# taz.de -- Anschlagsserie in Waldkraiburg: „Einsamer Wolf“ in Oberbayern | |
> Waldkraiburg ist beschaulich, freundlich und divers. Die Anschläge auf | |
> türkischstämmige Gewerbetreibende hingegen verunsichern die Gemeinde. | |
Bild: Spuren des Anschlags auf den Döner-Imbiss | |
Waldkraiburg taz | Es riecht etwas angebrannt im Gül Kebaphaus in | |
Waldkraiburg. Vor lauter Erzählen hat Hasan Çavuş das Fladenbrot im Ofen | |
vergessen. Jetzt öffnet er schnell das Fenster. Es gibt ja auch viel zu | |
erzählen nach diesen Wochen, die die Stadt im oberbayerischen Landkreis | |
Mühldorf in Atem gehalten haben; in denen die Stadt [1][nur ganz knapp an | |
einer Tragödie vorbeigeschrammt ist]. | |
„Open“ verkündet das rot leuchtende Schild über der Tür. Das Glas der T�… | |
ist gesprungen. Die beiden eingeworfenen Fensterscheiben daneben sind | |
provisorisch mit Pappe und blauem Klebeband abgedeckt. Im Fenster hängt | |
noch der Fahndungsaufruf mit dem Hinweis auf die Belohnung von 3.000 Euro. | |
Sie war Ende April ausgesetzt worden. Das war noch, bevor Çavuş am 6. Mai | |
das vierte Opfer der Anschlagsserie von Waldkraiburg wurde. | |
„Es war ein Schock, als ich das hier gesehen habe“, erzählt Çavuş. Und d… | |
es hier um mehr ging als um ein paar eingeworfene Fensterscheiben und eine | |
undefinierbare Flüssigkeit, die jemand in seinen Laden gekippt hatte, war | |
offensichtlich: Um sieben Uhr in der Früh hatten Polizeibeamte ihn aus dem | |
Bett geklingelt, jetzt standen sieben, acht Polizeiwagen vor dem Imbiss. | |
Die Spurensicherung war da, sogar Spürhunde. „Ich hab mich gefragt: Wo bin | |
ich, was ist los?“ Sogar der Polizeipräsident war gekommen und der | |
Oberstaatsanwalt. Und der türkische Generalkonsul. | |
„Ich bin multikulti“, sagt der freundliche 48-Jährige von sich, zwischen | |
Baseballmütze und Mundschutz funkeln die kleinen Augen. Geboren wurde Çavuş | |
in der Türkei, seit 1991 lebt er in Deutschland. Seine Frau ist Deutsche. | |
Auf dem verwaschenen Kapuzenpulli, der sich über dem Bauch ein wenig | |
spannt, steht: „Originals US State College – Athl. Dept.“ | |
## 27-facher Mordversuch | |
Çavuş wohnt in Burgkirchen, pendelt jeden Tag rund 40 Kilometer nach | |
Waldkraiburg. Vor neun Monaten hat er das Geschäft übernommen. Eigentlich | |
wollte er demnächst mit seiner Frau und der achtjährigen Tochter nach | |
Waldkraiburg ziehen, doch da macht seine Frau jetzt nicht mehr mit. | |
Vorausgegangen waren dem Angriff auf das Kebaphaus drei weitere Anschläge. | |
Erst wurden die Scheiben eines Friseurladens eingeschlagen, kurz darauf die | |
eines Pizzalieferservices. Auch in diesen beiden Fällen wurde eine | |
übelriechende Flüssigkeit in den Laden gespritzt. Der Sachschaden war | |
überschaubar, die Aufregung auch. Doch dann, in der Nacht auf den 27. | |
April, brannte der Gemüseladen am Sartrouville-Platz. Es war 2 Uhr. Nur | |
weil einer der 27 Bewohner im Haus darüber noch wach war und sofort Alarm | |
schlug, konnte das Schlimmste verhindert werden. Von 27-fachem versuchtem | |
Mord spricht die Staatsanwaltschaft. | |
Die Inhaber aller drei Geschäfte waren türkischstämmig. Dass ein | |
Zusammenhang zwischen den Taten bestand, drängte sich auf. Steckte | |
Rassismus hinter den Taten, waren sie gegen Muslime gerichtet? Die | |
Spekulationen sprießen, so ging auch das Gerücht um, die undefinierbare | |
Flüssigkeit sei Schweinekot gewesen. | |
Ausgerechnet Waldkraiburg! Die Stadt präsentiert sich selbst als | |
Paradebeispiel für funktionierendes Multikulti. 25.000 Menschen aus über | |
100 Nationen leben heute hier, 5.000 von ihnen besitzen einen ausländischen | |
Pass. „Wir akzeptieren uns, wir respektieren uns“, sagt Robert Pötzsch, | |
„wir laden uns gegenseitig ein, es gibt immer wieder gemeinsame Gebete. | |
Deshalb war das ja auch die große Frage: Warum hat es diese Anschläge | |
gegeben?“ Der gelernte Bäcker ist seit 2014 Erster Bürgermeister der Stadt. | |
Von den schmucken alten Bauten, in denen so viele seiner bayerischen | |
Amtskollegen residieren, kann Pötzsch nur träumen. Sein Rathaus ist ein | |
grauer Betonklotz aus den Siebzigern. | |
Alt ist hier ohnehin nichts in Waldkraiburg. Der Ort wurde erst nach dem | |
Krieg aufgebaut – auf den Bunkern, in denen die Nazis mitten im Wald | |
Munition produzieren ließen. Ein paar Tausend Vertriebene fanden hier eine | |
neue Heimat. Später dann kamen die Gastarbeiter, die Spätaussiedler, die | |
Stadt wuchs und wuchs. Und war immer Migrationsmagnet. | |
Und dann machte plötzlich jemand Jagd auf „Türken“. | |
„Unser erster Gedanke war natürlich: Das waren Rechtsradikale“, erzählt d… | |
Waldkraiburger Hartmuth Lang, der sich in dem landkreisweiten Netzwerk | |
„Mühldorf ist bunt“ engagiert. Im Landkreis, vor allem im nahen Mühldorf, | |
habe es in den vergangenen Jahren immer mehr entsprechende Angriffe | |
gegeben. Das sei von islamfeindlichen Aufklebern auf Schaufenstern über | |
Steinwürfe gegen Geschäfte bis hin zu einem Schweinekopf gegangen, der sich | |
vor knapp zwei Jahren an der Türklinke eines orientalischen | |
Lebensmittelladens gefunden habe. „Und da war zunächst das Gefühl: So, das | |
ist jetzt die nächste Eskalationsstufe.“ | |
Dazu kam ein politischer Rechtsruck in der jüngsten Vergangenheit. Bei der | |
Bundestagswahl 2017 holte die AfD in Waldkraiburg 19,9 Prozent, bei der | |
Landtagswahl 2018 waren es 19,2, und bei der Kommunalwahl im März zog die | |
Partei erstmals mit drei Leuten in den Stadtrat ein. „Und die AfD fährt | |
hier in allen Wahlkämpfen eine ausgesprochen antimuslimische Strategie“, | |
sagt Adelheid Kückelhaus, die ebenfalls bei „Mühldorf ist bunt“ aktiv ist. | |
## Zufälliger Ermittlungserfolg | |
Wenige Tage nach dem Brand organisierte das Netzwerk eine Mahnwache vor der | |
Ruine des Gemüseladens. „Es ging uns darum, den Betroffenen unsere | |
Solidarität zu zeigen“, sagt Lang. „Da war natürlich unter den türkischen | |
Mitbürgern eine Riesenangst.“ Die Polizei ermittelte indes auf Hochtouren, | |
setzte eine zuletzt 50-köpfige Soko ein. | |
Doch die entscheidende Festnahme war dann ein Zufallstreffer – und eine | |
Überraschung. Am Bahnhof von Mühldorf kontrollierten Bundespolizisten am 8. | |
Mai einen 25-jährigen Mann, der zuvor schwarzgefahren war. Ein Deutscher | |
kurdischer Abstammung, der aus der Nähe von Waldkraiburg stammt. Im Trolley | |
des Mannes entdeckten die Beamten zehn funktionsfähige Rohrbomben. | |
Als Muharrem D. hat das Oberbayerische Volksblatt den festgenommenen Mann | |
identifiziert, der sich selbst nach Polizeiangaben als „Bombenleger von | |
Waldkraiburg“ tituliert. Erst vor ein paar Wochen soll er in die Wohnung in | |
Waldkraiburg gezogen sein. „Unauffälliger Typ“, werden die Nachbarn | |
zitiert, hat immer freundlich gegrüßt. Der nächste Anschlag, sagen die | |
Ermittler, wäre nur eine Frage der Zeit gewesen. Als Motiv nannte D. Hass | |
auf Türken, berichtete aber auch, dass er sich dem Islamischen Staat habe | |
anschließen wollen. | |
Die Polizei sieht in D. einen „einsamen Wolf“. Auch Bürgermeister Pötzsch, | |
der die ganze Zeit engen Kontakt mit den Ermittlern, aber auch mit der | |
türkischen Gemeinde hält, sagt: „Ich gehe schwer davon aus, dass es ein | |
Einzeltäter war.“ Das Wichtigste aber ist ihm: „Wir müssen jetzt schauen, | |
dass wir als Stadt zusammenhalten.“ | |
## Zweifel an Einzeltätertheorie | |
Hasan Çavuş hat in den Tagen nach dem Anschlag auf seinen Imbiss viele | |
Anrufe bekommen. Menschen, die einfach nur ihre Solidarität zum Ausdruck | |
bringen wollten. Sogar der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu war | |
darunter, erzählt Çavuş, und habe sich nach seinem Befinden erkundigt. Mit | |
„Hasan Abi“, also „großer Bruder Hasan“, habe er ihn angeredet. Dabei … | |
doch der Minister der Ältere. | |
Aber die große Erleichterung hat sich bei Çavuş nicht eingestellt. | |
„Irgendwie kommt mir alles komisch vor“, sagt er. Vor allem mag Çavuş die | |
Einzeltäterthese nicht glauben: „Hundertpro war da noch jemand dabei.“ So | |
habe ein Nachbar des Imbisses in der Nacht des Anschlags drei Männer in | |
Richtung Bahnhof weglaufen sehen. Außerdem: Wie solle der Mann allein zwei | |
große Steine und den Kanister mit der ominösen Flüssigkeit getragen haben? | |
Es sind noch viele Fragen offen. Auch diese: „Warum hat er keine Bomben | |
benutzt, wenn er so viele hatte? Wieso soll ich auf einem Esel reiten, wenn | |
ich einen Mercedes vor der Tür habe?“ | |
Am Tag nach dem Anschlag ist Çavuş erst mal nur nach Hause gegangen. „Ich | |
war fix und fertig. Aber am nächsten Tag habe ich wieder aufgemacht. Ich | |
wollte zeigen: Ich bin noch da. Ihr habt mich nicht kleingekriegt.“ | |
Am Montag um 10.30 Uhr kommt der Glaser. | |
18 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Anschlagsserie-in-Bayern/!5681583 | |
## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
## TAGS | |
Bayern | |
Terrorismus | |
„Islamischer Staat“ (IS) | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Rechtsextremismus | |
IS-Terror | |
Islamismus | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Schweinekopf vor Moschee: Urteil bestätigt | |
Ein 43-jähriger Rechtsextremist wurde wegen Anstiftung zu Beleidigung | |
verurteilt. Er hatte Menschen beauftragt, einen Schweinekopf vor einer | |
Moschee abzulegen. | |
Anschläge auf türkische Läden: Haft und Psychiatrie für Attentäter | |
Ein IS-Anhänger beging mehrere Taten im bayerischen Waldkraiburg. Grund | |
waren laut Gericht sowohl seine Radikalisierung als auch eine | |
Schizophrenie. | |
Anschlagsserie von Waldkraiburg: Der verwirrte Islamist | |
In München steht der Attentäter von Waldkraiburg vor Gericht. Muharrem D. | |
ist geständig, aber – so sagen seine Anwälte – psychisch krank. | |
Anschlagsserie in Bayern: Motiv „Hass auf Türken“ | |
Nach der Anschlagsserie auf mehrere türkische Geschäfte in Waldkraiburg | |
fasst die Polizei einen 25-jährigen angeblichen IS-Anhänger. | |
Anschläge im bayrischen Waldkraiburg: Ist es rechter Terror? | |
In Waldkraiburg häufen sich Angriffe auf türkische Geschäfte. Zwar fehlt | |
bisher eine direkte Spur, dennoch drängt sich ein schrecklicher Verdacht | |
auf. | |
Kontinuität rechte Gewalt: „Weil Faschismus nicht Geschichte ist“ | |
In Erinnerung an den Terroranschlag in Hanau rufen migrantische | |
Selbstorganisationen für Freitag zum „Tag des Zorns“ auf. Rechte Angriffe | |
dauern an. |