# taz.de -- #MeToo bei der Linkspartei: Der Knall | |
> Die Linke steckt in einem Sexismusskandal. taz-Recherchen zeigen: Vor den | |
> Vorfällen in Hessen gab es bereits Vorwürfe in Bayern. | |
Bild: Kommt es bald zum großen Knall? „Die Linke“ steckt mal wieder in ein… | |
Für die meisten in der Linkspartei kam überraschend, was ihre Vorsitzende | |
Susanne Hennig-Wellsow am Mittwoch veröffentlichte. Aus drei Gründen | |
[1][trete sie von ihrem Amt zurück], schrieb sie. Sie wolle zum einen mehr | |
Zeit mit ihrem Sohn verbringen. Die Linke brauche zweitens Erneuerung. Und | |
drittens habe der Umgang mit Sexismus in den eigenen Reihen eklatante | |
Defizite der Partei offengelegt. | |
Das war’s. Damit war Susanne Hennig-Wellsow, die in Thüringen so | |
erfolgreich mitregiert hatte, nach gut einem Jahr weg von der Bundesspitze | |
der Linken. Wer bleibt, ist Janine Wissler, die Co-Vorsitzende. Die, die | |
seit dem vergangenen Wochenende [2][im Verdacht steht], sexuelle Übergriffe | |
in ihrem Landesverband in Hessen nicht energisch bekämpft zu haben. Die, | |
über der der Sexismusskandal eigentlich hereingebrochen ist. Und der ist | |
weit größer, als es bislang öffentlich thematisiert wurde. | |
Die Linke steckt in ihrer tiefsten Krise. Bei den letzten Wahlen im | |
Saarland und im Bund ist sie gescheitert. Die teils kruden Positionen zum | |
russischen Angriff auf die Ukraine haben die Partei erneut ins | |
außenpolitische Abseits gedrängt. Und jetzt erschüttert auch noch ein | |
Sexismusskandal die Partei, die sich selbst als feministisch versteht. | |
Der [3][Spiegel] hatte am vergangenen Wochenende über mutmaßliche sexuelle | |
Übergriffe und Grenzüberschreitungen von Politikern der hessischen Linken | |
berichtet. Ein Fall sticht dabei besonders hervor: Von Herbst 2017 bis | |
Sommer 2018 soll ein Mitarbeiter der Landtagsfraktion ein Verhältnis mit | |
einer Frau gehabt haben, die noch minderjährig war, als sie sich | |
kennengelernt haben. | |
Als die Frau Schluss macht, steigt der Fraktionsmitarbeiter unangekündigt | |
über den Balkon in ihre Wohnung ein und sie haben Sex. Am nächsten Tag | |
schreibt er ihr in einer Mail, er habe die Nacht „crazy, romantisch, | |
prickelnd“ gefunden. Die junge Frau leitet diese Mail an die damalige | |
Landesvorsitzende Janine Wissler weiter. Sie sagt, sie habe mit Wissler | |
danach zwei Mal telefoniert, die sei dem Thema aber ausgewichen. | |
Was damals in der Landtagsfraktion viele wissen, worüber Wissler und der | |
Balkonkletterer aber nie offiziell reden: Wissler und er sind ein Paar. Der | |
Spiegel schreibt von einem „strukturellen Versagen einer Partei, die | |
mutmaßlichen Opfern lange keine geeignete Hilfe anbot“. | |
Janine Wissler reagiert noch am Tag des Erscheinens auf den Spiegel-Text. | |
Die Parteivorsitzende schreibt, die Frau habe sie angemailt und mit ihr | |
telefoniert. Aber: „In keinem dieser Kontakte wurde der Vorwurf des | |
sexuellen Missbrauchs oder der sexuellen Gewalt erhoben. Sie hat mich auch | |
nicht um Hilfe gebeten.“ Wissler schreibt, sie habe damals die Beziehung | |
mit dem Fraktionsmitarbeiter beendet und sei bestürzt über den Vorwurf, sie | |
habe ihren ehemaligen Partner geschützt. | |
Nach dem Spiegel-Bericht [4][trendet auf Twitter #linkemetoo]. Beim linken | |
Jugendverband Solid melden sich 60 weitere Betroffene von sexuellen | |
Übergriffen, bundesweit. Die Vorsitzende von Solid, Sarah Dubiel, sagt, sie | |
kenne keine Genossin, die noch nie sexistisch angegangen worden sei. | |
Auch Hennig-Wellsow wusste, dass Wiesbaden nicht der erste Fall von | |
Sexismusvorwürfen ist. Ein anderer, bisher nicht öffentlich bekannter Fall | |
hat die Bundespartei intensiv beschäftigt. Wegen dieses Falls hat der | |
Parteivorstand eine Vertrauensgruppe gegründet, die Sexismusvorwürfe | |
aufklären soll. Oder – so sehen es manche – die nur als Feigenblatt dient. | |
Der Fall spielt in Nürnberg und beginnt im Jahr 2017. Mehrere | |
Parteimitglieder werfen einem dortigen Stadtrat sexuelle Übergriffe und | |
Grenzüberschreitungen vor. Sie beschuldigen ihn, sie ohne ihre Einwilligung | |
berührt zu haben, am Hintern, am Oberschenkel, im Nacken. In einem Fall | |
geht es um eine Affäre, in der emotional Druck ausgeübt worden sei. | |
Zwei der Parteimitglieder zeigen den Stadtrat an. Zu ihrem Schutz bleiben | |
die Personen anonym. Aus juristischen Gründen wird auch der Beschuldigte S. | |
hier nicht mit vollem Namen genannt. Die Staatsanwaltschaft hat die | |
Ermittlungen gegen ihn eingestellt. Auf Anfrage der taz sagt er, er habe | |
sich nichts zuschulden kommen lassen. | |
## Bild einer überforderten Partei | |
Die taz hat mit rund zwei Dutzend Personen in der Linken gesprochen, die | |
mit diesen Vorgängen vertraut sind. Die Personen, die die Vorwürfe gegen | |
den Stadtrat erhoben haben, äußern sich gegenüber der taz selbst nicht. Sie | |
streiten noch vor Gericht mit ihm. | |
Die taz konnte jedoch interne Unterlagen sichten, Protokolle, Anträge, | |
Mails und Stellungnahmen. Damit lässt sich nachzeichnen, um welche Vorwürfe | |
es geht und wie die Partei mit ihnen umgegangen ist. Es ergibt sich das | |
Bild einer überforderten Partei, die ihrem hehren feministischem Anspruch | |
nicht gerecht wird. | |
Der Mann, dem die Vorwürfe gemacht werden, ist eine wichtige Figur in der | |
Linken in Nürnberg. Er ist Stadtrat, war Direktkandidat für den Bundestag. | |
Nach dem schlechten Ergebnis bei der Wahl im Herbst zog er zwar nicht in | |
den Bundestag ein, ist aber erster Nachrücker aus Bayern. Im Vergleich zu | |
den Fällen aus Wiesbaden sind die Vorwürfe aus Nürnberg weniger | |
schwerwiegend. Aber wie im Wiesbadener Fall geht es nicht allein darum, was | |
passiert ist. Es geht auch darum, wie sich Verantwortliche in einer Partei | |
verhalten, wenn jemand sagt, dass etwas passiert sei. | |
Im Sommer 2020 wendet sich eine junge Frau, ein Mitglied der Nürnberger | |
Linken, an eine Gleichstellungsbeauftragte des Landesverbands und berichtet | |
von mehreren Fällen sexueller Belästigung in der Partei. Bei der | |
Gleichstellungsbeauftragten entsteht der Eindruck, dass es mehrere | |
Betroffene gibt. | |
Die beiden Gleichstellungsbeauftragten führen Gespräche mit der Frau und | |
mit dem beschuldigten Stadtrat. Es geht zum Beispiel um ein Foto, auf dem | |
der Stadtrat und eine mutmaßlich Betroffene zu sehen sind. Der Vorwurf: | |
Während das Foto entsteht, habe S. seine Hand auf den Po der Betroffenen | |
gelegt. Wäre das bewiesen, wäre es strafbar. Die Frau präsentiert eine | |
Zeugin, die bestätigt, das gesehen zu haben. Der Beschuldigte streitet ab. | |
Aussage gegen Aussage. | |
Irgendwann wird klar, dass es zunächst offenbar doch nur eine Betroffene | |
gibt: die Frau, die die Vorwürfe selbst vorgebracht hat. | |
„Die Landesvorsitzende kam auf uns beide zu und hat uns gesagt, dass diese | |
Frau nur für sich spricht“, sagt Simone Barrientos, damals | |
Bundestagsabgeordnete und eine der beiden Gleichstellungsbeauftragten. In | |
ihren Augen hatte die Betroffene einen falschen Eindruck erweckt. „Dadurch | |
ergab sich eine völlig andere Situation“, sagt Barrientos. | |
Ab da habe sich der Ton gedreht, erzählt eine Person, die die Aufarbeitung | |
begleitet hat: Der Betroffenen und den Gleichstellungsbeauftragten sei | |
unterstellt worden, sie hätten gelogen und würden eine politische Kampagne | |
gegen den Stadtrat fahren. Die Gleichstellungsbeauftragten formulieren ein | |
Statement: „Die Anschuldigungen haben sich nach sorgfältiger Prüfung wegen | |
nachweisbarer Falschbehauptungen und Widersprüchlichkeiten als unhaltbar | |
erwiesen.“ Damit scheint der Fall abgeschlossen. | |
Im Februar 2021 jedoch werden neue Vorwürfe bekannt. In einer Sitzung des | |
Kreisvorstandes berichtet ein Parteimitglied von einer Affäre, die sie mit | |
dem Stadtrat S. gehabt habe. Mehrfach soll er Grenzen überschritten haben. | |
Sie berichtet von aggressivem Sex, dem sie nicht zugestimmt hatte, davon, | |
wie der Stadtrat sie emotional unter Druck gesetzt habe. | |
Felix Heym, der Kreisvorsitzende der Linken Nürnberg, sagt, nach diesem | |
Vortrag habe „eine sehr ernsthafte Stimmung“ geherrscht. Die Frau, die die | |
Vorwürfe geäußert hat, beschreibt es ganz anders: Mehrere | |
Teilnehmer*innen der Sitzung hätten ihre Erlebnisse verharmlost. Eine | |
soll gesagt haben, auch sie habe schon „scheiß Affären“ gehabt, es sei | |
nicht Angelegenheit der Partei, darüber zu urteilen. So steht es in einem | |
Antrag auf Parteiausschluss gegen Stadtrat S., den die Frau und vier | |
weiteren mutmaßlich Betroffene wenige Tage später einreichen. | |
Dieser Antrag gibt den Vorwürfen eine neue Dimension. Plötzlich ist da | |
nicht mehr nur eine mutmaßlich Betroffene von Grenzüberschreitungen, | |
sondern fünf: drei Frauen, zwei Männer. Ein Mann gibt an, er sei als | |
Praktikant von dem Stadtrat „ungewöhnlich lange“ am Nacken und am | |
Oberschenkel berührt worden. Ein anderer schreibt, der Stadtrat habe ihn | |
ungefragt an den Nacken und Kopf gefasst. Gewehrt hätten sie sich nicht, | |
aus Angst vor dem mächtigen Stadtrat. Einer der Männer zeigt die Berührung | |
an, die Ermittlungen werden später eingestellt. | |
Nachdem die neuen Vorwürfe bekannt geworden sind, Anfang März 2021, tritt | |
eine der beiden Gleichstellungsbeauftragten, Eva Kappl, zurück. Sie | |
erklärt, dass sie den Druck, der mit der Aufklärung einhergehe, nicht mehr | |
aushalte. | |
Anders als in der Einschätzung, die die Gleichstellungsbeauftragten nach | |
den ersten Vorwürfen abgegeben haben, schreibt Kappl nun, sie könnte | |
keineswegs mit Sicherheit sagen, dass alle Vorwürfe, die die Frau erhoben | |
habe, Falschbehauptungen seien. Sie lehne es ab, dass Vorwürfe von | |
Betroffenen generell abgetan würden, nur weil im Laufe des Verfahrens | |
einmal Zweifel aufgekommen seien. | |
Der Rücktritt der Gleichstellungsbeauftragten, die neuen Vorwürfe – für den | |
Landesverband passiert all das zu einer ungünstigen Zeit: Der Stadtrat S. | |
hat gerade seine Kandidatur für den Bundestag bekannt gegeben, der | |
Wahlkampf steht an. Einen Kandidaten mit Sexismusvorwurf kann sich die | |
Partei nicht leisten. Aber kann sie sich den Verdacht leisten, | |
Sexismusvorwürfe nicht ernst zu nehmen? | |
Einige im Landesvorstand argumentieren, man könne den Stadtrat nicht mehr | |
für den Bundestag aufstellen. Das Risiko, dass die Vorwürfe öffentlich | |
würden, sei zu groß. Andere berufen sich auf den offiziellen Beschluss der | |
Gleichstellungsbeauftragten. Sie glauben, die Vorwürfe würden bewusst | |
gestreut als politische Kampagne. | |
Es ist schließlich der Stadtrat selbst, der die Sache in der Partei bekannt | |
macht. Anfang März 2021 treffen sich rund 70 Genoss*innen zur | |
Aufstellungsversammlung für die Bundestagswahl. Einige Tage vorher schickt | |
S. Whatsapp-Nachrichten an Parteimitglieder. Er schreibt, dass seit seiner | |
Kandidatur Sexismusvorwürfe gegen ihn vorgebracht würden. Er habe sich | |
allen Gesprächen gestellt. Es handle sich um Verleumdungen mit dem Ziel, | |
seine Kandidatur zu verhindern. | |
Bei der Versammlung spricht er einige Vorwürfe an. Das berichten mehrere | |
Personen, die dabei waren. Sie beschreiben seine Rede als aggressiv. | |
Mehrere Redner*innen ergreifen für ihn Partei. Am Ende der Veranstaltung | |
geht seine Ehefrau auf die Bühne, zeigt mit dem Finger auf die Frau, die | |
die Vorwürfe erhoben hatte, nennt ihren Namen und ruft, sie solle sich | |
schämen für ihre Lügen. Sie bekommt Standing Ovations. | |
Die mutmaßliche Betroffene beschreibt diesen Abend als schwer erträglich: | |
„Würden wir im Mittelalter leben, hätte der wütende Mob auf der Versammlung | |
meine Unterstützerin und mich auf dem Scheiterhaufen verbrannt“, schreibt | |
sie später in ihrem Antrag auf Parteiausschluss des Stadtrats. | |
Mit diesem 45-seitigen Antrag beschäftigt sich die Landesschiedskommission. | |
Kurz nachdem er eingegangen ist, schickt ein Mitglied dieser Kommission | |
eine Mail an die Frau, die die Vorwürfe erhoben hat: „Meint ihr im Ernst, | |
dass die Landesschiedskommission parteiinterne Bettgeschichten | |
recherchieren und bewerten soll? Ich weigere mich und finde eure | |
detaillierten Ausführungen peinlich (…) Als ich in deinem Alter war, gab es | |
die Devise: Wer zweimal mit demselben pennt, gehört schon zum | |
Establishment.“ | |
Man kann die Fälle aus Nürnberg und Wiesbaden als Generationenkonflikt | |
lesen, so wie die SMS das nahelegt: Wokies gegen Boomer. Nur täte sich die | |
Partei keinen Gefallen damit. In den vergangenen zehn Jahren sind 30.000 | |
neue Mitglieder eingetreten, 20.000 davon unter 30. Wenn die Partei eine | |
Zukunft haben will, dann sind es diese Mitglieder, die sie gestalten. | |
Die Landesschiedskommission bietet den Beteiligten in Nürnberg schließlich | |
eine Schlichtung an. Der Landesvorstand offeriert den mutmaßlich | |
Betroffenen eine Mediation – mit oder ohne den beschuldigten Stadtrat. Die | |
mutmaßlich Betroffenen lehnen ab. Sie bleiben bei ihrer Maximalforderung: | |
Der Stadtrat soll aus der Partei ausgeschlossen werden. | |
Einige im Vorstand empfinden diese Forderung als Affront: Die Hürden für | |
einen Parteiausschluss sind hoch. Wieso sollte man ein wichtiges Mitglied | |
ausschließen, zumal auf der Basis von Vorwürfen, die schwer zu beweisen | |
sind? Für die Betroffenen hingegen sind die Angebote, die der | |
Landesvorstand macht, nicht akzeptabel: Wieso sollten sie sich mit dem Mann | |
zusammensetzen, den sie der Belästigung bezichtigen und der das bestreitet? | |
Ende März folgt wieder eine Versammlung zur Vorbereitung der Bundestagswahl | |
– es sollen die Listenplätze für die Kandidat*innen vergeben werden. In | |
kleiner Runde bespricht der Landesvorstand die anstehende Veranstaltung. Am | |
Ende fragt jemand, wie man damit umgehen wolle, wenn auf der Versammlung, | |
die per Livestream übertragen werden soll, jemand die Vorwürfe gegen den | |
Stadtrat anspricht? Dann, soll darauf jemand geantwortet haben, müsse der | |
Livestream eben leider kurz ausfallen. So berichten es Leute, die in der | |
Besprechung dabei waren. | |
Aber niemand thematisiert die Vorwürfe am nächsten Tag. S. wird nominiert | |
für Platz 6 der Landesliste. Zu dieser Zeit ist das ein aussichtsreicher | |
Platz. | |
## Vorwürfe weder strafrechtlich noch parteirechtlich relevant | |
Während mehrere Parteimitglieder dem Mann also Belästigung vorwerfen, | |
nominiert der Landesverband ihn für den Bundestag. Die Partei habe sich | |
dagegen gestellt, die neuen Vorwürfe aufzuklären, sagt eine Person, die die | |
Aufarbeitung begleitet hat. Es sei darum gegangen, dass die richtigen Leute | |
auf den richtigen Listenplätzen nominiert werden. | |
Die Verantwortlichen im Kreis- und Landesvorstand weisen das zurück. Der | |
Kreisverband hatte nach den neuen Vorwürfen einen Juristen beauftragt, zu | |
untersuchen, ob die Partei gegen den beschuldigten Stadtrat vorgehen muss. | |
Die taz kennt den Inhalt des Gutachtens. Der Jurist kommt darin zu dem | |
Schluss, die Vorwürfe seien weder strafrechtlich noch parteirechtlich | |
relevant. | |
Im Mai 2021 stellt die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen gegen den | |
Stadtrat ein. Es habe Aussage gegen Aussage gestanden, sagt Antje | |
Gabriels-Gorsolke, die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth. | |
Eine Zeugin habe doch nicht bezeugen können, wie der Stadtrat der | |
mutmaßlich betroffenen Frau auf den Hintern gefasst habe. | |
Im anderen Fall habe man die Vermutung des Anzeigenerstatters nicht | |
nachvollziehen können, dass hinter Berührungen am Kopf oder im | |
Nackenbereich eine sexuelle Motivation stecke. | |
Der Stadtrat selbst erstattet Anzeigen gegen die beiden | |
Anzeigenerstatter:innen und zwei weitere Personen. Der Vorwurf: | |
Verleumdung. Auch dieses Verfahren wurde eingestellt. | |
Der Fall aus Nürnberg zeigt das Dilemma von MeToo-Vorwürfen: Meist steht | |
Aussage gegen Aussage, Zeugen und Beweise gibt es kaum, Widersprüche | |
häufiger. Betroffene beschreiben oft, dass sie während der Belästigung | |
versteinert waren. Es ist nicht verwunderlich, dass dabei Erinnerungen | |
durcheinandergehen. Nur: Ab welchem Punkt werden Widersprüche so groß, dass | |
sie Zweifel an der gesamten Erzählung zulassen? | |
Am Ende gilt oft „Im Zweifel für den Angeklagten“. Ein Freispruch ist das | |
selten, an allen Beteiligen bleibt etwas kleben: am Beschuldigten der | |
Verdacht, dass er doch nicht ganz sauber ist. An der Gegenseite der | |
Verdacht, dass sie eine Schmutzkampagne fahren. | |
Über seine Anwältin fordert der Stadtrat die, die ihn beschuldigen, auf, | |
Unterlassungserklärungen zu unterschreiben. Sollten sie weiter | |
Falschbehauptungen verbreiten, drohten ihnen hohe Strafen. Auf Twitter | |
lässt er Tweets blockieren, die die Vorwürfe gegen ihn erwähnen. Über das, | |
was sie dem Stadtrat vorwerfen, können sie nun also nicht mehr sprechen. | |
Die Anwältin des Stadtrats ist selbst Genossin der Linken. Im vergangenen | |
Sommer wurde sie in die Bundesschiedskommission der Partei gewählt, also in | |
das Gremium, das über die Vorwürfe in Nürnberg auch informiert war und sich | |
mit ihnen hätte befassen können. | |
Im Juni vor der Bundestagswahl erreichen die Vorwürfe aus Nürnberg die | |
Bundespartei. Sie werden aber nicht etwa durch bayerische Funktionäre in | |
den Parteivorstand getragen. Die Betroffenen selbst vertrauen sich | |
Vorstandsmitgliedern an. Eine trägt das Anliegen in den geschäftsführenden | |
Bundesvorstand. Passiert ist erst mal nicht viel. Dafür treten die | |
Parteivorsitzende Janine Wissler und Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler | |
mit dem beschuldigten Stadtrat im Wahlkampf in Nürnberg auf. Da hätten sich | |
manche mehr Distanz gewünscht. | |
Kurz vor der Bundestagswahl kommt doch noch Bewegung in die Sache. Eine der | |
Betroffenen aus Nürnberg schreibt E-Mails an alle 44 Mitglieder des | |
Parteivorstandes und fordert sie zum Handeln auf. Erst auf diesen Druck von | |
außen wird der Nürnberger Fall in dem Gremium diskutiert und auf einer | |
Klausurtagung im Oktober eine Vertrauensgruppe eingerichtet. Darin sollen | |
fünf bis acht Personen aus dem Vorstand Opfern von Übergriffen, | |
Machtmissbrauch und Diskriminierung innerhalb der Partei zur Seite stehen. | |
Die Gruppe arbeitet ehrenamtlich, bekommt kein Budget und keine besonderen | |
Befugnisse. | |
Die Gruppe widmet sich als Erstes den Vorwürfen in Nürnberg. Sie sprechen | |
mit denen, die die Vorwürfe erhoben haben, und mit dem Kreisverband. Sie | |
bitten auch den beschuldigten Stadtrat um ein Gespräch. Der antwortet auch, | |
aber das Gespräch kommt nicht zustande. | |
Der Beschuldigte habe kein Unrechtsbewusstsein gezeigt, sagt Melanie | |
Wery-Sims, rheinland-pfälzische Landesvorsitzende und Mitglied der | |
Vertrauensgruppe. „So konnte schlicht keine Aufarbeitung passieren.“ Julia | |
Schramm, ebenfalls im Parteivorstand und Teil der Vertrauensgruppe, sagt, | |
S. habe sich „formaljuristisch nichts zuschulden kommen lassen“, aber auch | |
keine Selbstreflexion gezeigt. Sie sagt weiter, die Gremien in Nürnberg | |
hätten alles richtig gemacht. Eines aber ärgere sie. Schramm sagt: „Die | |
sozialen Kosten tragen wieder einmal betroffene Frauen und nicht Männer. | |
Von einer linken Partei erwarte nicht nur ich etwas anderes.“ | |
Nach den Vorwürfen aus Wiesbaden und dem Rücktritt Hennig-Wellsows tagte am | |
vergangenen Mittwoch der Parteivorstand. Er verabschiedete einen Beschluss, | |
darin heißt es: „Wir bedauern die sexuellen Übergriffe in unserer Partei | |
zutiefst und entschuldigen uns bei den Opfern“. Es folgt eine Reihe von | |
konkreten Vorschlägen, wie der Vorstand künftig auf Sexismusvorwürfe | |
reagieren will. Sie gehen zurück auf die Vertrauensgruppe: Es soll | |
Ressourcen für ihre Arbeit geben, die Partei will bei Bedarf | |
Psycholog:innen oder Anwält:innen bezahlen. Und vor allem sollen | |
neue Sanktionsmöglichkeiten bei sexistischem Verhalten eingeführt werden, | |
etwa die Entbindung von Ämtern in der Partei oder der befristete Entzug des | |
Rederechts. | |
Die Verantwortlichen in Nürnberg betrachten die Vorwürfe gegen den Stadtrat | |
S. als erledigt. Er wird nicht aus der Partei ausgeschlossen. Es gibt neue, | |
extra geschulte Ansprechpersonen für Betroffene in Bayern, der | |
Landesverband arbeitet an einer Richtlinie zum Umgang mit | |
Sexismusvorwürfen. | |
Eine mögliche Maßnahme, die auch Linken-Bundesgeschäftsführer Jörg | |
Schindler dem Kreisverband Nürnberg empfohlen hat, sind geschützte Räume | |
für Frauen, Frauenplena beispielsweise. Auf dem jüngsten Landesparteitag | |
der Linken in Bayern, im Oktober 2021, fand ein solches Frauenplenum statt. | |
Auf Antrag einer Parteigenossin wurde das Plenum ausgerechnet in diesem | |
Jahr auch für Männer geöffnet, als Zuschauer, ohne Stimmrecht. Auch | |
Stadtrat S. war unter den Gästen. | |
Mitarbeit: Luise Strothmann, Patricia Hecht | |
22 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Hennig-Wellsow-gibt-Linken-Spitze-ab/!5849789 | |
[2] /Sexismus-und-Politik/!5846284 | |
[3] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/janine-wissler-und-die-linke-die… | |
[4] https://twitter.com/search?q=%23linkemetoo&src=typed_query | |
## AUTOREN | |
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