| # taz.de -- LGBTIQ+ in Deutschland: Mehr Gewalt gegen queere Menschen | |
| > 2023 gab es so viele CSDs wie noch nie in Deutschland. Doch verbale und | |
| > körperliche Gewalttaten gegen queere Menschen nehmen immer weiter zu. | |
| Bild: Bunt- statt Dunkeldeutschland: Im thüringischen Eisenach gab es im Septe… | |
| Riesa taz | Heute traut sich Ian raus. An einem warmen Septembertag steht | |
| der 15-Jährige mit rund 250 anderen Personen am Bahnhof in Riesa, einer | |
| Mittelstadt zwischen Leipzig und Dresden. Es ist Christopher Street Day | |
| (CSD), in wenigen Minuten soll hier eine Demo starten. Ian identifiziert | |
| sich als trans, was in seinem Alltag ein Problem ist. „Ich bleibe in den | |
| Pausen immer alleine im Klassenzimmer, weil ich Angst vor den | |
| rechtsextremen Jugendlichen an meiner Schule habe“, sagt er. | |
| Angereist ist Ian aus dem [1][sächsischen Freiberg]. Er trägt schwarze | |
| Klamotten, türkisfarbene Strähnchen und Glitzer-Ohrstecker. An seinem | |
| Gymnasium, so erzählt er es, wird er von Mitschüler:innen oft „dumm | |
| angemacht“. Seine Regenbogen-Armbänder würde er in der Schule „nie tragen… | |
| Auch in der Freiberger Innenstadt fühlt sich Ian nicht sicher. Aus Angst | |
| vor Anfeindungen meidet er sie. „Neulich war ich dann doch mal dort – und | |
| dann hat sich ein Mann vor mich gestellt und den Hitlergruß gemacht.“ | |
| Die anderen CSD-Teilnehmenden berichten Ähnliches. „Ich habe extreme Angst, | |
| mit Nagellack aus dem Haus zu gehen“, sagt zum Beispiel ein 20-Jähriger. Er | |
| komme aus einem Dorf nahe Riesa, den genauen Namen möchte er nicht nennen. | |
| Zu groß ist seine Angst, erkannt zu werden. „Meine [2][Pride-Flagge] habe | |
| ich auf der Fahrt in meinem Rucksack versteckt und erst am Bahnhof | |
| ausgepackt.“ Die 38-jährige Marlen erzählt von der Furcht, ihre Freundin in | |
| Dresden öffentlich zu küssen. Und dann ist da ein 17 Jahre alter trans | |
| Mann, der erzählt, wie er an seiner ehemaligen Schule in Chemnitz zwei | |
| Jahre lang regelmäßig verprügelt worden ist. „Ich hatte mich nicht geoutet, | |
| irgendwer muss es rumerzählt haben.“ | |
| Gewaltangriffe gegen [3][LGBTIQ+], also Menschen, die schwul, lesbisch, | |
| trans oder nichtbinär sind, haben vergangenes Jahr in Sachsen, wo Ian und | |
| die anderen CSD-Teilnehmenden leben, massiv zugenommen. Das geht aus der | |
| Jahresstatistik der Opferberatungsstelle der RAA Sachsen hervor. Während | |
| die Beratungsstelle 2021 acht Gewaltdelikte gegen queere Menschen | |
| registriert hat, waren es 2022 fast dreimal so viele. Bei diesen Fällen | |
| handelt es sich allein um körperliche Angriffe – Anfeindungen und | |
| Beleidigungen wurden nicht mitgezählt. Weil längst nicht alle Betroffenen | |
| Gewaltangriffe melden, muss von einer sehr hohen Dunkelziffer ausgegangen | |
| werden. | |
| ## Ein bundesweites Problem | |
| Die Situation für LGBTIQ+ hat sich aber nicht nur in Sachsen verschlimmert, | |
| sondern bundesweit. Laut dem Verband der Beratungsstellen für Betroffene | |
| rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) wurden 2022 in | |
| Deutschland mehr als doppelt so viele Gewaltangriffe auf queere Menschen | |
| registriert wie 2021. [4][Die Polizei hat 2022 mehr als 1.400 | |
| queerfeindliche Straftaten erfasst, davon 300 Gewaltdelikte.] | |
| Zahlen für dieses Jahr gibt es noch keine, doch eine bundesweite Umfrage | |
| der taz unter Beratungsstellen deutet darauf hin, dass die Angriffe weiter | |
| zunehmen. Egal in welchem Bundesland: Immer mehr Menschen suchen Hilfe bei | |
| Opferberatungen, weil sie queerfeindliche Gewalt erlebt haben. | |
| Worauf ist die Zunahme von Angriffen auf queere Menschen zurückzuführen? | |
| Gibt es Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland? Und was muss | |
| passieren, damit sich die Lage diese Menschen verbessert? | |
| Mehrere Opferberatungsstellen betonen, dass die hohen Fallzahlen teilweise | |
| auch damit zusammenhängen, dass sie enger mit Vereinen kooperierten und in | |
| der queeren Community sichtbarer geworden seien. Dadurch kämen mehr Taten | |
| ans Licht. Unabhängig davon habe es 2022 aber tatsächlich mehr | |
| queerfeindliche Angriffe gegeben als zuvor. | |
| ## LGBTIQ+ als Feindbild der Rechten | |
| Für diese Entwicklung gebe es zwei Ursachen. Zum einen hätten die extremen | |
| Rechten LGBTIQ+ zunehmend zum Feindbild gemacht. „Seit einiger Zeit werden | |
| die Themen Gender, Queer und Feminismus von den extremen Rechten mit | |
| hetzenden, abwertenden Äußerungen bis hin zu Kampagnen bespielt, um ein | |
| konservatives Familien- und Geschlechterbild zu propagieren“, sagt etwa | |
| Andrea Hübler [5][von der Opferberatungsstelle RAA Sachsen]. Dadurch nähmen | |
| sowohl gezielte Attacken organisierter Neonazis sowie spontane Angriffe auf | |
| Partys oder Stadtfesten zu, sagt Hübler. | |
| Auch Franz Zobel von der Thüringer Beratungsstelle ezra berichtet, dass die | |
| queerfeindliche Stimmungsmache in den vergangenen Jahren stark zugenommen | |
| habe. „Insbesondere extrem rechte und konservative Parteien haben an einer | |
| öffentlichen Feindbildmarkierung aktiv mitgewirkt.“ Das zeige etwa ein | |
| Gesetzentwurf der Thüringer CDU von Ende August, der geschlechterneutrale | |
| Sprache an staatlichen Einrichtungen rechtlich verbieten lassen will. | |
| Die Beratungsstelle B.U.D. aus Bayern nennt als Beispiel die rechte | |
| Hetzkampagne gegen eine Drag-Lesung für Kinder im Juni in München, bei der | |
| Politiker von AfD, CSU und Freien Wählern Wörter wie „Frühsexualisierung“ | |
| oder „Kindeswohlgefährdung“ benutzten und von Pädophilie sprachen. „St�… | |
| kann man Menschen kaum zur Zielscheibe machen“, teilte die Beratungsstelle | |
| mit. | |
| Der zweite Grund für den Anstieg der Angriffe sei, dass es schlichtweg mehr | |
| queere Veranstaltungen gebe. „In dem Moment, wo die queere Community | |
| sichtbarer wird, nehmen eben auch die Anfeindungen zu“, sagt Anne Brügmann, | |
| Leiterin der Brandenburger Beratungsstelle Opferperspektive. 2023 gab es | |
| mehr als 140 Prides in Deutschland, wie die Christopher-Street-Day-Paraden | |
| auch genannt werden – so viele wie noch nie. Vor allem in ländlichen | |
| Regionen ist ihre Zahl stark angestiegen. Doch insbesondere bei | |
| CSD-Veranstaltungen kam und kommt es immer wieder zu Angriffen gegen queere | |
| Menschen. | |
| ## „Die Situation war noch nie so schlimm wie jetzt“ | |
| [6][Beim diesjährigen CSD in Halle haben mehrere Angreifer Teilnehmende | |
| attackiert und dabei einen Menschen schwer verletzt]. In Hannover haben | |
| Täter einen 17-jährigen Teilnehmer geschlagen, zu Boden gestoßen, ihm | |
| mehrmals gegen den Kopf getreten und sein Handy geklaut. In Darmstadt hat | |
| ein Mann einen Teller aus dem Obergeschoss auf die Demonstrierenden | |
| geworfen, in Rendsburg in Schleswig-Holstein flogen Eier. Bei mehreren | |
| Prides wurde der Hitlergruß gezeigt, im sächsischen Döbeln am Ort der | |
| Abschlusskundgebung Buttersäure verschüttet. Die Aufzählung ließe sich | |
| problemlos verlängern. | |
| Steffi, 36, pinkes T-Shirt, kurzes blondes Haar, ist am Nollendorfplatz in | |
| Berlin aufgewachsen und nimmt seit ihrer Kindheit an CSDs teil. „Die | |
| Situation war noch nie so schlimm wie jetzt“, sagt sie, während sie auf | |
| einem Bordstein am Bahnhof in Riesa sitzt und darauf wartet, dass die Demo | |
| beginnt. Sie habe dieses Jahr an etlichen Paraden in Sachsen teilgenommen | |
| und fast überall Beleidigungen und Gewalt erlebt. | |
| Fragt man den Verein CSD Deutschland, ob es bei Prides in ostdeutschen | |
| Bundesländern häufiger zu Angriffen kommt als in westdeutschen, heißt es: | |
| „Der Unterschied zwischen Ost und West ist in diesem Jahr durchaus | |
| bemerkbar.“ Bei CSDs im Osten des Landes „kam es eindeutig zu | |
| Bedrohungslagen von rechts“, teilt Pressesprecher Kai Bölle mit. Aber auch | |
| die im Westen seien von rechter Gewalt betroffen gewesen. | |
| Grundsätzlich sei die Gefahrenlage überall dort hoch, „wo Politik, Polizei | |
| und Gesellschaft ungeübt im Umgang mit dem CSD sind“, sagt Bölle. Also vor | |
| allem in ländlichen Regionen. So empfindet es auch eine Teilnehmerin bei | |
| der Demo in Riesa: „Ich bin deutlich angespannter, wenn ich zu kleinen CSDs | |
| aufs Land rausfahre.“ | |
| ## Normalisierung von queerfeindlicher Hetze befürchtet | |
| Franz Zobel von der Thüringer Beratungsstelle sagt, für LGBTIQ+ sei es | |
| besonders dort gefährlich, „wo eine gesellschaftliche Stimmung Angriffe auf | |
| sie legitimiert“. Insbesondere organisierte Neonazi-Strukturen trügen dazu | |
| bei, dass bestimmte Orte zu No-go-Areas für queere Menschen würden. „Das | |
| ist regional sehr unterschiedlich und lässt sich nicht allein auf Ost- und | |
| Westdeutschland herunterbrechen“, sagt Zobel. Auch andere Beratungsstellen | |
| betonen, dass queere Menschen in west- und ostdeutschen Ländern | |
| gleichermaßen bedroht seien. | |
| Der Dachverband der Opferberatungsstellen VBRG befürchtet, dass die | |
| Normalisierung von queerfeindlicher Hetze im Zuge der anstehenden | |
| „Wahlkämpfe in Ostdeutschland und der flächendeckenden Propaganda der AfD“ | |
| weiter zunehmen wird – wodurch sich Täter:innen bestärkt fühlen und noch | |
| mehr Angriffe verüben könnten. Daher sei es „extrem wichtig“, dass sich d… | |
| demokratischen Parteien „explizit“ an die Seite der LGBTIQ+-Community | |
| stellen. „Bürgermeister:innen und Landrät:innen könnten zum Beispiel die | |
| Schirmherrschaften für CSDs oder andere queere Veranstaltungen übernehmen“, | |
| sagt eine Sprecherin. | |
| Auch die einzelnen Beratungsstellen betonen im Gespräch, wie wichtig | |
| Solidarität für die Betroffenen ist. Die hessische Opferberatung Response | |
| etwa fordert die Politik auf, den Anstieg queerfeindlicher Angriffe als | |
| „gesamtgesellschaftliches Problem“ zu benennen und anzuerkennen. Es brauche | |
| „klare und solidarische Antworten, die allen Betroffenen und Engagierten in | |
| den zivilgesellschaftlichen Initiativen signalisieren, dass politische | |
| Verantwortungsträger:innen hinter ihnen stehen und sie nicht allein | |
| sind“. | |
| 3 Oct 2023 | |
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| [2] /Erfinder-der-Regenbogenflagge-gestorben/!5397444 | |
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| [4] https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/queerfeindliche-hassk… | |
| [5] /Opferberatungsstellen-besorgt/!5892802 | |
| [6] /Gewalttaetige-Angriffe-in-Halle-und-Doebeln/!5956497 | |
| ## AUTOREN | |
| Rieke Wiemann | |
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