein Düsseldorfer Gericht hat die 35-Jährige zu vier Jahren Haft verurteilt. | |
Sie war ins IS-Gebiet in Syrien ausgereist und ließ dort eine Jesidin als | |
Sklavin für sich arbeiten. | |
Nach Messerangriff auf Paar in Dresden: Homophober Attentäter vor Gericht | |
Der mutmaßliche Islamist Abdullah H. soll einen Mann ermordet und dessen | |
Partner schwer verletzt haben. Den Behörden war er als Gefährder bekannt. | |
Prozess gegen IS-Rückkehrerin: Beredtes Schweigen | |
Eine Niedersächsin soll sich dem IS angeschlossen und den Mord an einem | |
Kind nicht verhindert haben. Im Prozess sagte die Frau nun erstmals aus. | |
Franziskus besucht den Irak: Papst betet im einstigen IS-Kalifat | |
Papst Franziskus betet für Kriegsopfer. Mit seinem Irak-Besuch sendet er | |
auch für dortige Nicht-Christen ein Zeichen der Hoffnung. | |
Gericht in Großbritannien: IS-Anhängerin darf nicht zurück | |
Shamima Begum will nach Großbritannien reisen, um gegen die Aberkennung | |
ihrer Staatsbürgerschaft vorzugehen. Das darf sie nicht, heißt es nun. | |
SEK-Einsatz in Berlin: 800 Polizisten im Einsatz | |
Große Razzia gegen radikal-islamistischen Verein. Wohnungen im Märkischen | |
Viertel in Reinickendorf, in Moabit und in Neukölln durchsucht. | |
Terrorismusexperte über Islamismus: „Die Gefahr ist wieder gestiegen“ | |
Geht von Islamisten heute weniger Bedrohung aus? Ja, sagt | |
Terrorismusexperte Peter Neumann. Doch Anschläge der jüngsten Zeit gäben | |
Anlass zur Sorge. | |
Ein Jahr nach dem Anschlag von Hanau: Deine Trauer, meine Trauer | |
Mitunter wird das Gedenken an Opfer rechten Terrors und islamistischen | |
Terrors gegeneinander ausgespielt. Wer das tut, verharmlost die Gewalt. |