# taz.de -- Landesparteitage in Coronazeiten: Reise ins Ungewisse | |
> Die SPD wählt ihren Vorstand bei einem Hybrid-Parteitag neu – das dürfte | |
> zur Blaupause für andere Parteien werden. Franziska Giffey könnte das | |
> helfen. | |
Bild: Wohin geht die Reise für Franziska Giffey? SPD-Landeschefin soll sie bei… | |
Ein Parteitag coronabedingt ins Netz verlagert? Weil große | |
Menschenansammlungen, selbst wenn völlig legal, nicht zu vermitteln sind, | |
jedenfalls bei einer Regierungspartei? Wie blöd. Blöd? Ist es das wirklich | |
für alle, die gerade – wie SPD, Grüne und die Linkspartei – ihre Treffen | |
ins Digitale verlegen und nicht wie die FDP jüngst in echt tagen? | |
Vielleicht nicht. Denn wer nicht lange diskutieren und Dinge lieber schnell | |
abhaken und festzurren mag, der dürfte bei der digitalen Variante im | |
Vorteil sein. Der aktuellen und der künftigen SPD-Führung dürfte es deshalb | |
ganz recht sein, wenn sich Jusos und ältere Parteilinke nicht | |
öffentlichkeitswirksam an der designierten Landesvorsitzenden, | |
voraussichtlichen Spitzenkandidatin und aus ihrer Sicht viel zu CDU-nahen | |
Franziska Giffey abarbeiten. | |
Nun ist auch eine digital vorgebrachte Kritik öffentlich. Und doch bleibt | |
es etwas anderes, wenn jemand sich am Rednerpult vor fast 300 Leuten in | |
Rage redet, dabei noch wild gestikuliert, als wenn er daheim am | |
Schreibtisch sitzend von Giffey und ihrem gleichfalls designierten | |
Co-Vorsitzenden Raed Saleh Mitsprache beim Wahlprogramm einfordert. Oder | |
vielleicht doch noch mal beim Thema des niedergelegten Doktortitels | |
nachhakt. Zwischenrufe, spontaner Beifall, die ganze Dramatik einer | |
mitreißenden Rede gibt es digital nicht. | |
Das dürfte dem mutmaßlichen neuen Vorstandsduo aber gerade ganz recht sein, | |
wenn die Berliner SPD Ende November über drei Tage hinweg ihren Vorstand | |
neu bestimmen will, in einer Mischung aus Debatte im Netz und Abstimmung in | |
echt – in gleich fast einem Dutzend Wahllokalen, was Menschenansammlungen | |
vermeiden soll. | |
Denn was als [1][Echo] kam, nachdem Giffey und Saleh [2][in einem | |
Tagesspiegel-Interview] Eckpfeiler eines Wahlprogramms skizzierten – eine | |
Politik, die den Blick weniger in die Nische als auf den Normalbürger mit | |
ganz praktischen Erwartungen an Sicherheit, Verkehr, Bildung und | |
Wohnungsmarkt richten will –, klang wenig begeistert. Unterm Strich | |
vermittelten Partei-Linke, dass sie selbst für das Wahlprogramm zuständig | |
seien, das Giffey dann als Regierungschefin auszuführen hätte. | |
## Präsenzparteitag wäre völlig legal gewesen | |
Für den 31. Oktober, als der SPD-Parteitag mit seinen 270 Delegierten auf | |
der großen Kongressfläche des Hotels Estrel in Neukölln über die Bühne | |
hätte gehen sollen, war darum ein gewisses Spannungspotenzial vorhanden: | |
eine nach links gerückte Basis, die sich von Giffey nicht wieder Richtung | |
Mitte rücken lassen will; und eine Kandidatin, die irgendwie klarmachen | |
muss, dass sie ohne „Beinfreiheit“ nicht zu haben ist. Der frühere | |
SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hat diesen Begriff vor der Wahl 2013 | |
geprägt, als er sich bei seinen Vorstellungen vom künftigen Regierungschef | |
– was er dann ja nicht wurde – nicht zu sehr von seiner Partei festnageln | |
lassen wollte. | |
Doch dann kam der Beschluss für den Mini-Lockdown im November, und die SPD | |
sagte mit der gleichen Begründung wie die CDU ihren Bundesparteitag ab: | |
Eine solche Ansammlung sei, wenn auch erlaubt und mit großem | |
Hygiene-Aufwand, nicht in der Öffentlichkeit zu vermitteln – umso weniger, | |
wenn wie bei der SPD mit Giffey Regierungsmitglieder dabei sind, die die | |
Bevölkerung gerade noch darauf eingeschworen haben, die | |
Kontaktbeschränkungen einzhalten. | |
Die Grünen hatten es am Tag des Mini-Lockdown-Beschlusses gerade noch | |
geschafft, ihren Landesvorstand neu zu wählen, genauer gesagt: den alten | |
Vorstand im Amt zu bestätigen. Ohne inhaltliche Diskussionen, bar jeglicher | |
Gegenkandidaten und sehr gestrafft ging die Landesdelegiertenkonferenz mit | |
rund 140 Delegierten im Hotel Estrel über die Bühne. | |
Da hatte es die Berliner FDP als ohnehin kritischer gegenüber den | |
Coronaregeln leichter, ihren Präsenz-Parteitag mit Vorstandswahlen am | |
vergangenen Sonntag zu verteidigen, der eigentlich schon im März anstand | |
und verschoben wurde. Der fand allerdings auf einen Tag verkürzt in einem | |
Seminarhotel in Dahlem statt. Die Delegierten verteilten sich dabei auf | |
mehrere Räume und wählten Christoph Meyer, früher Fraktionschef im | |
Abgeordnetenhaus und mittlerweile im Bundestag, erneut zu ihrem | |
Landesvorsitzenden. Überraschend war dabei allein Meyers Hoffnung für das | |
FDP-Ergebnis bei der Abgeordnetenhauswahl 2021: Der alte und neue | |
Landeschef erwartet ein zweistelliges Ergebnis – aktuell liegt seine Partei | |
nur bei 6 Prozent. | |
## Linkspartei hoffte vergeblich | |
Als Nächstes stünde ein weiterer Grünen-Parteitag im Kalender – Ende | |
November sollte es um die Kür der bislang bloß designierten | |
Spitzenkandidatin Bettina Jarasch und der Festlegung der | |
Bundestagskandidatenliste gehen. Doch den verschob die Partei – und hofft | |
darauf, dass es bei einer weniger verschärften Infektionslage am 12. | |
Dezember klappen kann. Das Wo und Wie sind offiziell noch offen. | |
Die Linkspartei hoffte bis Wochenbeginn noch auf einen Präsenzparteitag am | |
5. Dezember, wiederum im Estrel-Hotel, und hatte dafür ihr sonst ein ganzes | |
Wochenende einnehmendes Treffen auf einen Tag zusammen gestrichen. Am | |
Montag aber beschloss der Landesvorstand: Verschiebung auf den 16. und 17. | |
Januar als Onlineparteitag. Auch die Linkspartei befand, dass ein Treffen | |
den Bürgern nicht vermittelbar sei. „Die Coronakrise verlangt derzeit allen | |
Berlinerinnen und Berlinern eine Menge ab“, äußerte sich | |
Landesgeschäftsführer Sebastian Koch, „was wir uns von anderen wünschen, | |
gilt selbstverständlich auch für uns“. | |
Entspannt gab man sich bei der CDU: Die Vorstandswahl steht regulär erst | |
Mitte Mai an, und Landeschef Kai Wegner ist schon per Vorstandsbeschluss | |
Spitzenkandidat für die Abgeordnetenhauswahl – eine Kür durch einen | |
Parteitag sieht die CDU-Satzung nicht vor. | |
So wird der dreitägige SPD-Parteitag in eineinhalb Wochen absehbar zum | |
Testlauf für kommende Hybrid-Parteitage. Weil das so neu ist, hat die | |
Landesgeschäftsstelle der Sozialdemokraten dazu umfangreich Fragen und | |
Antworten auf ihre Seite gestellt. Denen ist zu entnehmen, dass diese neue | |
Parteitagsform die Mitglieder dabei ganz schön auf Trab halten wird. „Wir | |
planen damit, dass die Delegierten Freitag und Samstag insgesamt dreimal | |
ins Wahllokal fahren müssen“, heißt es dort. | |
## Dreimal hin zum Wahllokal | |
Denn „Wahllokal“ heißt ja nicht wie zuletzt bei der Europawahl 2019 die | |
Schule um die Ecke, sondern ein einziges Parteibüro für den ganzen | |
Stadtbezirk. Darum ist in den Regularien ein gewisser Überforderungsschutz | |
eingebaut: Falls nach dreimaligem Wählen noch weitere Wahlgänge nötig sein | |
sollten, soll das nicht mehr zu Fuß, sondern per Briefwahl geschehen. | |
18 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.tagesspiegel.de/berlin/reaktionen-auf-franziska-giffey-und-raed… | |
[2] https://www.tagesspiegel.de/berlin/berliner-spd-spitze-will-kurswechsel-gif… | |
## AUTOREN | |
Stefan Alberti | |
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