# taz.de -- Anschlagsserie von Waldkraiburg: Der verwirrte Islamist | |
> In München steht der Attentäter von Waldkraiburg vor Gericht. Muharrem D. | |
> ist geständig, aber – so sagen seine Anwälte – psychisch krank. | |
Bild: Muharrem D. (2. v.l.) sympathisiert nach eigener Aussage mit dem Islamisc… | |
München taz | Die Schadensbilanz hört sich vergleichsweise harmlos an. Ein | |
paar Menschen erlitten Rauchvergiftungen, eine Frau musste die Nacht im | |
Krankenhaus verbringen. Sonst Sachschaden: ein ausgebrannter Laden, einige | |
eingeworfene Fensterscheiben. | |
Doch dass der ganz große Terroranschlag mit vielen Toten ausgeblieben ist, | |
war vielleicht doch nur eine Glückssache. Nicht zuletzt der Tatsache | |
geschuldet, dass der Attentäter Muharrem D. am 8. Mai 2020 auf der | |
Bahnfahrt von Garching an der Alz nach Waldkraiburg kein Ticket hatte. | |
Seit Dienstag steht Muharrem D. in München wegen der Anschlagsserie von | |
Waldkraiburg vor Gericht. 31-fachen versuchten Mord, vierfache gefährliche | |
Körperverletzung und die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden | |
Gewalttat wirft ihm die Generalbundesanwaltschaft vor, die die Ermittlungen | |
schon gleich nach den ersten Anschlägen übernommen hatte. Die weiteren | |
Straftaten, die von Verstößen gegen das Waffengesetz bis zur Brandstiftung | |
reichen, fallen da kaum noch ins Gewicht. | |
Es ist ein zierlicher Mann im schwarzen Anzug mit sehr kurzen schwarzen | |
Haaren, der da in der ersten Reihe Platz nimmt. Er trägt Brille und | |
Dreitagebart. Erst nachdem Fotografen und Fernsehleute ihre Kameras schon | |
eine Weile auf ihn gehalten haben, lässt sich der Angeklagte von seinem | |
Verteidiger einen Block reichen, den er sich vors Gesicht hält. | |
## Zehn Rohrbomben in den Taschen | |
Es war im April und Mai des letzten Jahres, als [1][die Anschlagsserie das | |
beschauliche oberbayerische Städtchen Waldkraiburg erschütterte.] Bei einem | |
Friseurladen, einem Pizza-Lieferservice und einem Kebaphaus wurden die | |
Fenster eingeschlagen, außerdem wurde eine übelriechende buttersäurehaltige | |
Flüssigkeit in die Geschäfte gespritzt. Und eines Nachts brannte der | |
Gemüseladen am zentralen Sartrouville-Platz. Nur weil ein paar der Bewohner | |
im Haus darüber noch wach waren und sofort Alarm schlugen, konnte das | |
Schlimmste verhindert werden. | |
Die Inhaber der Geschäfte waren türkischstämmig; der Gedanke, man habe es | |
mit rechtsextremistischen Tätern zu tun, drängte sich auf. Doch dann | |
kontrollierte die von einer Schaffnerin gerufene Polizei am Bahnhof von | |
Mühldorf am Inn Muharrem D., der ohne Fahrschein Zug gefahren war. Als er | |
sein Gepäck nicht mitnehmen wollte, wurde auch dieses überprüft. In den | |
Taschen befanden sich zehn Rohrbomben und explosives Material. Bei der | |
anschließenden Durchsuchung seiner Wohnung und seines Autos wurden weitere | |
13 Rohrbomben und mehrere Kilogramm sprengfähiges Material sichergestellt. | |
D. erzählte der Polizei schnell, dass die Anschläge von Waldkraiburg auf | |
sein Konto gehen. Aber er habe auch Bombenattentate geplant – auf | |
Ditib-Moscheen in der Umgebung von Waldkraiburg, das türkische | |
Generalkonsulat in München und die Zentralmoschee in Köln. Als Motiv nannte | |
er Sympathie für den Islamischen Staat und Hass auf Türken. Der Polizei war | |
D. bis dahin lediglich wegen Drogendelikten bekannt. Er war regelmäßiger | |
Marihuana-Konsument. | |
Muharrem D. gibt sich in der Gerichtsverhandlung reuig, geständig und – | |
wirr. Und das ist es auch, worauf die Verteidigung abzielen wird, wie D.s | |
Anwalt zuvor bereits angekündigt hat: verminderte Schuldfähigkeit aufgrund | |
einer psychischen Erkrankung. „Zunächst einmal weiß ich, dass ich selber | |
schuld bin“, setzt der Angeklagte zu Beginn seiner Einlassung an und | |
erzählt dann, wie er sich „unbewusst radikalisiert“ habe. | |
## Er schaute IS-Videos | |
Von Videos des IS, die ihn schon mit 16 oder 17 Jahren in Bann gezogen | |
hätten, berichtet er, er habe dann nur noch einen Tunnelblick gehabt. Die | |
Vokabel „Tunnelblick“ wird er noch mehrfach wiederholen. Dieser habe dann | |
auch dazu geführt, dass er das Interesse für alles andere verloren habe, | |
auch seine Freunde, seine Familie, die Begeisterung für den Fußball. | |
Wirklich schlüssig jedoch vermag er seine Radikalisierung nicht zu | |
schildern. D. ist in einem nicht sonderlich religiösen Elternhaus | |
aufgewachsen. Seine Eltern stammen aus der Türkei, er selbst kam in | |
Altötting zur Welt und verlebte eine offenbar recht gewöhnliche Kindheit | |
und Schulzeit, hatte Freunde, auch Beziehungen. Und irgendwann habe er eben | |
begonnen, Videos vom Islamischen Staat und islamistischen Predigern | |
anzuschauen. | |
Was der Auslöser war, wie er auf den IS kam – darauf gibt es keine | |
Erklärung. „Ich hab’ die ganze Zeit diese Videos angeschaut“, sagt er nu… | |
Und: „Es ging halt immer um die Türken in diesen Videos, weil die so | |
grauenvoll sind.“ Immer wieder bohrt der Vorsitzende Richter Jochen Bösl | |
nach – vergeblich. | |
Während D. spricht, hat er den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt; die | |
Hände hält er unter dem Tisch. Bösl konfrontiert D. mehrfach mit früheren | |
Aussagen, die sich gegenseitig oder mit den heutigen Einlassungen | |
widersprechen. So behauptet D. in der Gerichtsverhandlung, er habe sich | |
stellen wollen und deshalb absichtlich keinen Fahrschein gelöst, um eine | |
Festnahme zu provozieren. | |
## „Ich brauch' Hilfe“ | |
Am Tag nach der Festnahme jedoch soll er im Polizeirevier gesagt haben: „So | |
sitze ich hier und plane nebenher Weiteres.“ In solchen Fällen erwidert D. | |
dann, er wisse auch nicht, ob oder warum er das gesagt habe. Oder er gibt | |
freimütig zu, etwas frei erfunden zu haben. „Da war ich nicht bei mir.“ Er | |
habe so viele falsche Sachen gesagt. „Sind Sie denn jetzt bei sich?“ fragt | |
Bösl einmal. „Nicht ganz“, lautet die Antwort, „ich brauch' Hilfe.“ | |
Auch die heutigen Aussagen widersprechen sich immer wieder. Er habe bei | |
seinen Taten keine Menschen verletzen wollen, es nur auf die Gebäude | |
abgesehen, sagt er einmal. Etwas später auf die Frage, warum er sich eine | |
Pistole zugelegt habe, erklärt er, er habe damit Imame erschießen wollen. | |
Warum er es eigentlich auf die Ditib-Moscheen abgesehen habe, will der | |
Richter einmal wissen. „Weil es im Islam so steht, dass diese Moscheen | |
gegen den Islam sind eigentlich“, sagt D. | |
Jedenfalls habe er mit all dem nichts mehr zu tun, im Gefängnis habe er | |
einen klaren Kopf bekommen. Er erhalte Medikamente, und ihm sei „klar | |
geworden, dass die Welt einfach bunt ist“. Er sei froh „darüber, dass ich | |
das hier verbüßen darf“. Und für die Zeit nach dem Gefängnis hat D. auch | |
schon Pläne: „Ich werde einfach das Muttersöhnchen sein und bei meiner | |
Familie bleiben.“ | |
Für den Prozess hat das Gericht zunächst 45 Verhandlungstage angesetzt. | |
2 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
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