# taz.de -- Prozess gegen IS-Rückkehrerin: Beredtes Schweigen | |
> Eine Niedersächsin soll sich dem IS angeschlossen und den Mord an einem | |
> Kind nicht verhindert haben. Im Prozess sagte die Frau nun erstmals aus. | |
Bild: Die Angeklagte Jennifer W. im Juli 2019 in München im Gerichtssaal | |
MÜNCHEN taz | Jennifer W. sitzt da wie in einem Aquarium, rundum | |
eingeschlossen von Plexiglasscheiben. Eine Coronaschutzmaßnahme. Aber auch | |
sonst wirkt die junge Frau in der dicken roten Jacke mit dem zum Dutt | |
hochgebundenen Haar, nicht ganz anwesend in diesem Prozess, in dem es doch | |
nur um sie geht. Keine Gefühlsregung. Abgesehen von ein paar wenigen kurzen | |
Wortwechseln mit ihren Verteidigern sitzt sie da, schaut ins Leere und | |
schweigt. | |
Dabei ist an diesem Mittwoch der Tag, von dem es hieß, die Angeklagte werde | |
nun ihr Schweigen brechen. Zum ersten Mal in dem nun [1][schon fast zwei | |
Jahre dauernden Verfahren] vor dem Oberlandesgericht München werde sich | |
Jennifer W. ausführlich selbst einlassen, hatten die Verteidiger | |
angekündigt. Tut sie auch, aber die 29-Jährige spricht nicht selbst, | |
sondern lässt Ihre Aussage von der Anwältin Seda Başay-Yıldız verlesen. | |
Die Vorwürfe gegen Frau aus dem niedersächsischen Lohne wiegen schwer: Mord | |
durch Unterlassen, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, | |
Folter, Versklavung, Menschenhandel. | |
Jennifer W. ist [2][eine der sogenannten IS-Rückkehrerinnen], deutsche | |
Frauen, die sich dem „Islamischen Staat“ angeschlossen hatten, IS-Kämpfer | |
geheiratet hatten. Ein paar Dutzend von ihnen soll es geben. Nach und nach | |
kamen viele von ihnen nach dem Niedergang der Terrororganisation wieder | |
zurück nach Deutschland. | |
## Auch der Ehemann steht vor Gericht | |
Im Zentrum der Anklage gegen Jennifer W. steht der Tod des jesidischen | |
Mädchens Rania im Sommer 2015 im irakischen Falludscha. Dort lebte W., die | |
sich dem IS im Jahr zuvor angeschlossen hatte, gemeinsam mit ihrem Mann. | |
Das Mädchen Rania und ihre Mutter mussten dem Ehepaar als Sklavinnen zu | |
Diensten stehen. | |
Nachdem Jennifer W.s Mann schon mehrmals mit Billigung oder sogar auf | |
Geheiß seiner Frau gewalttätig gegen Mutter und Tochter geworden sei, soll | |
es an einem Tag zwischen Juli und September 2015 erneut zu einem Wutanfall | |
gekommen sein, so die Anklage. | |
Der Auslöser: Rania, das Mädchen, hatte auf einer Matratze eingenässt. | |
Daraufhin soll Taha Al-J., Jennifer W.s Mann, das Kind im Hof an ein | |
Fenster gefesselt und in der sengenden Sonne sich selbst überlassen haben. | |
W. habe ihren Mann nicht davon abgehalten, so die Anklage. Mehr noch: sie | |
soll tatenlos zugesehen haben, wie Rania verdurstete. Taha Al-J. steht seit | |
einem Jahr in Frankfurt vor Gericht. | |
Die Tatumstände bestätigt W. am Mittwoch im Grundsatz, doch in den Details | |
weicht sie an entscheidenden Stellen erheblich von der Schilderung der | |
Bundesanwaltschaft ab. So sei es vor diesem Tag zu keinen Gewalttätigkeiten | |
gegen die Mutter, Nora T., oder das Mädchen gekommen. Alle hätten sich | |
grundsätzlich gut verstanden, das Essen geteilt. Der Vorfall selbst sei | |
auch nur eine Sache von Minuten gewesen, nicht von einer halben oder gar | |
elf Stunden, wie Nora T. in unterschiedlichen Vernehmungen gesagt habe. | |
## Verteidigung zweifelt am Tod des Kindes | |
Und überhaupt: Was hätte sie denn tun sollen? Das ist die Frage, auf die | |
die Verteidigung abzielen wird. Darüber hinaus haben die Anwältin | |
Başay-Yıldız und ihr Kollege Ali Aydin Zweifel, ob Rania tatsächlich tot | |
ist. Als das Kind ins Krankenhaus gebracht wurde, habe es zumindest noch | |
gelebt. Und dann verliere sich seine Spur. | |
Ein Tod durch Verdursten jedenfalls sei ausgeschlossen, sagen die Anwälte, | |
die auch bereits ein entsprechendes medizinisches Gutachten vorgelegt | |
haben. Die Anklage stütze sich lediglich auf Hypothesen. | |
## Kronzeugin macht widersprüchliche Aussagen | |
In ihrer Beweisaufnahme ist die Kammer unter dem Vorsitzenden Richter | |
Reinhold Baier bislang nur mühsam vorangekommen. Große Hoffnungen hatte man | |
auf die Aussage von Nora T. gesetzt. Die Mutter des Kindes war erst kurz | |
vor dem Prozess durch Zufall ausfindig gemacht worden. | |
Elf Tage lang hörte man sie dann im Sommer 2019 an. Ihre Aussage jedoch war | |
konfus und widersprüchlich und ließ das Gericht ratlos zurück. Was immer | |
die Kronzeugin in ihrer Zeit als Gefangene des IS alles durchgemacht hat, | |
es hat ganz offensichtlich tiefe, bleibende Spuren hinterlassen. | |
Im Gericht erkannte die Zeugin die Angeklagte zunächst nicht. Als der | |
Richter sie fragte, wann ihre Tochter geboren worden sei, sagte sie, sie | |
könne sich nicht erinnern. Auch nicht daran, wann das Kind gestorben sei. | |
Das Kleid, das Rania am letzten Tag anhatte, schilderte die Mutter als | |
hellblau, wenig später als rot. Auch ihre Angaben darüber, ob die Tochter | |
direkt an Ort und Stelle oder erst im Krankenhaus gestorben sei, | |
widersprechen sich. | |
Erschwert wiurde die Aussage durch Übersetzungsprobleme, da Nora T. einen | |
anderen Dialekt spricht als die Dolmetscherin und zusätzlich einen | |
Sprachfehler hat. Einmal erzählte T. noch, wie Jennifer W. ihr eine Pistole | |
an den Kopf gehalten habe, als sie nach dem Tod der Tochter nicht habe | |
aufhören können zu weinen. „Wenn du nicht aufhörst, werde ich dich | |
umbringen“, habe Jennifer W. ihr gedroht. | |
Diese kann sich das alles angeblich nicht erklären. Sie wisse nicht, was | |
Nora T. bei anderen Familien habe durchmachen müssen. Vielleicht vermische | |
sich da manches in ihrer Erinnerung. | |
Von Sklaverei freilich spricht Jennifer W. ohnehin nicht. Nora T. sei ihr | |
von ihrem Mann vorgestellt worden, als die Frau, die für ihn die Wäsche | |
mache. Rania gehöre zu ihr. Sie glaube auch nicht, dass Nora T. die Mutter | |
des Mädchens sei, sagt W. Nora habe ihr erzählt, sie habe Rania nur an sich | |
genommen, weil sie keine Mutter mehr habe. Das Verhältnis zwischen den | |
beiden sei auch recht distanziert, gar nicht innig gewesen. | |
## Anwälte erwarten noch langes Verfahren | |
In ihrer Einlassung schildert Jennifer W. zuvor auch, wie sie zum Islam | |
gekommen ist, wie sie schließlich nach langem Zögern tatsächlich nach | |
Syrien und von dort weiter in den Irak gelangte. „Ich hatte nie das Gefühl, | |
hierher zu gehören“, so lässt die Angeklagte verlesen. | |
Sie habe nie ein enges Verhältnis zu ihrer Mutter und dem Stiefvater | |
gehabt, auch keine deutschen Freunde. Ihre Freunde habe sie stattdessen in | |
der türkischen Community gefunden und verstärkt auch im Internet. Ihr | |
Interesse für den Islam sei erwacht, sie habe sich eingelassen, zu beten | |
begonnen und zu fasten, schließlich auch – zum Befremden ihrer Umwelt – den | |
Niqab zu tragen. | |
Aus Deutschland wollte sie weg. Zweimal stand sie kurz vor der Hochzeit, | |
einmal mit einem Türken, einmal mit einem irakischen Kurden, beide Male | |
wird nichts daraus. In Videos sieht sie IS-Kämpferinnen, die mit | |
Kalaschnikows schießen und über den Dschihad reden; sie ist beeindruckt. | |
Trotz angeblicher Zweifel an der Richtigkeit der Sache des IS habe sie sich | |
dann von einer Freundin aus dem Internet überreden lassen, mit ihr nach | |
Syrien zu gehen, so W. in ihrer Einlassung. Während die Freundin im letzten | |
Moment einen Rückzieher macht, reist sie selbst am 29. August 2014 ab. | |
Schließlich landet sie im syrischen Raqqa, verbringt Monate in einem | |
Frauenhaus, heiratet zunächst einen IS-Kämpfer, doch die Ehe scheitert | |
schon nach wenigen Wochen. | |
Um den Zuständen im Frauenhaus, in dem sie dann erneut landet, zu entgehen, | |
heiratet sie gegen den Willen der Leitung des Frauenhauses schon bald | |
heimlich einen Iraker, eben Taha Al-J., der als Koran-Vorleser für den IS | |
arbeitet, und geht mit ihm nach Falludscha. | |
Die Verlesung von Jennifer W.s Einlassung soll in zwei Wochen fortgesetzt | |
werden. Die Beweisaufnahme werde angesichts der neuen Aussagen nun noch | |
einige Zeit in Anspruch nehmen, vermutet Anwältin Başay-Yıldız. Unter | |
anderem werde man auch eine erneute Vernehmung Nora T.s beantragen, um sie | |
mit den Aussagen der Angeklagten zu konfrontieren. | |
10 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Prozess-gegen-IS-Anhaengerin-in-Muenchen/!5586579 | |
[2] /Prozess-gegen-IS-Anhaenger/!5682961 | |
## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
## TAGS | |
Islamismus | |
„Islamischer Staat“ (IS) | |
Mordprozess | |
Gerichtsprozess | |
Islamismus | |
Islamismus | |
Shamima Begum | |
Schwerpunkt Islamistischer Terror | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Islamistin ließ Mädchen verdursten: Zehn Jahre Haft für IS-Rückkehrerin | |
Jennifer W. sah im Irak tatenlos zu, wie ein jesidisches Mädchen angekettet | |
verdurstete. Nun verurteilte sie das Oberlandesgericht München zu zehn | |
Jahren Haft. | |
Anschlagsserie von Waldkraiburg: Der verwirrte Islamist | |
In München steht der Attentäter von Waldkraiburg vor Gericht. Muharrem D. | |
ist geständig, aber – so sagen seine Anwälte – psychisch krank. | |
Gericht in Großbritannien: IS-Anhängerin darf nicht zurück | |
Shamima Begum will nach Großbritannien reisen, um gegen die Aberkennung | |
ihrer Staatsbürgerschaft vorzugehen. Das darf sie nicht, heißt es nun. | |
Mehr als zehn Jahre Haft für Islamisten: Der Scheich hinter Gittern | |
Er soll Statthalter des IS in Deutschland gewesen sein: Abu Walaa | |
organisierte Ausreisen zur Terrormiliz. Nun muss er für lange Jahre ins | |
Gefängnis. |