| # taz.de -- Maggie Nelsons Buch „Die roten Stellen“: Das Unfassbare umkreis… | |
| > Wie soll man begreifen, welche Gewalt ihr angetan wurde? US-Autorin | |
| > Maggie Nelson hat ein Buch über den Mord an ihrer Tante geschrieben. | |
| Bild: Wollte eigentlich schon 2004 über den Mord an ihrer Tante schreiben: Mag… | |
| November 2004: Maggie Nelson sitzt gerade an der letzten Durchsicht eines | |
| Manuskripts, in Kürze soll ihr Buch „Jane: A Murder“ erscheinen. Es ist | |
| eine literarische Auseinandersetzung mit dem Mord an ihrer 23-jährigen | |
| Tante Jane Mixer im Jahr 1969, der nie aufgeklärt wurde. Eine Annäherung an | |
| deren Leben; ein Umkreisen des Traumas, das die Tat in der Familie | |
| hinterlassen hat – und ein Versuch, eine Art Abschluss zu finden. | |
| Da bekommt sie einen Anruf ihrer Mutter, Janes Schwester: Ein Detective | |
| hatte ihr mitgeteilt, dass der Fall neu aufgerollt werde, aufgrund einer | |
| DNA-Übereinstimmung sei man kurz davor, einen Verdächtigen zu verhaften. Es | |
| soll einen Prozess geben. Nach 35 Jahren. | |
| „Als sie die Worte sprach, sah ich, wie der Flur des Appartements langsam | |
| zur Seite kippte, als sei hier alles kurz davor, zu einem Lachkabinett zu | |
| werden. (…) Die Nachricht an sich wäre schockierend gewesen, doch der | |
| Zeitpunkt dieser Nachricht machte sie unheimlich.“ Es ist eine | |
| Überwältigung. | |
| Das vorliegende Buch „Die roten Stellen. Autobiographie eines Prozesses“, | |
| im Original 2007 erschienen, ist auch ein Versuch, den noch folgenden | |
| Überwältigungen und Verstörungen, die der tatsächlich 2005 stattfindende | |
| Prozess auslöst, zu begegnen. | |
| Aufmerksamkeit erregte die 1973 geborene US-Autorin mit ihrem Memoir „Die | |
| Argonauten“ (dt.: 2017). Darin schreibt sie über ihr Leben mit Harry Dodge, | |
| der*die sich weder als männlich noch als weiblich begreift. Es geht um | |
| Liebe, Familie, Kinder bekommen jenseits heteronormativer Kategorien. | |
| ## Die „Inkohärenz der Tat“ | |
| Ausgangspunkt ist das Persönliche, das Nelson mit dem Theoretischen | |
| verknüpft, hier vor allem der feministischen, queeren Theorie. Diese | |
| genreübergreifende Form zeichnet auch den auf [1][Deutsch ein Jahr später | |
| erschienenen Band „Bluets“] aus: Eine kenntnisreiche Liebeserklärung an die | |
| Farbe Blau und zugleich die Verarbeitung einer Trennung. | |
| Auch in „Die roten Stellen“, dem ältesten der drei Titel, findet sich diese | |
| offene Form. Hier scheint der Schreibanlass sie fast zu erzwingen, denn die | |
| „Inkohärenz der Tat“, wie es an einer Stelle heißt, und auch die vielen | |
| Erschütterungen während des Prozesses lassen sich schwerlich in eine | |
| kohärente Form bringen. | |
| Das ist Nelson klar, die mit dem Schreiben kurz nach Abschluss der | |
| Gerichtsverhandlungen beginnt, getrieben vom „Drang, all die Details | |
| aufzuzeichnen, bevor sie verschluckt würden, sei es durch Angst, Trauer, | |
| Vergessen oder Schrecken“. Sie schreibt gegen eine drohende Sprachlosigkeit | |
| an, die „Erinnern und Formulieren unmöglich macht“. Und betrachtet das Rohe | |
| und Gehetzte, das dem Schreibvorgang anhaftete, als Merkmale des | |
| schließlich bleibenden Textes. | |
| Was dieser Text in seinen mäandernden Bewegungen alles berührt, lässt sich | |
| hier nicht umfassend wiedergeben. Eine zentrale Frage aber ist die nach | |
| Möglichkeiten der Trauer und danach, was die Zeit mit ihr macht. | |
| ## Faszination von Gewalt an schönen, jungen, weißen Frauen | |
| So wirft die Gegenwart im Gerichtssaal Nelson immer wieder in die | |
| Vergangenheit, die Kindheit und führt sie zum plötzlichen Tod des Vaters. | |
| Wie trauerte sie um ihn? Wie um Jane, die sie persönlich nicht kannte? Wie | |
| tat es ihre Mutter? Was waren die teils unbewussten Folgen, zum Beispiel im | |
| Umgang mit den eigenen Töchtern Maggie und Emily? | |
| Der mutmaßliche Täter, ein 62-jähriger pensionierter Krankenpfleger, | |
| verheiratet und Vater, streitet die Tat ab. Nelson versucht, seine Person | |
| mit dem zusammenzubringen, was man über den Tathergang zu wissen glaubt. | |
| Davon erzählen Autopsiefotos, die sie genau beschreibt, dazu ihre | |
| Empfindungen. Wie soll der Verstand, wie das Gefühl begreifen, dass dieser | |
| tote Körper auf dem Foto, dieser von einem Strumpf tief gefurchte Hals, | |
| diese von einer Kugel getroffene, blutverkrustete Schläfe zu Jane gehören, | |
| der lebendigen Jane? Wie soll man begreifen, was dazwischen geschehen ist, | |
| welche Gewalt ihr angetan wurde? | |
| Doch auch in dieser Situation reflektiert Nelson den gesellschaftlichen | |
| Kontext, die Faszination, die diese Gewalt an schönen, jungen, weißen | |
| Frauen ausübt, von der in den USA unzählige True-Crime-Storys zeugen. | |
| Auch im Gericht läuft ein Livestream, sie selbst wirkt bei einer Sendung | |
| mit, um etwas Kontrolle zu wahren. Sie hinterfragt die Möglichkeit von | |
| Gerechtigkeit durch ein Urteil, bezieht klar Stellung gegen die | |
| Todesstrafe. Fragt nach der tödlichen Gewalt von Männern gegen Frauen. | |
| Nelson glaubt, Geschichten zu erzählen „befähigt uns vielleicht zu leben | |
| (…), aber gleichzeitig fügt es uns unfassbare Schmerzen zu“. Schmerzen, die | |
| einerseits aus der zwanghaften Suche nach sinnvollen Zusammenhängen | |
| erwachsen; aus den damit einhergehenden Verzerrungen und Begrenzungen | |
| unserer Wahrnehmung. Die uns andererseits aber gerade im Erkennen von | |
| Zusammenhängen überwältigen können. | |
| Ihr Text zeigt sie selbst in dem spannungsreichen Versuch, dennoch | |
| schreibend einen Zusammenhang zu schaffen, um mit dem Geschehenen leben zu | |
| können. Es gelingen Berührungspunkte, die sich gegenseitig erhellen. Das | |
| ist oft schmerzhaft. | |
| Mit diesem Buch wollte Nelson auch Zeugin sein – für das Leben von Jane. | |
| Zeugin auch des an ihr begangenen Verbrechens. Zeugin wider das Vergessen. | |
| Das gelingt ihr auf eindrückliche, berührende Weise. | |
| 9 Feb 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Carola Ebeling | |
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