| # taz.de -- Medien nach der Bundestagswahl: Transformative Zeiten | |
| > Die traditionellen Medien scheitern daran, sich in Ton und Inhalten zu | |
| > öffnen. Eine mediale Kompletterneuerung ist angesagt. | |
| Bild: Der politisch-mediale Komplex braucht eine Kompletterneuerung | |
| Die [1][Wahl] ist vorbei, ein [2][neues Parteiensystem] ist entstanden, so | |
| konnte man jedenfalls hören von einem Politiker in einer der | |
| Fernsehsendungen, die sich schon lange als Nebenspielstätten des | |
| demokratischen Prozesses etabliert haben – seit Jahren, seit Jahrzehnten, | |
| und eigentlich, so könnte man meinen, sollten mit dem Abgang von [3][Angela | |
| Merkel] (16 Amtsjahre) auch die Sendungen von [4][Frank Plasberg (20 | |
| Amtsjahre), Sandra Maischberger (18 Amtsjahre), Maybrit Illner (22 | |
| Amtsjahre) und Anne Will] (14 Amtsjahre) ins digitale Nirvana verabschiedet | |
| werden: | |
| Der politisch-mediale Komplex braucht eine Kompletterneuerung. Wie | |
| eingefahren und eng die Denkweisen sind, die Redeweisen, die Körper- und | |
| Sprachlosigkeit des Fernsehdiskurses, konnte man bei den Fernsehdebatten | |
| der Kandidat*innen erleben. | |
| Besonders eklatant dabei war der Widerspruch zwischen vorgeblicher formaler | |
| oder inhaltlicher Neutralität oder Objektivität (ein Lieblingswort gerade | |
| von Leuten, die selbst nicht besonders objektiv sind, was auch schwer | |
| möglich ist, weil die Wirklichkeit einen fast automatisch zum Partisanen | |
| macht) und inhaltlicher Schlagseite in der Fragestellung: „Können Sie | |
| ausschließen, dass es Steuererhöhungen geben wird?“ | |
| So lautete eine oft paraphrasierte Etüde in Engstirnigkeit, in der vieles | |
| von den Verdrehungen des öffentlichen Diskurses deutlich wurde. Denn diese | |
| Frage hat ja selbst eine klare Agenda, die Steuersenkung, die recht | |
| losgelöst ist von aktuellen ökonomischen Diskursen, die im Gegenteil von | |
| einer ganz anderen Art von staatlicher expansiver Wirtschaftspolitik | |
| ausgehen, gerade im Kontext des Klimawandels, wo Investitionen zum Beispiel | |
| in neue Energien dringend notwendig sind. | |
| ## Kein Platz für Zweifel | |
| Indem die Frage aber als neutral präsentiert wurde (und gleichzeitig den | |
| Fragesteller zum Fürsprecher eines intuitiv angenommenen Mehrheitswillens | |
| macht, denn er – es war in diesem Fall ein Mann – stellte sie sehr | |
| offensichtlich im Namen einer Bevölkerung, die aber möglicherweise sehr | |
| anders oder differenzierter dachte), wurde der Ton gesetzt und die | |
| Steuersenkung zum Lackmustest politischer Vernunft. Und das ist eben das | |
| eigentlich Verzerrende an dieser Art von medialer Selbstpräsentation: | |
| Die Annahme von Vernunft auf der eigenen Seite, der Verdacht der Unvernunft | |
| auf der anderen Seite, und damit die Fortsetzung der Erzählung von | |
| politischer Rationalität, wie sie den demokratischen Prozess fast | |
| notwendigerweise prägt – oft zum Nachteil der sprachlichen oder | |
| inhaltlichen Durchlässigkeit, weil Zweifel, Zaudern, Emotionen, Scheitern, | |
| das Experiment, die Unsicherheit im Tun, in diesen Krisenzeiten fast | |
| unausweichlich und sogar wünschenswert, in angeblich vernunftgeleiteten | |
| Systemen nur schwer einen Platz finden. | |
| Aber Vernunft war eben eher selten im politisch-demokratischen Prozess zu | |
| beobachten – sonst hätte ein rationaler Diskurs über die wissenschaftlichen | |
| Erkenntnisse des Klimawandels im Zentrum der Debatten gestanden: | |
| Politiker*innen fast aller Parteien taten sich jedoch immer noch | |
| schwer, die Notwendigkeiten als solche zu benennen. Diese Aufgabe wurde an | |
| die Demonstrierenden von [5][Fridays for Future] delegiert, eine Art Apo | |
| der Vernunft. | |
| Und auch fast allen Medien (wenn sie nicht offen gegen Klimapolitik | |
| agitierten) fehlte letztlich die klare, konstruktive und im Grunde | |
| objektive Herangehensweise, den Klimawandel als zentral und | |
| zukunftsentscheidend zu benennen – und den Raum zu bieten, in dem | |
| Veränderungen geschehen könnten. Stattdessen wurde dieser Raum, diskursiv, | |
| immer wieder eingeschränkt. | |
| ## Apo der Vernunft | |
| Die Reduktion auf ein „Was kostet das?“ etwa war die rhetorische | |
| Rückendeckung für andere Aktivist*innen des Status quo, die ihre | |
| Chefredakteursposten oder Ähnliches dazu nutzen, alle, die anders denken, | |
| als Aktivist*innen zu beschimpfen – eine alles in allem stumpfe | |
| Stigmatisierung, die auch, wie so oft in diesen populistischen Zeiten, vor | |
| allem den Zweck hatte, eine Polarisierung zu inszenieren, die allein denen | |
| dient, die auf die Polarisierung verweisen und sie damit erst erschaffen. | |
| Das ist, wie der Politikwissenschaftler [6][Jan-Werner Müller] es | |
| beschreibt, das Wesen aller Populisten, und es ist auch das beliebteste | |
| Mittel mancher sie flankierenden populistischen Medien, wie es sie, in | |
| Abwesenheit offen populistischer Politik, in Deutschland bereits gibt. | |
| Das Szenario zeigt also einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der von | |
| rechts attackiert wird und von innen verkrustet, populistische Medien, die | |
| beständig diskursive Grenzen verschieben, und die traditionellen Medien, | |
| die (wie die traditionelle Politik) nicht in der Lage sind, sich im Ton | |
| oder Inhalt zu öffnen, ein Ort des neuen Denkens zu sein, der notwendigen | |
| Ideenproduktion für diese transformativen Zeiten – und ihre eigenen | |
| hegemonialen Ansprüche (und eigene ökonomische Interessen und Ängste) oft | |
| hinter Invektiven gegen neue diskursive Felder wie Twitter verstecken, das | |
| dann, wie zuletzt im Spiegel, als „Dreckschleuder“ diffamiert wird, wobei | |
| die argumentative Grundlage für dieses Urteil eklatante und mutmaßlich | |
| mutwillige Löcher aufweist, die dieses harsche Urteil erst ermöglichen. | |
| Twitter aber ist ja, wie auch „die Straße“, nicht vor allem oder allein der | |
| Ort der Wut oder Irrationalität, wie es die aus der traditionellen | |
| Sinnzusammenhangsproduktion gern darstellen – Twitter, in seiner | |
| aufklärerischen Variante, mit faktengenauen Threads, die Zusammenhänge | |
| aufdecken, oder auch Youtuber wie Rezo, die journalistisch genau arbeiten, | |
| sind im Gegenteil oft transparentere und vernunftgeleitete | |
| medial-politische Optionen, eher Zeichen des Neuen als Pathologien des | |
| Alten. | |
| Wie schwer sich dieses Neue tut, in allen Formen und Varianten, das scheint | |
| die eigentliche Geschichte dieser Wahl zu sein, medial wie politisch. | |
| 30 Sep 2021 | |
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| Georg Diez | |
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